24
»Wat meinze, wat inne Großstadt los is’,« jammerte der Duisburger Kollege und zeigte sich wenig erfreut über Toppes Anliegen. Dafür hatte Toppe eigentlich nur ein müdes Lächeln übrig, aber er zog es vor, Verständnis zu heucheln. Auch er wäre am liebsten heute schon in den Weihnachtsurlaub gegangen, »aber kannze vergessen«.
Nach etlichen Tassen Kaffee und dick aufgetragenen Mitleidsbekundungen versprach der Kommissar schließlich, ihm »auf jeden Fall noch vor Heiligabend, aber ob et heute noch klappt«, eine Liste der Stammgäste vom,Silbernen Hahn’ rüber zu faxen.
Um nach s’Heerenberg zu kommen, mußte Toppe die rechtsrheinische Autobahn nehmen, was er normalerweise lieber vermied. Um diese Zeit war die Strecke immer proppevoll mit holländischen und belgischen Lastwagen, die sich ihre Elefantenrennen liefern mußten, und sie führte außerdem noch durch die dickste Industriesuppe. Eigentlich mochte Toppe das Ruhrgebiet gern. Er fand die Leute so angenehm normal, und es gab auch ganz schöne, gemütliche Ecken, aber hier auf der Autobahn wurde er immer von einer unbestimmten Melancholie überfallen. Die,Gute Hoffnungsbrücke’ machte ihrem Namen auch heute wieder alle Ehre. Dicht an dicht lagen hier Chemie und Stahlwerke, dazwischengestreut graue Wohnblocks, Siedlungshäuschen und sogar ein Bauernhof mit Kühen auf der Weide. Aus einem schmalen Metallschornstein wehte eine dünne giftgelbe Rauchfahne. Man brauchte schon eine Menge guter Hoffnung, wenn man hier zwischen all den Schloten und Schlackebergen lebte.
Hinter dem Rasthof Hünxe begann so langsam der Niederrhein, das Gras auf den Weiden verlor allmählich seinen Grauschleier, und Toppe hatte das Gefühl, er könne jetzt endlich wieder richtig Luft holen.
Mit den Kollegen in s’Heerenberg hatte er vor ein paar Jahren schon einmal zu tun gehabt. Sie waren genauso hilfsbereit wie die Rijkspolitie und die Recherche in Nijmegen, mit denen er häufig zusammenarbeitete. Gerade hier im Grenzgebiet war der kurze, informelle Draht zueinander wichtig. Viele Fälle waren grenzüberschreitend, und wenn man die offiziellen Dienstwege beschritt, gar INTERPOL einschaltete, dauerte alles viel zu lange.
Er stellte das Auto auf dem rotgepflasterten Marktplatz ab und genoß erst einmal die Ruhe. Hier gab es nicht diesen ganzen Weihnachtsrummel, der ihn in Duisburg überfallen hatte. Die Niederländer hatten ihren,Sinte Klaas’, ihr Fest der großen Geschenke, schon hinter sich, und Weihnachten wurde kaum noch gefeiert.
Henk de Gruyter brachte sofort koffie mit einem kookje und ließ sich zu einem gemütlichen Gespräch nieder.
Die Spielbank zog eine Menge Deutscher aus dem Grenzgebiet an; ausnahmsweise war man froh darüber, denn die Spielbank war die Haupteinnahmequelle des Ortes. Es gab zwei Roulettetische, aber Baccara und Poker wurden auch gespielt. Wenn Toppe wollte, dann könnten sie später zusammen hingehen; ab 18 Uhr war geöffnet. Bis dahin – de Gruyter erinnerte sich wohl an Toppes frühere Vorliebe für reichhaltiges Essen – der neue Chinese gegenüber hatte eine ganz erstklassige Indonesische Reistafel und deutsches Bier.
Toppe schwankte. Er hatte Gabi versprochen, heute endlich ganz bestimmt den Tannenbaum zu besorgen. Henk de Gruyter fragte nicht weiter. » Wann du mich sagst, was an die Hand ist, kann ich das schon allein machen.«
»Das kann ich doch nicht verlangen..«
»Das tust du toch nicht.«
Toppe erzählte so viel von dem Fall, wie nötig war, und sie vereinbarten, daß er de Gruyters Befragungsergebnisse morgen früh selbst abholen würde. Das traf sich gar nicht so schlecht, fand Toppe, denn morgen war hier Fischmarkt. Seit es in Kleve kein richtiges Fischgeschäft mehr gab, mußte man den weiten Weg nach s’Heerenberg auf sich nehmen, wenn man frischen Fisch und anderes Meeresgetier in vernünftiger Auswahl und Qualität haben wollte.
So würde er also zwei Fliegen mit einer Klappe schlagen.
Vielleicht konnte er Gabi überreden, an Heiligabend vom schwiegermütterlichen Kaninchenbraten Abstand zu nehmen.
Zu seiner Überraschung war Breitenegger im Büro.
»Habt ihr euch jetzt endgültig entzweit, Heinrich und du?«
»Ach was. Ich komme gerade aus Hamminkeln. Da hatten wir einen neuen Überfall. Walter ist mit Astrid in Goch.«
»Macht die jetzt auch bei euch mit?«
»Sieht so aus. Der Stasi macht richtig Dampf jetzt. Hat wohl von irgendwem Druck gekriegt. Er will dich übrigens sprechen.«
»Ich habe mich schon gewundert, daß der sich so lange ruhig hält. Aber jetzt rauch’ ich mir erst einmal eine.«
Zum ersten Mal bot ihm Siegelkötter einen Platz an. Er sah so aus, als hätte er sich diesmal eine längere Gardinenpredigt vorgenommen, aber er kam ohne Umschweife zur Sache: »Um es kurz zu machen, Herr Toppe, wir legen Ihren Fall zu den Akten.«
»Wie bitte?« Er mußte sich verhört haben. Aber Siegelkötter schob ihm die ganze, inzwischen recht umfangreiche Verhoevenakte herüber.
»Seit drei Monaten arbeiten Sie ausschließlich an diesem Fall, und ich muß Ihnen sagen, das Ergebnis ist mehr als dürftig.«
»Das mag Ihnen so vorkommen, Herr Siegelkötter, aber ich bin da ganz anderer Ansicht, und ich denke nicht daran, einen Fall so einfach ungeklärt zu den Akten zu legen.«
»Ich verstehe durchaus, daß gerade Ihnen das gegen den Strich geht..«
»Wenn Sie meine letzten Berichte gelesen haben, dann wissen Sie, daß es einen neuen Ansatzpunkt gibt..«
»Ich bin froh, daß Sie dieses Thema selbst ansprechen, Herr Toppe. Ich kann beim besten Willen keinen, wie Sie es nennen, neuen Ansatzpunkt entdecken. Was mir bei Ihren Berichten ins Auge fällt, ist ein Konglomerat aus Intuition, Vermutungen und Ihrer privaten Empirie.«
Dabei schaffte er es, ganz jovial zu lächeln.
»Aber lassen wir das. Ich möchte gar nicht näher darauf eingehen. Ich verlange ja nicht, daß Sie den Fall endgültig abschließen. Legen Sie ihn einfach ganz oben auf den Stapel der ungeklärten Fälle. Dann können Sie sich später immer noch mal wieder damit befassen.«
»Nein.«
»Herr Toppe«, das joviale Lächeln verwandelte sich in einen schmalen Betonmund, und Toppe fragte sich, wie lange der Alte das wohl geübt hatte, »ich kann es mir derzeit nicht leisten, auf einen erfahrenen Mitarbeiter zu verzichten. Ich sehe, Sie haben sich zwischen den Jahren freigenommen. Das ist eine ausgezeichnete Idee. Es wird Ihnen gut tun.«
Toppe wußte nicht, ob er lachen oder brüllen sollte, als er so in die,Armer Irrer’-Ecke gestellt wurde. Er fing sich aber schnell.
»Konstruktive Kritik eines erfahrenen, kompetenten Vorgesetzten kann für jeden Mitarbeiter durchaus nur erbaulich sein. Falls Sie darüber hinaus auch noch an einer konstruktiven Zusammenarbeit interessiert sein sollten, würde ich Ihnen mitteilen, daß ich wichtige Informationen aus Duisburg und s’Heerenberg erwarte.«
Siegelkötters gnädiges Lächeln rutschte seitlich weg.
»Glauben Sie mir, Herr Toppe, Sie haben sich verrannt. Das passiert uns allen manchmal, das kennt man doch aus eigener Erfahrung. Was man dann braucht, ist ein wenig Abstand.
Nach den Feiertagen arbeiten Sie in der SOKO mit. Die benötigt dringend einen Mann mit Ihren Fähigkeiten, denn auch deren Ergebnisse sind ausgesprochen..«
» … karg«, unterbrach ihn Toppe. »Bis zum 2. Januar werde ich an meinem Fall weiterarbeiten.«
Siegelkötter schüttelte besorgt den Kopf. »Nun, wenn Sie in Ihrer Freizeit nichts Besseres vorhaben. Aber hören Sie auf meinen Rat: verabschieden Sie sich innerlich von diesem Fall.«
Toppe winkte nur wortlos ab und wandte sich zur Tür.
Er war zu seinem eigenen Erstaunen nicht einmal besonders wütend, als er zum Büro zurückging. Er nahm sich vor, bis zum 2. Januar nicht mehr über dieses Gespräch nachzudenken.
Breitenegger wedelte mit einem Blatt Papier. »Fax aus Duisburg.«
»Alle Achtung, ganz schön fix, der Junge.«
Die,ehrbaren Bürger’, mit denen Peter Verhoeven, übrigens auch heute noch, regelmäßig jeden Freitag spielte, entpuppten sich als zumeist schon einschlägig bekannte Halbwelt-Mitglieder: ein Barbesitzer war dabei, ein Tankstelleninhaber, ein Fotograf..
»Geldek«, murmelte Toppe, »Geldek, der Name ist doch schon mal aufgetaucht..« »Der Baulöwe?« wollte Breitenegger wissen.
»Mmh, Bauunternehmer steht hier.«
»Den kennst du nicht?«
»Nö.«
»Mensch, der steht doch dauernd in der Zeitung. Ganz schräger Vogel. Erst seit ein paar Jahren in Kleve, aber von Anfang an gut im Geschäft. Gleich den richtigen Draht zur Stadt, zieht sich jeden dicken Auftrag an Land, alles ganz legal, versteht sich. Dem gehört doch jetzt schon halb Kleve.«
» Ach der! Klar, jetzt weiß ich. Ich dachte immer, der käme von hier.«
»Ach was, der ist erst vor sieben, acht Jahren aus dem Ruhrpott hier runtergekommen. Aber dann weißt du ja auch, was so alles über den erzählt wird.«
»Ja, ja, warme Abbrüche, eigener Schlägertrupp, jetzt fällt’s mir wieder ein. Was würde Ackermann dazu sagen: Die Leute quatschen viel, wenn der Tag lang ist. Aber ich bin ganz sicher, daß ich den Namen im Verhoevenfall schon einmal gelesen habe.«
Er brauchte genau zwei Stunden, bis er den Namen wiedergefunden hatte: Im Zusammenhang mit der Schießerei im Duisburger Hauptbahnhof, bei der die jetzige Tatwaffe benutzt worden war, war von Geldek die Rede gewesen. Einen seiner damaligen Handlanger am Bau, der Geldeks Ziehkind gewesen war, hatte man bei der Schießerei identifiziert, aber Geldek hatte ihm ein wasserdichtes Alibi besorgt.
Der Kollege in Duisburg rutschte fast vom Stuhl, als Toppe anrief, hatte aber, als der Name Geldek fiel, schnell ein Einsehen, und nach einer weiteten Stunde Faxerei und Computerbefragung wußte Toppe eine ganze Menge mehr:
Eugen Geldek, geboren 1938 in Duisburg, drei Kinder aus erster Ehe; in zweiter Ehe verheiratet mit Martina Marx, Architektin. Wohnhaft in Kleve-Brienen, Am Deich 1. Die Ehefrau war Inhaberin eines großen Baugeschäftes in Duisburg-Obermarxloh und einer Bauträgergesellschaft in Kleve. Er selbst Teilhaber an mehreren Diskotheken und Spielhallen im Ruhrgebiet, außerdem Besitzer dreier Hotels am unteren Niederrhein und mehrerer Objekte in den Niederlanden. Er war Gründungsmitglied des Fördervereins Schloß Moyland und des Golfclubs. Im Besitz eines gültigen Waffenscheins, passionierter Jäger. Mehrere Vorstrafen in den fünfziger und sechziger Jahren wegen z. T. schwerer Körperverletzung. In den letzten zwanzig Jahren mehrfach aufgetaucht im Zusammenhang mit Brandstiftung, Geldwäsche und Bestechung und eben der Schießerei im Duisburger Bahnhof; allerdings immer ohne Anzeige, Die vier Jungs, die damals nach der Bahnhofsgeschichte überprüft worden waren, hatte das Schicksal mit unterschiedlicher Härte getroffen: Zwei von denen saßen seit geraumer Zeit im Knast, einen hatte man vor sieben Monaten tot aus dem Duisburger Hafen gefischt, und der vierte, Geldeks Ziehkind, ein gewisser Kurt Korten, war bald nach der Schießerei untergetaucht und seither nicht aufzufinden.
Von ihm und von Geldek hatte er sich die Fingerabdrücke und die Porträts rüberfaxen lassen. Gleich nach den Feiertagen würde er mit den beiden Fotos seine Runde unter den Schützenfestbesuchern machen.
Nur dreizehn Tage noch bis zum 2. Januar.