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Um dem Fußballwahn zu entfliehen, hatte Werner Schwenz eigentlich ins Konzert gehen wollen, doch auf dem Weg in den Kammermusiksaal war sein Husten so stark geworden, dass er es nicht gewagt hatte. Es war eine Horrorvorstellung für ihn, laut losbellen zu müssen, wenn die Sängerin gerade zu einem der schönsten Schumann-Lieder ansetzte. Dann lieber die Karte verfallen lassen. Sich in den Vorraum zu stellen und anderen zuzuflüstern, ob jemand eine Karte bräuchte, widerstrebte ihm. Seit er sich von Bernhard Jöllenbeck getrennt hatte, ging er nur noch allein in die Philharmonie, ins Kino oder ins Theater.
Werner Schwenz war nach einem heftigen Hustenanfall an der Kreuzung Potsdamer, Haupt-, Langenscheidtstraße und Willmanndamm aus dem Bus gestiegen und überquerte nun die Straße, um wieder nach Hause zu fahren. Er litt unter leichter Nachtblindheit und steuerte deswegen abends nur ungern ein Auto. Außerdem hasste er die lange Suche nach einem Parkplatz. Er wohnte in der Clausewitzstraße und damit ganz in der Nähe des U-Bahnhofs Adenauerplatz. Jahrelang war er mit der U-Bahn bis Kleistpark gefahren und dort umgestiegen in den Bus zur Philharmonie, aber heute war er zum S-Bahnhof Charlottenburg gelaufen und von dort zum Innsbrucker Platz gefahren, um auf den Bus der Linie M48 zu warten. Am Kleistpark hatte ihn erneut der Husten gepackt und er war ausgestiegen. Der Grund, die U-Bahn zu meiden, war ein ganz einfacher: Er hätte den Bahnhof Bayerischer Platz passieren müssen – und dazu hatte ihm die Kraft gefehlt. Nur nicht die Stelle sehen, an der Bernhard Jöllenbeck von den Rädern eines einfahrenden Zuges getötet worden war.
Schwenz war immer noch der Ansicht, dass Jöllenbeck von Ritchie auf die Gleise gestoßen worden war. Ritchie erschien allen immer so sanftmütig, dabei konnte er ungemein aggressiv werden, wenn er nicht schnell genug an Drogen herankam. Jöllenbeck hatte sich geweigert, ihm Geld zu geben, da war er ausgerastet. Schwenz verfluchte die Kripo, dass die nicht in der Lage war, Ritchie zu überführen. Schaffte sie es nicht, musste er die Sache in die Hand nehmen. Irgendwie. Und Jöllenbeck rächen.
Der Bus kam nicht, und plötzlich fühlte sich Werner Schwenz getrieben, seine Schwäche zu überwinden und einen Blumenstrauß dort auf den Bahnsteig zu legen, wo Jöllenbeck den Tod gefunden hatte. Dazu eine brennende Kerze. Überall machte man das, wenn Freunde den Tod gefunden hatten. Es war eine ausgefallene Idee, und wahrscheinlich hätte er sie nicht gehabt, wenn sein Fieber nicht gestiegen wäre. So aber kaufte er einem der herumziehenden dunkelhäutigen Händler eine langstielige dunkelrote Rose ab und folgte dem Mann ins nächste Lokal, um den Wirt zu bitten, ihm für einen Euro eine der auf den Tischen stehenden Kerzen zu überlassen. Der staunte zwar, tat ihm augenzwinkernd den Gefallen. Schwenz stieg mit Rose und Kerze in die U-Bahn hinunter.
Bis zum Bayerischen Platz waren es nur zwei Stationen. Er stieg aus und blieb etwa zehn Meter hinter dem Führerstand stehen. Hier musste es geschehen sein. Als der Zug den Bahnhof verlassen hatte, kniete er nieder, legte die Rose auf den Boden und entzündete die Kerze. Mehrere Fahrgäste beobachteten ihn. Keiner sagte etwas.
Mit einem Mal standen zwei Uniformierte vor ihm. Sie trugen Baretts wie schneidige Panzerjäger, waren allerdings jeweils Dick und Doof in einer Person.
»Was soll das?«, fragte der erste Mann von der Security.
»Mein bester Freund ist hier ums Leben gekommen«, antwortete Schwenz.
»Ihr Freund?«, rief der zweite Mann von der Security, und Schwenz sah ihm sein Bedauern an, dass die Zeiten vorüber waren, in denen man Schwule ins KZ gesteckt hatte.
»Ja, er ist hier ermordet worden«, wiederholte Schwenz.
Der Erste stieß die Blume zur Seite und trat die Kerze aus. »Das ist Transportgefährdung! Da stolpern Leute drüber und stürzen auf die Gleise. Nehmen Sie das weg!«
Da kam Hannelore Velkoborski aus ihrem Kiosk gestürzt und schrie die Securitymänner an, dass sie sich was schämen sollten. Sie bückte sich und hob Blume und Kerze auf.
»Kommen Sie, Herr …« Sie zog Schwenz mit in Richtung Kiosk. »Hier bei mir können Sie …Schön, dass einer so an Herrn Jöllenbeck denkt. Das war ein feiner Mensch. Und ich bin immer noch der Ansicht, dass ihn dieser Junge vor den Zug gestoßen hat.«