7
Hagen Narsdorf fluchte leise vor sich hin, während er ins Bad taumelte. Wieder einmal war er nach dem Aufwachen müder als vor dem Einschlafen. Der Blick in den Spiegel schmerzte wie ein Messerstich in den Bauch, und sein Selbsthass war so groß, dass er murmelte: »Zieh dir ’ne Hose drüber, du Arschgesicht!« Er hätte zehn Jahre seines Lebens dafür gegeben, ein anderer zu sein. In der Duschkabine war es eklig kalt, und er ließ zunächst eine Weile heißes Wasser laufen, um alles etwas anzuwärmen. Nachdem er in die Kabine getreten war und die Tür hinter sich geschlossen hatte, benetzte er seinen Körper und verteilte das Duschgel von den Zehen bis zur Stirn. Dabei stellte er sich vor, Vanessa einzuseifen, seine neu eingestellte Sprechstundenhilfe, deren Hobby das Poppen war, wie sie einer Freundin per SMS verraten hatte. Er schloss die Augen, fuhr mit dem Penis in die hohle Hand und rieb und stieß, immer wütender werdend, weil es ihm nicht kommen wollte. Das Ganze war eher eine Qual als eine Lust, doch er bestand auf diese Triebabfuhr, um sich zu entschärfen und im Laufe des Tages weder für Vanessa noch seine Patientinnen eine Gefahr zu sein. Endlich ejakulierte er, allerdings kam so wenig Samenflüssigkeit, dass er erschrak. Das bisschen reichte niemals, um ein Kind zu zeugen, da brauchte er kein Mikroskop. Offensichtlich hatten das auch alle seine Partnerinnen bemerkt und sich lieber potenteren Männern zugewandt. Angeekelt spülte er sein Ejakulat hinunter.
»Du musst mal zum Psychiater!«, rief er sich hinterher, als er die Duschkabine verließ, stolz auf das Maß an Selbstironie, zu dem er fähig war.
Zum Frühstück briet er sich zwei Spiegeleier. Mit viel Speck und very british. Das erinnerte ihn an den letzten Urlaub. Er war kein großer Freund der NLP, der Neuro-Linguistischen Programmierung, doch das anchoring war keine schlechte Sache. Man ankerte mit seiner Seele an einer schönen Stelle und vermied damit negative Gefühle und unerwünschtes Verhalten.
Während er wartete, bis seine Kaffeemaschine ihre
Pflicht erfüllt hatte, beschimpfte er sich selbst.
Alle Männer in deinem Alter haben eine Frau oder Lebensgefährtin, nur du nicht. Aber wer nimmt dich Arschloch schon?
Melde dich endlich beim Naturkundemuseum, die brauchen dich dringend für die Ausstellung ›Die Neandertaler sind zurück‹.
Geschieht dir recht, dass dich einer erpresst – machst du wenigstens deine Praxis zu und bewahrst deine Patienten vor dem Schlimmsten.
Als alles raus war, ging es ihm besser. Er schlug die Zeitung auf, für die er nur Zeit zum Lesen während des Frühstücks hatte. Auf der Berliner Seite ging es immer noch um den mysteriösen Tod von Bernhard Jöllenbeck. Unfall, Mord oder Selbstmord – alles schien möglich. Die große Frage war, ob der Erpresser bereits Kontakt mit Jöllenbeck aufgenommen hatte. Wenn ja, war ein Suizid wahrscheinlich, denn nichts regte die Öffentlichkeit – falls sie es erfuhr – mehr auf als das, was der Anwalt und Politiker zu verbergen hatte: die Liebe zu Knaben. »Warum heißen Päderasten Päderasten?«, hatte Jöllenbeck ihn gefragt. »Weil da alle ausrasten, wenn sie davon hören.« Die Therapie hatte gerade erst begonnen und Jöllenbeck an seine Zukunft geglaubt.
Narsdorf war sich von Stunde zu Stunde gewisser, dass es Völlenklee war, der ihn erpresste. Und wenn, dann war die Frage, ob Völlenklee von seinem Vorhaben abließ, wenn Jöllenbeck schon von ihm erpresst worden war und sich deswegen vor die U-Bahn geworfen hatte. So einfach mit Ja und Nein ließ sich das nicht beantworten. Alles war eine Sache der Wahrscheinlichkeit. Narsdorf glaubte nur zu maximal zehn Prozent daran, dass Völlenklee wirklich aufhörte, denn was er da machte, glich irgendwie einem Amoklauf und entsprang einem diffusen Hass auf alles und alle, besonders auf ihn.
Wie war Völlenklee zu stoppen? Reichte es, ihm die Summen zu zahlen, die er forderte, fordern würde? Oder …? Dieses Oder erschreckte Narsdorf zutiefst, denn es hieß letztendlich, dass man Völlenklee ermorden und sein Beweismaterial vernichten musste. Aber wer sollte das tun? Er selbst? Ein berufsmäßiger Killer aus den Ländern östlich von Polen? Eine Interessengemeinschaft der von Völlenklee geschädigten Personen? Da hatten sie nur eine Chance, wenn es bald geschah. Doch Orlando und Mannhardt wussten ja schon davon,
dass er erpresst wurde, und bei einem Mord geriet er sofort ins Raster der Fahnder.
Vielleicht reichte es, Völlenklee nur zu drohen und ihm einen Schuss vor den Bug zu setzen: Hörst du nicht auf, eliminieren wir dich! Narsdorf hatte bereits eine Idee, wer das besorgen konnte: Maik Bulkowski, der Kugelstoßer.
Narsdorf machte sich auf den Weg in seine Praxis. Von der Blankenburg- zur Schloßstraße war es nur ein kurzes Stück. Lange hatte er vorgehabt, eine Villenetage in einer der noblen Ortsteile Dahlem, Grunewald oder Schlachtensee zu mieten, jedoch war er dahintergekommen, dass die meisten seiner Patienten alles daran setzten, nicht gesehen zu werden, wenn sie in seine Sprechstunde kamen. Es war so ähnlich wie bei einem Bordellbesuch. So war er in ein lebhaftes Geschäfts- und Kaufhaus gegangen, wo es unmöglich war, sonderlich aufzufallen. Und traf man als Patient wirklich auf einen verfeindeten Kollegen, kam man gerade vom Shoppen.
Es war nicht eben originell, was er dachte, aber schon sein Vater war jeden Tag mit diesem Spruch zur Arbeit gegangen: ›Dann mal auf in den Kampf!‹
*
Narsdorfs erster Patient an diesem Morgen war ein Schriftsteller, von dem er bis zu dessen Erscheinen noch nie etwas gehört, geschweige denn gelesen hatte. Der Mann begann zu reden … Betrat er eine der großen Buchhandlungen, dann war das für ihn eine derartige Belastung, dass sich sein Blutdruck der Marke von 200 zu 115 näherte und er das Gefühl hatte, im nächsten Augenblick zu platzen. Dieser Ausnahmezustand hatte mehrere Ursachen. Einmal musste er mit seinen Frustrationen fertig werden. Da standen Zehntausende von Büchern in den Regalen, die alle nicht von ihm geschrieben worden waren, und auf den Bestsellerlisten fehlte sein Name. Darunter litt er, das machte ihn traurig, raubte ihm die Kraft und ließ ihn mitunter auch an Selbstmord denken. Auf die Frustrationen folgten die Aggressionen, und der Mann hatte dagegen anzukämpfen, die Werke seiner Konkurrenten und Feinde nicht herunterzureißen, zu zerfetzen oder gar zu verbrennen. Das alles fraß ihn innerlich auf, und war diese Phase überwunden, kam die marternde Frage, ob irgendwo einer seiner Romane zu finden war. Sah er wirklich einmal ein Exemplar, konnte er sich nur bedingt darüber freuen, da das ja nichts anderes hieß, als dass es noch niemand gekauft hatte, und womöglich ging es als Remittendenexemplar an den Verlag zurück. War nirgends ein Roman von ihm zu entdecken, konnte ihn bereits jemand gekauft haben, es konnte jedoch auch bedeuten, dass der Buchhändler gar keinen geordert hatte.
›Posttraumatische Verbitterungsstörung‹ und ›narzisstische Unersättlichkeit‹ diagnostizierte Narsdorf und hätte dem Guten am liebsten gesagt: Ich besorge Ihnen schnell mal den Nobelpreis für Literatur, dann sind Sie mit einem Schlag geheilt. Ging leider nicht, er hatte sich einfühlsam zu zeigen und nach den tieferen Gründen zu suchen. Das war allerdings schwer, denn wie sagte er immer: »Die Tiefe der menschlichen Seele ist nur mit der des Universums zu vergleichen.«
»Wir wollten uns ja heute noch einmal mit Ihrem Verhältnis zu Ihrer Mutter beschäftigen«, begann Narsdorf nach einem Blick auf seine Notizen. »Sie war immer verbietend und fordernd und hat nie ein Lob für Sie übrig gehabt?«
»Ja … Hatte ich zum Beispiel in Mathematik mit Müh und Not eine Vier geschafft und war stolz auf mich, kam sofort die Frage, warum ich keine Zwei geschafft habe, wie mein Freund Carsten zum Beispiel. Und als ich dann meine ersten Kurzgeschichten geschrieben habe, da hat sie mich angeschnauzt, ich solle lieber meine Schularbeiten machen …«
Narsdorf musste an Henning Hanke denken. Auch den hatten alle verspottet, als er bekannt hatte, Schriftsteller werden zu wollen. Sein Vater hatte ausgerufen, nun fehle nur noch, dass er ihnen erklären würde, er sei schwul. Damals hatte sich Henning Hanke eng an Völlenklee angeschlossen …
»Kannten Sie eigentlich Henning Hanke?«, fragte Narsdorf.
»Nein, auch nicht vom Namen her. Jedenfalls bis zu dem Tag, an dem er … Warum soll ich das zur Kenntnis nehmen, was andere produzieren – die interessieren sich ja auch nicht für das, was ich schreibe.«
Narsdorf nickte. »Okay. Wir müssten in unseren nächsten Sitzungen dahin kommen, dass Sie sich als Teil des Ganzen fühlen, denn wie hieß es damals, als die Transaktionsanalyse en vogue war: Ich bin okay, du bist okay, wir sind okay. Nur das sei der Weg zum Glück. Fangen Sie einmal an, die Romane derer zu lesen, die im Augenblick hoch gehandelt werden, und versuchen Sie, dabei literarischen Genuss zu verspüren. Machen wir gleich Nägel mit Köpfen: Lesen Sie ›Berliner Blut‹ von Henning Hanke und bewundern Sie ihn posthum.«
Narsdorf, der sich das Buch nach der Beerdigung Hankes gekauft hatte, nahm es vom Regal und drückte es dem Schriftsteller in die Hand. Der musste zwar schlucken, schwor jedoch, seine Hausaufgaben zu machen.
»Ich mag zwar keine Kriminalromane, aber …«
»Da geht es auch um eine Erpressung …« Narsdorf wollte es auf einen Überrumpelungsversuch ankommen lassen. »Können Sie sich vorstellen, wegen irgendetwas erpresst zu werden?«
Der Schriftsteller lachte. »Nur, wenn mich einer beim Plagiat erwischt. Aber leider ist bis jetzt alles, was ich in den Computer getippt habe, auf meinem eigenen Mist gewachsen.«
»Und dass Sie Patient bei mir sind?« Narsdorf erschrak, weil er glaubte, sich zu weit aus der Deckung gewagt zu haben.
Doch der Schriftsteller lachte nur. »Wen interessiert das schon?«
Damit war er aus der Tür, und Narsdorf trat ans Fenster, um sich kurz zu erholen. Vielleicht sollte er sich hinsetzen und eine Liste von Leuten und Berufsgruppen anlegen, die viel zu verlieren hatten, wenn herauskam, dass sie Störungen aufwiesen, die im DSM, dem Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, verzeichnet waren. Oder ehrbare Mitglieder aller möglichen Eliten waren und es dann so trieben wie Max Mosley, der Formel-1-Boss, der im März 2008 mit Prostituierten in Nazi-Uniformen Sexorgien gefeiert hatte.
Vanessa kam herein und meldete, dass der nächste Patient gerade unten geklingelt habe und gleich im Flur stehen würde.
»Wer ist es denn?«
»Herr Fröttstädt.«
»Ah, ja.« Sören Fröttstädt, das war der Pilot, der mit seinem Alkoholproblem nicht klarkommen konnte. Seit Narsdorf ihn behandelte, fuhr er, Narsdorf, lieber mit der Bundesbahn. »Schicken Sie ihn bitte in einer Minute herein.«
Diese eine Minute brauchte Narsdorf, um seine Notizen zu überfliegen. Fröttstädt hatte angefangen zu trinken, weil er, saß er im Cockpit, immer öfter den zwanghaften Wunsch verspürte, seine Maschine gegen einen Berg zu lenken und alle Passagiere mit in den Tod zu nehmen. Den Kopiloten wollte er vorher niederschlagen.
»Das wäre so einer, den Völlenklee mit einer Erpressung treffen könnte«, murmelte Narsdorf. Vielleicht erzählte ihm Fröttstädt von sich aus, dass er erpresst wurde, er selbst konnte sich ja schwerlich aus der Deckung wagen. Oder? Noch erwog er das Für und Wider eines offenen Wortes, da klingelte sein Telefon. Auf dem Display erschien das Wort
›Unbekannt‹, und ehe Vanessa draußen abnehmen konnte, hatte er selbst reagiert.
»Narsdorf, ja bitte?«
»Es ist soweit. Wir treffen uns um 19 Uhr an der Gedächtniskirche. 5.000 Euro hätte ich gern. Keine Polizei, sonst …«
»Schön, dich zu sprechen, Leon!«, rief Narsdorf, aber da hatte der andere längst aufgelegt.
*
Hagen Narsdorf ließ seinen BMW in der Garage und fuhr mit der U-Bahn zum Zoo. Dies nicht nur aus praktischen Gründen, weil um die Gedächtniskirche herum kein Parkplatz zu bekommen war und er Parkhäuser hasste, sondern auch, um sich selbst zu bestrafen. Zu bestrafen für seine Dummheit, das Geld für bessere Firewalls gespart zu haben, für seine Dummheit, die Notizen über prominente Patienten nicht auf Papier gemacht und in den Panzerschrank gesteckt zu haben. Mit der U- und S-Bahn zu fahren, war wirklich eine Strafe für ihn. Nicht dass er unter irgendwelchen Phobien gelitten hätte, aber er hasste es, mit dem stinkenden und blöde quasselnden Plebs auf engem Raum zusammengepfercht zu sein, in rollenden Sozialstationen.
Während er auf die vorbeirasenden Tunnelwände starrte, fragte er sich, warum er Leon Völlenklee von dem Augenblick an gehasst hatte, als sie sich als 15-Jährige in ihrer neuen Klasse zum ersten Mal begegnet waren. Da musste in seinem Hirn ein Muster, ein Raster angelegt gewesen sein, das beim Anblick des anderen automatisch Gefühle von Angst und Hass ausgelöst hatte. ›Ich bin hier das Genie‹, hatte Völlenklee allen signalisiert, ›ihr seid nur mediokre Kleingeister, Streber, Schwätzer‹. Mit breitem Grinsen und ätzender Ironie hatte er alles kommentiert, was sie zu sagen wagten, er dagegen war allwissend. Immer schläfrig, immer gelangweilt, weil er sich maßlos unterfordert fühlte. Auch noch, als ihn die Lehrer, von ihm ebenso genervt und gedemütigt wie seine Klassenkameraden, in die Ehrenrunde geschickt hatten. Narsdorf realisierte jedoch auch, dass Völlenklee ihn in seiner Identität bedroht hatte. Schwerfällig war er sich in seiner Nähe vorgekommen, als Streber und Spießer, und wurde er aufgerufen, so hatte er manchmal richtiggehend zu stottern angefangen, weil es ihm nicht gelingen wollte, so elegant daherzureden wie Völlenklee es konnte.
In Völlenklees Nähe wurde er krank, und so definierte es Narsdorf als Notwehr, dass er mit allen Mitteln, auch mit schmutzigen Tricks, versucht hatte, Völlenklee aus seiner Klasse zu entfernen. Das mit Völlenklees Mutter stand allerdings mit seinem Feldzug gegen Leon in keinem Zusammenhang, das war eher so wie bei Dustin Hoffman und der ›Reifeprüfung‹ gewesen. Susanne war eines Tages in seinem Tennisklub erschienen und hatte Stunden nehmen wollen, und da er sich sein Taschengeld als Tennislehrer verdiente, war sie ihm zugewiesen worden. Er hatte gar nicht mitbekommen, dass sie Völlenklee hieß. Kühl und sachlich wie Mrs. Robinson beziehungsweise Anne Bancroft hatte sie ihn ins Bett geholt, und wehrlos wie Benjamin Braddock war er ihr gefolgt, bis zu diesem Abend noch Jungfrau. Da hatte der Gedanke, Leon eins auszuwischen, nicht die geringste Rolle gespielt, und dass die Ehe der Völlenklees in die Brüche gegangen war, hatte mit der Affäre wenig zu tun, die hatte alles höchstens ein wenig beschleunigt.
Sein Hass auf Leon Völlenklee und sein Krieg mit ihm erschien Narsdorf ebenso irrational wie der zwischen den Israelis und den Palästinensern. Man konnte sich das Leben nicht vorstellen, ohne sich zu bekämpfen und zu zerfleischen, der Friedensschluss galt als Selbstaufgabe. ›Ich hasse dich, also bin ich.‹ Nur das Streben, dich zu vernichten, gab meinem Leben Sinn.
»Zoologischer Garten!« Narsdorf brauchte einen Augenblick, um zu begreifen, dass damit Zoo gemeint war und er aussteigen musste. Er nahm den vorderen Ausgang, weil dort längst nicht so ein Gedränge war wie hinten, wo es zur U2 und zur S- und Regionalbahn ging, und kam an der Rückseite des Elefantenhauses ans Tageslicht. Viele Menschen huschten an ihm vorbei, und schmerzhaft wurde ihm bewusst, dass er keinen von ihnen persönlich kannte. Das verstärkte sein Gefühl, verloren zu sein. Niemand half ihm, gegen seinen Erpresser vorzugehen. Im Gegenteil, stand morgen in der Zeitung, dass er wegen dieser Erpressung seine Praxis schließen musste, freuten sich alle über diese schöne Story.
Obwohl er unzählige Male am Hardenbergplatz gewesen war, kam ihm die Gegend fremd vor, und für einen Augenblick zweifelte er daran, überhaupt in Berlin zu sein. Dann wieder glaubte er, im Traum nach der Gedächtniskirche zu suchen. Bei vielen seiner Patienten hatte es so begonnen, bevor sie zu ihm gekommen waren. Ein leichter Schwindel packte ihn, als er links abbog und den Breitscheidplatz vor sich hatte. Er überquerte die Budapester Straße an der nächsten Ampel und suchte auf den Bänken vor der Kirche nach Völlenklee. Seine Aufregung erinnerte ihn an ein Rendezvous. Sowie er an den Kinos im Zoo-Palast vorbeigekommen war und die Filmplakate gesehen hatte, dachte er: Rendezvous mit einem Parasiten. Völlenklee hatte nur 5.000 Euro gefordert, deshalb war anzunehmen, dass er sich eine Art Rente versprach, jeden Monat etwas.
Erst in diesem Moment fiel Narsdorf ein, dass er Mannhardt angerufen und ihn gebeten hatte, auch zur Gedächtniskirche zu kommen. Er brauchte einen Zeugen, aber auch jemanden, der ihm zu Hilfe eilen konnte, wenn es, bei wem auch immer, zu einem Gewaltausbruch kommen würde. Und richtig, der Kriminalbeamte a. D. stand an einem Aushang vor dem Kirchenneubau und studierte die kommenden Veranstaltungen der Kirchengemeinde. Narsdorf wurde um einiges ruhiger.
Völlenklee kam ihm vom Brunnen her entgegen. Wie in einem Western schritten sie aufeinander zu, und Narsdorf stellte sich vor, wie er schneller zog und den anderen erledigte. Die Mindestdistanz einhaltend, auf Armlänge also, blieben sie voreinander stehen. Narsdorf glaubte, dumpfe Trommelschläge zu hören.
»Hallo«, sagte Völlenklee.
»Hallo«, wiederholte Narsdorf und war erschrocken, wie Völlenklee aussah. Aufgedunsen und von mehliger Farbe war sein Gesicht. »Du bist es also wirklich.«
»Ich habe alle Trümpfe in der Hand«, sagte Völlenklee. »Jede Karte ein Ass. Wobei meine Karten das sind, was ich mir bei dir runtergeladen und ausgedruckt habe. Hier das, was Jöllenbeck zu Protokoll gegeben hat.«
»Danke.« Narsdorf nahm den Bogen, den Völlenklee ihm hinhielt.
»Und wo ist das Geld?«
»Hier.« Narsdorf griff in die Innentasche seines Jacketts und holte den Umschlag heraus, der angefüllt war mit Einhundert- und Zweihunderteuronoten.
»Danke.« Völlenklee ließ den Umschlag in seiner dunkelblauen Sommerjacke verschwinden, ohne nachgezählt zu haben.
»Und, wie soll es weitergehen?«, fragte Narsdorf.
»Lange. Ich werde deine Kreise nicht stören, lieber Hagen, denn niemand schlachtet das Huhn, das ihm goldene Eier legt. Keine Angst also.« Damit zog er ab in Richtung Wittenbergplatz.
Narsdorf stand da und fühlte sich wie nach einem Überfall. Nicht einmal anzeigen konnte er den Täter. Langsam folgte er Leon Völlenklee. Vielleicht ergab sich ja eine Chance, alles aufzuhalten. Vor dem KaDeWe blieb Völlenklee stehen, um ganz offensichtlich auf jemanden zu warten. Er musste nicht lange rätseln, auf wen, da aus dem Grenander’schen U-Bahntempel auf der Mitte des Platzes eine junge und durchaus attraktive Frau kam. Völlenklee begrüßte sie nicht nur winkend, sondern rief ihr auch, als die Ampel, die sie noch trennte, lange Zeit auf Rot stand, etwas zu, das Narsdorf deutlich verstand: »Hallo, Corinna, hat alles geklappt!« Dabei zeigte Völlenklee mit einer so schnellen Bewegung zu ihm hinüber, dass er sich nicht schnell genug wegdrehen konnte und Corinna nun wusste, wer sich hinter dem Namen Narsdorf verbarg.
*
Maik Bulkowski war Kugelstoßer und naturgemäß ein Hüne. Vor fast drei Jahrzehnten hatte er es bei den Welt- und Europameisterschaften bis in den Endkampf gebracht und eine Silber- und zwei Bronzemedaillen für die DDR gewonnen. Nach der Wende war er als Trainer untergekommen. Zu Narsdorf war er gegangen, weil er hemmungslos gedopt hatte und die Angst nun seine Seele krank machte, die Angst, zu erkranken, wie die Angst, dass alles publik wurde und er seine Medaillen abzugeben hatte und seinen Job verlor.
Als Narsdorf ihn auf einem Nebenplatz des Friedrich-Ludwig-Sportparks erblickte, musste er an die schrecklichen Szenen auf dem Schulhof und in seiner Straße zurückdenken, wenn ein Junge, der viel größer und viel stärker als er war, auf ihn zukam, um ihn zu verprügeln. Wenn Bulkowski wirklich zuschlug, landete er garantiert im Krankenhaus, möglicherweise auch auf dem Friedhof. Doch er musste es wagen, denn Bulkowski war die einzige Waffe, die er hatte, um das Duell mit Völlenklee am Ende zu gewinnen.
Bulkowski war gerade dabei, seine Zöglinge mit Schnellkraftübungen zu traktieren.
»Kraft gleich Masse mal Beschleunigung!«, rief er. »Physik, zehnte Klasse. Die Masse habt ihr alle, das mit der Beschleunigung üben wir jetzt. Wer sich nicht quälen kann, kommt nie über 20 Meter. Hopp!«
Narsdorf staunte, dass es immer noch Menschen gab, deren große Leidenschaft das Kugelstoßen war. Die Leichtathletik war doch derzeit out, obwohl die nächste Weltmeisterschaft in Berlin stattfinden sollte, und selbst wenn einer Olympiasieger im Kugelstoßen wurde, bekam er nur den Bruchteil des Geldes, den ein mittelmäßiger Bankdrücker bei Hertha BSC verdiente, außerdem würden die Medien sich nicht um ihn reißen. Jedoch was kümmerte das den, für den das Kugelstoßen passion and obsession war.
Als Bulkowski ihn erkannte, gönnte er seinen Jungs eine kleine Pause und kam auf Narsdorf zu.
»Was denn, Herr Doktor, ein Hausbesuch?« Narsdorf versuchte zu scherzen. »Nein, bei einem Hausbesuch müsste ich ja eine Couch auf dem Rücken haben.«
»Wieso?«
»Ach, nur so. Weil der alte Freud seine Patienten immer …« Narsdorf brach ab. Was sollte er das alles ausführen. »Nein, ich …« Nun schaffte er es doch nicht, ohne Vorbereitungen zur Sache zu kommen.
»Sie hatten bei mir angerufen, Herr Bulkowski, und um einen Termin außer der Reihe gebeten, und da ich gerade hier in der Gegend zu tun hatte …«
»Ja, danke, dass Sie …« Bulkowski ging mit ihm in eine Ecke des Platzes, wo ihnen garantiert niemand zuhören konnte. »Da ist nämlich etwas passiert, das mich …« Bulkowski zögerte. »Ich werde erpresst.«
Narsdorf tat erstaunt. »Warum das?«
»Wegen meinem Doping damals.«
»Verstehe«, murmelte Narsdorf und tat nichts, um seine Spontaneität zu unterdrücken. »Sie werden lachen: ich auch.«
Nun war es an Bulkowski, verblüfft zu sein. »Was denn, Sie auch?«
»Ja, ich auch.«
»Und warum Sie?«
Narsdorf zögerte, Bulkowski die Wahrheit zu sagen. »Weil … Weil ich mit einer Patientin eine Beziehung angefangen habe.« Das stimmte zwar nicht, klang aber logisch. Doch hatte es einen Sinn, Bulkowski anzulügen? Nein, da der spätestens wenn er auf Völlenklee traf, sowieso erfahren würde, was Sache war. Darum korrigierte er sich schnell. »Nein, da ist jemand, der mich erpresst, weil er Zugriff auf meine Festplatte hatte und …«
Bulkowski starrte Narsdorf an. »Dann habe ich Ihnen das alles zu verdanken!«
Narsdorf wich einen Schritt zurück. »Machen Sie nicht alles noch schlimmer, als es ist. Ich kann nichts dafür! Wir sitzen im selben Boot! Wenn Sie mich jetzt niederschlagen, können wir beide einpacken.« Bulkowski ließ die Fäuste wieder sinken. »Ist es wirklich derselbe?«
»Ja, hundertprozentig. Wer ist es bei Ihnen?«
»Keine Ahnung. Ich hab ja bisher nur einen Anruf bekommen, und da hat mir jemand gesagt, dass ich morgen zum Bahnhof Schönhauser Allee kommen und 1.000 Euro mitbringen soll. Sonst wird er die Presse und die Antidoping-Agentur informieren. Er hat auch mein Geständnis, sagt er.«
»Er hat das, was Sie mir erzählt haben«, sagte Narsdorf und war wieder auf der Hut.
Doch Bulkowski konnte sich beherrschen. »Und was nun?«
»Zur Polizei gehen können wir ja nicht, aber ich habe zwei Privatdetektive engagiert.« Damit meinte er Mannhardt und dessen Enkel. »Der Mann heißt Leon Völlenklee und ist ein … sagen wir: verkommenes Genie, einer der besten Hacker in Europa. Sonst hätte er nicht meine Firewalls überwinden können. Das Schlimme ist, dass er nichts zu verlieren hat. Fliegt er auf und wandert ins Gefängnis, dann wandert er eben ins Gefängnis. Im Gegenteil, er hat noch was davon, er kommt in die Presse und ist wer.«
Bulkowski hatte eine Kugel aufgehoben und ließ sie trotz ihres Gewichtes von sieben ein viertel Kilo wie einen Tennisball von der linken in die rechte Hand und zurück von der rechten in die linke Hand gleiten. »Er wird also nur Ruhe geben, wenn er …« Bulkowski warf die Kugel auf einen herumliegenden Ziegelstein und zertrümmerte ihn.
»Er wird sich abgesichert haben, und wenn ihm was passiert, läuft seine Freundin zur Polizei.«
»Aber Angst einjagen wird man ihm doch können«, sagte Bulkowski.
Narsdorf lächelte. »Genau deswegen bin ich ja hier. Sie spielen den Killer und dürfen ihm auch mal kräftig auf die Füße treten.«
Bulkowski grinste. »Liebend gern.«
»Wir müssen ihn einschüchtern und auf kleiner Flamme weichkochen, sodass er irgendwann von selbst aufhört. Anders geht es nicht.«