6
Die Kollegen von der Einsatzzentrale hatten Toppe den Weg nach Keeken genau beschrieben, aber durch den Regen entdeckte er das Hinweisschild erst im allerletzten Moment. Fluchend bremste er, setzte ein paar Meter zurück und bog nach links ins Dorf ab.
Er war noch nicht richtig wach. Irgendwie hatte er immer noch seinen Urlaubsrhythmus, war erst um eins im Bett gewesen, und das Telefon hatte ihn aus dem ersten Tiefschlaf gerissen.
Er solle einfach ins Dorf reinfahren, hatte ihm der Kollege gesagt, den Friedhof könne er gar nicht verfehlen. Die Straße schlängelte sich an einem großen, weißen Gebäude vorbei, das hell erleuchtet war. Toppe bremste und kurbelte das Fenster herunter.
Die Doppeltür war weit geöffnet, aber er konnte keine Menschenseele entdecken. Tony Marshall sang,Schöne Maid’.
Als er um die nächste Kurve bog, sah er schon den Notarztwagen und das Polizeiauto mit aufgeblendeten Scheinwerfern. Er fuhr an den linken Straßenrand und stellte den Wagen vor einem großen, hohen Steinklotz ab. Es war nicht eindeutig, ob das hier ein großer Platz oder nur eine Kreuzung war. Der Straßenverlauf war in der Dunkelheit ziemlich undeutlich.
Der Steinklotz entpuppte sich als Denkmal. Die Gemeinde Keeken ihren gefallenen Söhnen, las er. Hinter ihm bremste ein Wagen. Es war Astrid. Er hatte sie noch von zu Hause aus verständigt.
»Morgen«, brummte er. Der Regen lief ihm den Nacken herunter. Er schlug den Kragen seines neuen Trenchcoats hoch.
»Hallo«, lächelte sie. Sie schien ganz ausgeschlafen.
Schweigend gingen sie nebeneinander an einem breiten, zweigeschossigen Backsteinhaus vorbei auf die Kirche zu. An der Hecke um den ganzen Friedhof herum standen Menschen, die gespannt das Treiben beobachteten. Einige hatten sich nur ihren Mantel über den Schlafanzug gezogen und Pantoffeln an den Füßen. Es schüttete aus der niedrigen Wolkendecke, aber das schien sie alle nicht zu stören.
Schon von weitem hörte er Berns, den Chef vom Erkennungsdienst brüllen: »Ich brauch’ mehr Licht, verdammte Hacke!« »Morgen, Herr Toppe«, der Kollege von der Schutzpolizei tippte sich an den Mützenschirm und hielt ihnen das Törchen auf.
Der Tote lag auf dem Kiesweg, der parallel zur Kirche verlief.
Berns redete auf den Polizeifotografen ein. Weiter hinten auf dem Weg hockte van Gemmern, der zweite ED-Mann, und stocherte in der Erde herum. Der Notarzt schloß gerade seine Tasche; Toppe sah ihn fragend an. »Und?«
»Schußverletzung. Sieht so aus, als sei die Kugel direkt ins Herz gegangen. Er war wohl sofort tot.«
Astrid war zu van Gemmern rübergegangen und hatte sich neben ihn gehockt. »Hey, du.«
»Scheiß Regen«, gab er nur zurück, ohne aufzublicken. Sie kniff die Lippen zusammen.
Berns kam, als er Toppe entdeckte, sofort herüber. »Wenn’s so weitergießt, ist aber Essig mit Spuren, das sag’ ich Ihnen gleich.« Toppe antwortete nicht, er kannte Berns lange genug, sondern ging zurück zu dem Beamten von der Schutzpolizei.
»Wer ist der Tote, und wie ist es passiert?«
»Also, der Mann heißt Heinrich Verhoeven, ist siebzig Jahre alt und hat die Bäckerei hier. Er war auf dem Rückweg vom Schützenfest, als er erschossen wurde.«
»Zeugen?«
»Ja. Sein Bruder und dessen Schwiegertochter waren bei ihm und..«
»Und ich, Herr Kommissar«, sagte ein Mann an der Hecke hinter ihm.
Toppe drehte sich um.
»Bongartz«, stellte der Mann sich vor. Er hatte eine Fahne und war ein Kollege von der Polizeidienststelle in Rindern, die auch für die umliegenden Dörfer zuständig war.
»Ich war privat hier. Ich komm’ nämlich gebürtig aus Keeken, müssen Sie wissen. Und wenn hier Schützenfest ist, hab’ ich immer dienstfrei.«
»Was ist passiert?«
»Ich war so fuffzich, sechzich Meter hinter den Verhoevens, mit meinem Freund Tebartz; das ist der Küster hier. Bei dem übernachte ich schon mal, wenn ich was getrunken habe.«
Der Regen hatte den Mann völlig durchnäßt und lief ihm von den strähnigen Haaren herunter über das Gesicht. Er wischte sich die Stirn.
»Wir gehen also hinter denen und ich sag’ noch:,Die arme Ingeborg’, die beiden Alten hatten nämlich gut getankt, und da hör’ ich den Schuß. Sehen konnte ich nichts wegen der hohen Hecke. Aber ich höre die Ingeborg schreien und renne los, und da liegt der Heinrich mit dem Gesicht nach vorne auf dem Weg. Und ich frage:.Von wo kam der Schuß?’, aber die Ingeborg schreit nur. Und ich gucke mir an, wie Heinrich da liegt, und ich mein’ auch, ich hätte was gehört, und dann bin ich hier in die Richtung gelaufen. Aber dann war nichts mehr zu hören, und sehen konnte ich auch nichts. Und dann kamen auch schon alle angelaufen. Ich habe dafür gesorgt, daß hier keiner auf den Friedhof kommt, damit nicht alles zertrampelt wird.«
Toppe nickte. »Außer Ihnen, dem Küster und den Verhoevens ist also nach dem Schuß keiner auf dem Friedhof gewesen, bis die Polizei kam?«
»Nee, keiner, das kann ich beschwören. Ich bin zwar nicht ganz nüchtern, aber mein Einmaleins hab’ ich drin.«
»Wo sind die anderen Zeugen?«
»In der Kirche.«
Toppe stutzte.
»Wir konnten die doch nicht hier draußen im Regen lassen. Tebartz hat die Kirche aufgeschlossen und sitzt jetzt bei den beiden da drin.«
»Schützenfest war heute, sagten Sie?«
»Ja, der letzte Tag; Krönungsball. Da wären übrigens noch ein paar Leute, die was Verdächtiges gesehen oder gehört haben.«
Toppe überlegte. Es war immer ratsam, möglichst sofort mit den Zeugen zu sprechen, bevor ihre Phantasie die Lücken ihrer Beobachtungen füllte.
Bongartz bot an, mit den Leuten im Schützenhaus zu warten. Toppe schickte den Polizeibeamten mit.
Astrid, die jetzt wieder neben ihm stand, lugte unter ihrer Kapuze hervor. »Soll ich nicht mitgehen und schon mal mit der Befragung beginnen?«
Sie sah aus wie ein kleines Mädchen.
»Nein, kommen Sie lieber mit mir.«
Toppe öffnete die schwere Kirchentür und kniff suchend die Augen zusammen. Nur die Lampe am Eingang war eingeschaltet, und auf dem Altar brannten zwei Kerzen.
Sie hockten in der ersten Bank. Der Mann, der außen saß, sprang sofort auf und kam ihnen entgegen geeilt.
»Tebartz«, sagte er. »Ich bin der Küster.«
»Toppe. Könnten Sie wohl etwas mehr Licht machen?«
»Aber selbstverständlich.« Er ging zur Tür.
»Und dann können Sie sich schon mal mit meiner Kollegin hier unterhalten.«
Astrid setzte sich mit ihm in die letzte Bank. Toppe hörte sie murmeln. Er ging auf die Frau und den alten Mann zu, die beide unbeweglich nach vorn starrten.
»Guten Morgen«, sagte er leise. »Mein Name ist Toppe. Ich bin der zuständige Kriminalbeamte.«
»Guten Morgen«, antwortete die Frau undeutlich.
Der alte Mann sagte nichts; er sah nicht einmal auf.
Die Frau war Anfang bis Mitte Vierzig und sehr zierlich. In dem Halbdunkel konnte er ihre Gesichtszüge kaum erkennen.
»Sie sind …« Toppe wartete.
»Ich bin Ingeborg Verhoeven. Das ist mein Schwiegervater.«
»Was ist passiert, Frau Verhoeven?« Toppe ließ sich ruhig neben ihr auf der Bank nieder.
Sie holte tief Luft und er sah, daß sie zitterte. »Ja, also ich wollte meinen Schwiegervater und meinen Onkel vom Krönungsball nach Hause bringen.«
»Ihr Heimweg führt über den Friedhof?«
»Das ist am kürzesten.«
»Erzählen Sie.«
Sie suchte lange nach Worten, und Toppe ließ ihr Zeit.
»Wir kommen gerade auf den Friedhof, da knallt es plötzlich, und Onkel Hein kippt um. Ich wußte erst gar nicht..«
»Von wo kam der Schuß?«
»Von vorne irgendwo.«
»Haben Sie den Schützen gesehen?«
»Nein, wir waren doch unter der Laterne.«
»Haben Sie etwas gehört?«
»Nein, ich weiß nicht, ich glaub’., ich hab’ geschrien, und dann kam schon Bongartz, ich weiß nicht.«
»Und Sie, Herr Verhoeven?«
»Mmmh?« Der Alte sah jetzt hoch. Seine Augen waren blutunterlaufen.
»Haben Sie etwas gesehen oder gehört?«
»Nix«, stieß er hervor. Sein Atem war eine einzige Bierwolke.
Die Kirchentür wurde aufgerissen.
»Ist hier irgendwo ’ne Steckdose?« rief ein Polizist herein.
»Ja, mehrere.« Der Küster unterbrach sein Gespräch mit Astrid.
Toppe wandte sich wieder dem Alten zu.
»Lassen Sie ihn doch«, Ingeborg Verhoeven nahm den Arm des Schwiegervaters. »Er kriegt sowieso nichts mehr mit.«
»Wenn ihr eins von diesen Fenstern aufmacht, können wir mit dem Kabel von hier aus durch«, brüllte ein Beamter von draußen.
Toppe seufzte.
»Nix, gar nix«, lallte der Alte.
»Frau Verhoeven, wer könnte Ihren Onkel getötet haben?«
Er sah, wie ihr die Tränen in die Augen schossen. »Das weiß ich doch nicht«, weinte sie. »Der hat doch keiner Fliege was zuleide getan.«
»Ist Ihnen heute abend oder in den letzten Tagen irgendetwas aufgefallen, was mit der Tat zu tun haben könnte?«
Aber sie schluchzte nur noch und schüttelte den Kopf.
Toppe stand auf und legte ihr kurz die Hand auf die zuckende Schulter.
»Sie können nach Hause gehen. Wir unterhalten uns morgen noch mal.«
Sie stand auf und zog den Alten mit sich hoch, aber der sackte sofort wieder zusammen und rutschte halb von der Bank. Der Küster eilte beflissen herbei.
»Ich mach’ das schon, Herr Kommissar.«
Astrid wartete an der Tür. »Und? Haben Sie was rausgekriegt?«
»Nix, gar nix«, knurrte Toppe.
»Ich auch nicht.«
Berns schwirrte wie eine dicke Hummel zwischen den Gräbern herum. Er ließ sich nur ungern stören, Unwirsch und aufgeblasen wie immer gab er ein paar knappe Auskünfte: »Nach Lage des Toten und Einschußstelle muß der Schuß von da drüben abgegeben worden sein.« Er zeigte auf eine Familiengrabstätte mit einem enormen Grabstein.
»Fußspuren?«
»Ein paar. Aber der Scheißregen. Bis jetzt haben wir noch nichts Verwertbares.«
»Machen Sie auf jeden Fall weiter. Bis morgen ist bestimmt alles weggespült.«
»Ich wollte eigentlich bis nach Weihnachten warten«, gab Berns giftig zurück und war schon wieder weg.
»Arschloch«, zischte Toppe. Astrid lachte leise.