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Tot. Die Jauche tropfte aus ihrem offenen Mund, kleisterte die roten Locken an den Kopf, verklebte ihre Augen.

»Tot«, stieß Papa tonlos aus und hielt sie ihr entgegen. Wie ein Opferlamm trug er sie auf seinen schwachen aber gestreckten Armen zu ihr in die Küche. Tot.

Hans-Joachim kippelte mit seinem Hochstuhl, patschte auf das Tischchen. »Totot«, gickelte er, »totot.«

Mit einer Armbewegung fegte sie den Tisch frei; die Rührschüssel zersprang mit einem dumpfen Knall in zwei gleichgroße Stücke, die Büchse schlug scheppernd auf, und das Mehl ergoß sich in die Jauchepfütze und saugte sie weg.

Langsam, behutsam nahm sie Papa das Kind aus den Armen und bettete es auf den Tisch. Peter verdiente die Prügel; stand da und starrte; trieb sich auf dem Heuboden herum, während seine kleine Schwester..

»Ich hol’ Wilhelm«, brüllte Papa.

Sie wusch das Kind sanft und vorsichtig, wusch die Augen aus, die Nase, den Mund, spülte das Haar über einer Schüssel, sorgfältig. Auf dem Feld war Wilhelm, auf dem Feld an der Grenze wollte er Jauche fahren.

Das Schreien stieg ihr aus dem tiefen Bauch hoch, ganz langsam, aber sie konnte es nicht halten. Sie sah ihre Hände mit dem Schwamm, die Locken zwischen ihren Fingern, und dann schrie sie, hohl und heiser.

Hans-Joachim unterbrach sein Geplapper und fing an zu weinen.

Aber sie konnte ihm nicht helfen, sie konnte nur schreien.

Sie ließ die letzte Kartoffel in den wassergefüllten Topf platschen und starrte aus dem Fenster auf den Misthaufen und die Jauchegrube mit dem schweren Betondeckel und den verrosteten Eisengriffen. Die Kleine hatte gerade laufen gelernt. Sie war immer ein kräftiges Kind gewesen. Das kräftigste von allen, ein Kind, um das man sich keine Sorgen machte. Keine Sorgen.

Mama war auch kräftig gewesen, immer stark. So ein Fieber war auch für einen kräftigen Menschen zu hoch, sagte der Doktor. Tot, alle, bloß mich läßt Gott nicht sterben. Mich nicht.,Der Herr lädt jedem soviel auf, wie er tragen kann’, sagte der Pastor.,Sei stolz, meine Tochter. Er hat dich ausgewählt, die schwersten Lasten zu tragen.’

Das nasse Zeitungspapier fiel ihr aus den zitternden Händen, und die Kartoffelschalen flogen durch die halbe Küche.

»Stolz, meine Tochter«, kicherte sie und versuchte, eine Hand an der Spüle, sich zu bücken, aber ihre Beine gehorchten nicht, und sie fand keinen rechten Halt.

Das Schreien hörte erst auf, als das Zittern anfing. Über beides hatte sie keine Kontrolle. Sie sackte zusammen, klammerte sich mit beiden Händen an die Tischkante und wimmerte. Der Junge weinte nicht mehr. Sie hörte Rufe draußen, und dann stieß Wilhelm die Tür auf.

»Guten Tag.« Der Mann stand in der offenen Tür und lächelte freundlich. Sie hatte ihn nicht klopfen hören.

»Ja?« Sie ließ die Kartoffelschalen liegen und richtete sich auf.

»Mein Name ist Toppe. Ich bin von der Kriminalpolizei.«

Toppe hatte an der Haustür lange erfolglos geschellt, war dann um die Hausecke gegangen und hatte an die Küchentür geklopft. Durch das Fenster hatte er die alte Frau gesehen.

Sie war in mehrere Lagen schwarzer Röcke, Pullover und Jacken gehüllt, und über diese Fülle hatte sie eine graugestreifte Schürze gebunden. Die Kleider starrten vor Dreck. Das fettige, vergilbte Haar war zu einem filzigen Knoten gesteckt, und am Hals und an den Ohren war der Schmutz zu braunen Streifen verkrustet. Ihre Hände zitterten heftig, und auch ihr schiefgelegter Kopf schlug ständig leicht hin und her. Aus einem Mundwinkel lief ein Speichelfaden.

»Heinrich ist tot«, sagte sie und kam ihm mit unsicheren Schritten entgegen. »Alle sind tot.« Sie streckte ihm ihre krallige Hand entgegen.

»Wer sind Sie?« fragte Toppe und gab ihr die Hand.

»Hendrina. Hendrina Verhoeven.« Sie zog einen Stuhl unter dem Tisch hervor. »Setzen Sie sich.« Dann wackelte sie zum Küchenschrank, holte einen Becher heraus und stellte ihn auf den Tisch.

Toppe setzte sich.

»Was meinen Sie: alle sind tot?«

Sie gackelte nur, humpelte zum Herd und holte die große Emailkanne.

»Alle müssen wir sterben. Der Tod macht keinen Unterschied. Und er holt sich die besten zuerst, der da oben«, murmelte sie. Dabei goß sie heiße Milch in den Becher. Mehr als die Hälfte floß auf den Küchentisch, aber sie bemerkte es nicht, oder es machte ihr nichts aus.

»Zucker nehmen Sie selber. Da.«

Toppe schüttelte sich innerlich, gekochte Milch mit Zucker. Aber er gab einen Löffel voll hinein.

»Mehr«, forderte sie ihn auf. »Zucker ist gut für die Nerven.«

Dann hinkte sie wieder zum Schrank. »Löss ge ook en botteram?«

»Wie bitte?« Toppe verstand ihr Platt nicht. Sie antwortete nicht, sondern nahm ein Brot aus dem Schrank und schnitt, den Laib gegen ihre Brust gepreßt, eine dicke Scheibe ab. All ihre Bewegungen waren langsam und machten ihr Mühe.

»Ich möchte nichts essen, danke.«

Sie drehte ihm ihren Rücken zu, murmelte irgendetwas, bestrich das Brot mit Schmalz und tauchte ihre Finger in einen grauen Salztopf. Sie hatten nicht nur schwarze Trauerränder, die Nägel waren bis zur Mitte braun verkrustet. Ihr Speichel tropfte ins Salzfaß.

»Ich möchte gern mit Ihrem Mann sprechen, Frau Verhoeven. Und mit Ihrer Schwiegertochter. Wo finde ich die?«

»Hier.« Ingeborg Verhoeven stand hinter Toppe in der Tür. »Mutter!« Sie hastete zum Schrank. »Was machst du denn da wieder?« und wollte der Frau das Brot aus der Hand nehmen. Die Alte ließ nicht los. Das Schmalz quatschte ihr durch die Finger. Sie sahen sich in die Augen.

»Hast du Hunger, Mutter?« Ingeborg ließ das Brot los. »Der Herr hat’s gegeben, der Herr hat’s genommen«, gackerte Hendrina.

Ingeborg Verhoeven wandte sich abrupt ab. »Wenn Sie mit mir sprechen wollen, Herr Kommissar, dann gehen wir wohl am besten in unsere Wohnung. Kommen Sie.« Sie zeigte auf die Tür, durch die sie hereingekommen war.

Toppe schob den Stuhl zurück. »Vielen Dank, Frau Verhoeven«, begann er, aber die Alte beachtete ihn nicht, sondern stopfte sich mit geschlossenen Augen das Schmalzbrot in den Mund.

Ingeborg ging vor Toppe her über die dunkle Tenne, am leeren Kuhstall vorbei, dann eine enge Stiege hinauf in eine düstere Wohnung.

»Nehmen Sie Platz.«

Er setzte sich aufs Sofa, dem einzigen Sitzmöbel in diesem winzigen Wohnraum. »Möchten Sie einen Kaffee?«

»Nein, danke. Ihre Schwiegermutter., ist sie..?«

»Verrückt, meinen Sie? Nein, sie hat seit vierzig Jahren Parkinson. Manchmal ist sie ein bißchen verwirrt, aber verrückt ist sie nicht.«

Sie setzte sich neben Toppe auf die Sofakante und faltete die Hände im Schoß. Bei Tageslicht sah sie älter aus. Sie war sehr klein, zierlich, hatte ein herzförmiges Gesicht und eine Stupsnase, aber ihr Mund war bitter.

»Sie sagten, dies sei Ihre Wohnung. Wohnen Ihre Schwiegereltern allein dort unten?«

Sie warf ihm einen schnellen, prüfenden Blick zu.

»Weil meine Schwiegermutter so verwahrlost ist, meinen Sie?«, aber sie zügelte sich sofort. »Ich habe den Kampf aufgegeben.«

Toppe erwiderte nichts. Er holte sein Notizbuch aus der Tasche.

» Mir ist zu gestern abend nichts Neues mehr eingefallen«, sagte sie unaufgefordert, aber Toppe ließ sich trotzdem so detailliert wie möglich den gestrigen Abend schildern.

»Ich weiß nicht, wer ein Interesse daran hatte, Onkel Hein zu töten. Es ist unvorstellbar. Immer noch.«

»Wo finde ich Ihren Schwiegervater?«

»Auf dem Feld.«

»Wann könnte ich mit ihm reden?«

»Er kann sich an gar nichts erinnern. Er war betrunken.«

»Ich möchte ihn trotzdem sprechen.«

Sie zuckte die Schultern. »Heute abend vielleicht, aber um halb neun geht er schlafen. Oder morgen. Punkt zwölf wird hier gegessen.«

»Wie alt ist Ihr Schwiegervater?«

»74.«

»Und er arbeitet immer noch auf dem Hof?«

»Ja«, gab sie knapp zurück und schlug die Beine übereinander.

»Was macht Ihr Mann beruflich?«

»Er ist Landwirt. Wieso?«

»Auch hier auf dem Hof?«

»Ja, sicher. Warum fragen Sie?« »Ich habe bisher noch nicht mit Ihrem Mann gesprochen. Er war doch auch gestern auf dem Krönungsball.«

»Ja, natürlich, aber er weiß auch nichts. Er war übrigens auch besoffen.«

»Könnte ich ihn sprechen?«

»Nein.« Sie wippte ungeduldig mit dem Fuß. »Er ist in die Stadt gefahren. Aber, wie gesagt, morgen mittag..«

Toppe erhob sich und klappte sein Notizbuch zu. Als sie aufstand, lächelte sie zum ersten Mal flüchtig.

»Was meinte Ihre Schwiegermutter mit: alle sind tot?«

»Ach, hat sie das gesagt?« Sie verzog ungeduldig den Mund. »Sie war wohl mal wieder in der Vergangenheit. Ihre Tochter ist als Kind gestorben.«

Ihr Ton duldete keine weiteren Nachfragen. »Kommen Sie, ich lasse Sie zur Vordertür raus, dann brauchen Sie nicht durch die Küche.«

Draußen zündete sich Toppe erst einmal eine Zigarette an und ging langsam zum Auto. Der Hof war groß, mit mehreren Stallungen und einer Doppelscheune, aber man sah den Gebäuden an, daß seit Jahren nichts mehr daran getan worden war. Der gelbe Putz am Vorderhaus bröckelte in großen Placken ab, die Buchsbaumhecke um den Garten wucherte breit und wild, an der Mauer neben dem Misthaufen rostete eine alte Egge vor sich hin. Der Feldweg hinter dem Haus endete an einem rotweißen Schlagbaum und einem querverlaufenden Graben. Auf der anderen Seite begann das Königreich der Niederlande. An den rückwärtigen Wiesen mußte man nur über den Graben springen und war in Holland.

Toppe öffnete die Autotür und beschloß, Bongartz, den Polizisten aus Keeken, anzurufen. Er wollte mehr über diese ganze Verhoevensippe wissen. Dann holte er Astrid im Dorf ab und ließ sich nach Hause bringen.

Trotz des undurchsichtigen Falles und seines Schlafmangels war Toppe ganz aufgeräumt. Er hatte geduscht, gut und lange mit Gabi gegessen und geredet, eine Partie Mau-Mau mit den Jungen gespielt, was sein väterliches Gewissen beruhigte, und mit Bongartz telefoniert. Um halb neun würden sie sich in der Kneipe an der Römerstraße treffen. Astrid würde ihn abholen und begleiten, so daß er in aller Ruhe ein paar Bier trinken konnte. Und morgen würde er dem Chef sagen, daß er Breitenegger und Heinrichs brauchte, wenn er den Fall zügig aufklären wollte.

Als er gerade beschlossen hatte, daß es ja noch recht sommerlich warm sei und seinen Pullover gegen sein neues lila Hemd eintauschte, klingelte das Telefon. Es war der Chef.

»Sagen Sie mal, wo haben Sie den ganzen Tag gesteckt, Herr Toppe?«

»Sie haben doch meinen Bericht.«

»Der umfaßt Ihre Tätigkeit bis vierzehn Uhr.«

»Danach habe ich mit Frau Steendijk im Dorf Ermittlungen angestellt.«

»Bis jetzt?« »Ja«

» Morgen früh um acht hätte ich gern Ihren Bericht darüber. Wir müssen schließlich weiterkommen.«

»Leck mich am Arsch«, murmelte Toppe.

»Wie bitte?«

»Ich sagte, das ist unmöglich. Ich bin gerade auf dem Weg zu einer neuen Befragung.«

»Sie haben ungewöhnliche Zeiten, Herr Toppe.«

Toppe biß die Zähne aufeinander und sagte nichts.

»Nun gut, um zehn dann also. Gute Nacht, Herr Toppe.«

Toppe knallte den Hörer auf, aber der Alte war noch schneller gewesen, und so mußte Astrid, die gerade klingelte, Toppes Fluchkanonade über sich ergehen lassen.