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Mannhardt kam von der Geburtstagsfeier seiner alten Kollegin Yaiza Teetzmann und wollte noch einmal die Toilette aufsuchen, ehe er das Polizeirevier verließ und wieder nach Hause fuhr. Überall spielten sie Weihnachtslieder, er aber hatte Hans Albers und ›La Paloma‹ im Ohr: ›Einmal muss es vorbei sein.‹ Für ihn war es vorbei … Dass er langsam alt wurde, merkte er auch daran, dass er spätestens alle zwei Stunden Harn lassen musste, andernfalls drohte Dranginkontinenz. Heike spottete bereits, dass bald die ersten Windeln fällig sein würden.
Der Zufall macht vor keinem Halt, sagte er immer, und so trat Gunnar Schneeganß neben ihn ans Pinkelbecken. Man begrüßte sich kollegial und heuchelte Freude, aber als Schneeganß dann pro forma fragte, ob Mannhardt nicht auf eine Tasse Kaffee mitkommen wolle, sagte er nicht nein. Bis Silvio aus der Schule kam, hatte er gute drei Stunden Zeit. Auch Eugen Grätz war gerade nicht im Einsatz, und so konnten sie eine Weile plaudern. Nachdem sie darüber geredet hatten, wer bei ihnen im Beritt mit wem ins Bett ging und befördert beziehungsweise nicht befördert worden war, kamen sie auch auf das zu sprechen, was sie im letzten Sommer gemeinsam erlebt hatten.
»Was ist denn aus denen geworden, die der Völlenklee und seine Mörderin damals erpresst haben?«, fragte Schneeganß. »Deine Frau hat doch da recherchiert …«
»Heike, ja.« Mannhardt überlegte, und es dauerte einen Augenblick, bis er alles beisammen hatte. »Na, die Sabrina Immelborn ist bei einem Verkehrsunfall in der Nähe von Jüterbog ums Leben gekommen. Daraufhin hat Ritchie die Buchhandlung seiner Mutter übernommen, und Dr. Mägdesprung ist zur Entwicklungshilfe gegangen und arbeitet als Arzt in Malawi.«
»Und der andere Arzt, der Narsdorf?«, fragte Schneeganß.
»Der hat eine Professur für Psychiatrie an irgendeiner süddeutschen Uni bekommen, ist jedoch regelmäßig in Berlin, um sich um Corinna Natschinski zu kümmern. Die hat acht Jahre bekommen und sitzt in Plötzensee, aber das wisst ihr selbst.«
»Er soll die Gutachter ganz schön bearbeitet haben«, sagte Grätz. »Von wegen Unzurechnungsfähigkeit. Borderline und Schizophrenie sind das Mindeste gewesen, worunter sie gelitten haben soll.«
»Wie auch immer«, fuhr Mannhardt fort. »Er will sie heiraten.«
Schneeganß lachte. »Und dann fliegen sie mit Fröttstädt in die Flitterwochen.«
»Fröttstädt fliegt nicht mehr, der verkauft jetzt Flugreisen: bei seinem Bruder im Reisebüro.«
»Und dieser Bulkowski?«, fragte Grätz.
»Der arbeitet als Trainer in China«, antwortete Mannhardt.
Schneeganß nahm den Faden auf. »Bleibt noch Millie Malorny – und die ist die große Ikone der Generation Doof geworden. Freude, schöner Götterfunken!«
»Vergessen wir nicht, dass Leon Völlenklee auf dem Friedhof an der Bergmannstraße liegt«, sagte Mannhardt. »Er war schließlich der Protagonist des Ganzen, der Auslöser.«
»Und was lernen wir daraus?«, fragte Grätz.
»Nichts«, antwortete Schneeganß. »Was sollen wir auch lernen?Wir wissen doch schon lange, dass jede Tat unzählige Folgen hat, für die einen gute, für die anderen schlechte. Alles hängt mit allem zusammen, und so kommt gesellschaftliche Dynamik zustande.«
»Das lass mal nicht die hören, die an Prädestination und ein göttliches Drehbuch glauben«, sagte Mannhardt.
So plauderten sie noch ein Weilchen, dann klingelte bei Schneeganß das Telefon. Er nahm ab und lauschte. »Wie …? Der Mann, der den Schriftsteller Henning Hanke im Döner-Imbiss erschossen hat, der hat eine Familie als Geiseln genommen und sich in einer Wohnung im Wedding verschanzt, in der Türkenstraße … Ja, hinter dem war ich her. Roland Neuhäuser heißt er, ja. Gut, ich komme.«
Schneeganß und Grätz machten sich auf den Weg. Mannhardt fuhr mit, weil die Türkenstraße auf halbem Weg nach Tegel lag und er nachher in Rehberge in die U-Bahn steigen konnte.
Unterwegs informierte Schneeganß ihn. »Dieser Roland Neuhäuser ist ein völlig durchgeknallter Vegetarier. Er hat sich vorgenommen, alle auszurotten, die Tiere morden und Fleisch essen, besonders das Zeug an den Döner-Spießen.«
Als sie in der Türkenstraße angekommen waren, bot sich ihnen das altvertraute Bild: Alles war abgesperrt, hinter einem Fenster im Parterre war ein hagerer Mann zu erkennen, der mit einer Pistole herumfuchtelte, ein Psychologe versuchte, mit ihm ins Gespräch zu kommen, hinter Lieferwagen lauerten die Männer vom SEK. Der Geiselnehmer war klug genug, sich immer so zu bewegen, dass er den Psychologen als Schutzschild vor sich hatte.
Eine Stunde verging. Es war, als hätte ein Regisseur »Freeze!« gerufen. Der Mann war nicht dazu zu bewegen, aufzugeben, auch wagte er sich nicht aus seiner Deckung hervor und bot den SEK-Beamten keinerlei Chance zum Eingreifen.
Mannhardt sah auf die Uhr. Er musste langsam nach Hause, denn Silvio hatte um 14.15 Uhr Schulschluss. Und Hunger hatte er auch. Er stellte sich vor, eine warme Blutwurst auf dem Teller liegen zu haben … Mensch, das war es!
»Weißt du, wie du den Mann aus der Reserve locken kannst?«, fragte er Schneeganß.
»Nee, leider nicht.«
»Du ziehst dir eine kugelsichere Weste an, kaufst dir eine dicke, fette Blutwurst, stellst dich vor Neuhäusers Fenster und verzehrst sie mit sichtbarem Hochgenuss. Da wird der wahnsinnig werden, wenn er das sieht, und aus seiner Festung herauskommen, um dich abzuknallen. Und dann habt ihr ihn. Blutwurst ist das Schlimmste für einen Vegetarier.«
Dies wurde mit der Einsatzleitung diskutiert und dann gewagt. Und es glückte.
Mannhardt musste sich nun per Handy eine Taxe rufen, um noch rechtzeitig zu Hause zu sein, und erzählte dem Fahrer, was er eben erlebt hatte.
Der lachte. »Ja, was sage ich immer: Be Berlin. Be in therapy. Be in the capital of losers.«
Mannhardt schüttelte den Kopf. »Ich sehe mich nicht als Verlierer.«
»Im Kampf mit Alter und Tod sind wir alle Verlierer«, sagte der Taxifahrer.
E N D E