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Das Fest hatte den Höhepunkt längst überschritten. An der Theke klebten noch ein paar standhafte Trinker, an zwei der langen Tische einige unermüdlich Fröhliche; alles in allem vielleicht noch siebzig Leute. Es war deutlich leiser geworden. Die übrig gebliebenen Frauen quietschten bei den schlüpfrigen Witzen nicht mehr ganz so schrill, und die Musik kam nur noch vom Band, das der Wirt seit einer guten Stunde immer wieder umdrehte.

Maria Verhoeven faltete sorgfältig die weißen Damastdecken zusammen, die auf ihrem Tombolatisch gelegen hatten. Dies’ Jahr hatten se gut wat eingenommen. Nur der Korb mit Eiern, den Jüppken Tenbuckelt gestiftet hatte, war noch nicht abgeholt worden. Wat solltet. Sie würd’ sich ma’ langsam auf den Weg machen; die halbe Nacht an dem Tisch stehen; man war ja nich’ mehr die Jüngste. Hein würd’ wohl auch bald komm’.

Er stand an der Ecke der Theke, die dem Ausgang am nächsten war, ein halbleeres Bierglas vor sich, das irgendjemand stehengelassen hatte. Keiner merkte, daß er nichts trank.

Das Schulterklopfen seiner Nachbarn nahm er hin, lachte auch manchmal laut über die Dönekes und Witze, sagte »Ja, ja«, »so isset« und »so wat, nee!«

Von hier aus konnte er den ganzen Saal gut überblicken, hatte alles Kommen und Gehen im Auge. Er zündete sich noch eine Zigarette an und verstaute die Packung und das Feuerzeug wieder sorgfältig in seiner Hemdtasche.

Ingeborg Verhoeven legte ihrem Schwiegervater bedeutsam die Hand auf die Schulter. »Komm, Vatter, du hast genug.«

Er drehte sich langsam um und sah sie aus rotgeränderten Augen an. »Wieviele Jahre isset jetz’ her«, fragte er.

Ingeborg wurde flammendrot, aber sie senkte ihren Blick nicht.

»Ich geh’ jetz’«, wandte sich Wilhelm Verhoeven seinem Bruder zu. Heinrich nickte ausdauernd.

»Wo is’ mein Mia?« wollte er wissen.

»Die ist schon gegangen, Onkel Hein.«

»Na, dann isset ja gut. Is’ ja auch Zeit«, brummte er und griff sein Glas.

»Paß auf, Vatter«, Ingeborg faßte Wilhelms Ellbogen, aber er schüttelte sie ab.

»Mein Lebtach hat mich noch kein Mensch nach Bett bringen brauchen.«

Er hinkte steif und mit geradem Rücken zum Kopf der langen Tafel.

»Wohin denn so eilig, Willi?« Der Pastor hatte dort seit Jahren seinen Stammplatz. Trotz seiner kleinen Unsicherheit beim,s’ und,l’ hatte er nichts von seiner Würde eingebüßt.

»Komm Willi, trink noch einen mit.«

»Nix da!« dröhnte Verhoeven. »Ich weiß, wann ich genuch hab’. Jetz’ is’ Sabbat. Ich geh’!« Und dann wankte er, den Blick stier auf die Tür gerichtet, zum Ende des Saales.

,,Nu’ wart’ doch, Vatter«, rief Ingeborg ihm nach. Sie hatte ihre liebe Mühe mit Onkel Hein, der sich nicht in sein Jackett helfen lassen wollte, allein aber den zweiten Ärmel nicht fand. »Wech, Kind, dat macht Hein immer selber. War’ doch gelacht!«

Er drückte schnell seine Zigarette aus und nickte seinem Nachbarn zur Linken kurz zu.

»Wat is, Mann? Musse schon nach Mutti hin? Ab inne Heia?« rief der ihm nach. Aber er war schon an der Garderobe, nahm seine Jacke, die er an den Haken ganz rechts außen gehängt hatte, und zog sie im Hinausgehen über.

Leichtfüßig, lautlos eilte er durch das dunkle Dorf. Nur vom Schützenhaus konnte man gedämpft Gelächter hören, sonst war alles totenstill. Der Nieselregen war dichter geworden und legte sich wie ein Film auf seine Haut. Im Schatten des Ehrenmals hastete er an der alten Schule vorbei. Als er um die Kirche herum auf den Friedhof lief, traf ihn der kalte Westwind hart ins Gesicht. Leise bewegte er sich am Rande der weißen Kieswege entlang, bis er seinen Platz erreicht hatte. Dann wartete er.

»So, Vatter, nu’ komm«, Ingeborg hatte Wilhelm endlich eingeholt.

»Ich geh’ noch ma’ ebkes pinkeln.«

Ingeborg seufzte laut. Der Onkel hing an ihrem Arm und plapperte munter vor sich hin. Sie hatte Kopfschmerzen.

»Beil dich, Vatter, wir warten draußen auf dich.«

Er sah sie kommen. Der Alte schwankte schwer. Der andere, ein paar Meter dahinter, am Arm der Frau, war genauso unsicher auf den Beinen. In einiger Entfernung kamen noch welche, er konnte ihr Lachen und Singen hören.

Jetzt öffnete die Frau das Törchen. Wenn sie unter der Laterne waren.. jetzt.

Das Geräusch des Schusses nahm er nicht wahr; er sah, wie der Mann vornüberfiel und liegenblieb.

Gebückt hastete er über den schwarzen Friedhof; hörte nicht das grelle Schreien der Frau, das Rufen der anderen, achtete nur genau darauf, daß er dem Kies auswich, kein Geräusch machte, nicht in den Lichtkreis der Laterne an der Ecke geriet.

Mit einem Satz nahm er die hohe Buchsbaumhecke, lief noch sechs, sieben große Schritte über unsicheres Gelände, spürte den Herzschlag am Hals und bog dann in die schwarze Finsternis des Feldwegs ein.