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Hansjürgen Mannhardt hatte von seinem Enkel zum Geburtstag eine Karte für das letzte Heimspiel von Hertha BSC geschenkt bekommen, und nun bestand Orlando auch darauf, dass er am Pfingstsonnabend mit ihm ins Olympiastadion fuhr. Doch Mannhardt hatte keine Lust dazu und maulte.

»Muss ich mir das antun? Das sind doch keine Fußball-, das sind alles Trauerspiele, was die abliefern. Eine Schande für einen Hauptstadtklub, wo die in der Tabelle stehen. Ich mag keine Loser.« Hertha enttäuschte ihn Jahr für Jahr, denn er wünschte sich nichts sehnlicher, als dass ›die alte Dame‹ noch einmal Deutscher Meister wurde. Seit 1931, als man 1860

München im Endspiel 3:2 geschlagen hatte, war das nicht mehr der Fall gewesen.

Allein die Anfahrt zum Stadion erschien ihm so beschwerlich wie nach dem Kriege eine Hamsterfahrt ins Havelland. Fuhr man mit dem eigenen Wagen, fand man keinen Parkplatz, und nahm man U- oder S-Bahn, traf man auf besoffene Fans, die grölten und mit Bierflaschen warfen.

»Am besten, wir sind drei Stunden vor Spielbeginn im Stadion und fahren erst zwei Stunden nach dem Anpfiff wieder weg«, sagte Orlando, als er Mannhardts Bedenken vernommen hatte. »Da solltest du gleich mal an Ort und Stelle mit Dr. Narsdorf drüber reden.«

Mannhardt staunte. »Wieso Dr. Narsdorf, ist der auch da, ist das der Mannschaftspsychiater von Hertha?«

»Nein, der reist sozusagen auf demselben Ticket wie wir beide, das heißt, unser Tennisverein hat drei Dauerkarten gekauft, und wer sich rechtzeitig anmeldet, kann zu Hertha gehen.«

Mannhardt gab sich geschlagen. »Gut, dann gehen wir, Masochismus soll ja was Schönes sein.«

»Treffen wir uns am Bahnhof Westkreuz?«, fragte

Orlando.

»Nein, ich bin doch nicht lebensmüde!«, rief Mannhardt. »Da stehen Tausende, Wände von Menschen, und bei der Drängelei wird man nur auf die Schienen gestoßen.«

»Ja, ich weiß, bei jedem Hertha-Spiel müssen sie die Leichen mit dem Radlader zur Seite schieben, damit die nächste S-Bahn durchkommt.«

Schließlich einigten sie sich, schon am Bahnhof Friedrichstraße, wo es längst nicht so voll war, in die S-Bahn zu steigen. Dorthin kam Mannhardt von Alt-Tegel aus in 20 Minuten mit der U6.

Und richtig, das Abenteuer Anreise nahm ein glückliches Ende, eine halbe Stunde vor Anpfiff des Spiels stand Mannhardt völlig unversehrt am Eingang des Olympiastadions. Man musste den Strichcode am Ende der Eintrittskarte in einen Automaten stecken, dann öffnete sich das Drehkreuz. Dahinter erwartete ihn ein Wachschutzmann, der ihn so sorgfältig abtastete, als würde er eine El-Al-Maschine nach Jerusalem besteigen wollen.

»Das ist schön, dass Sie mir in meinem hohen Alter so viel kriminelle Energie zutrauen«, sagte Mannhardt und musste daraufhin zur Strafe für seine Unbotmäßigkeit auch noch seine Schlüssel aus der Tasche holen, um nachzuweisen, dass sie kein Stilett waren. Schließlich saß er aber doch auf einem grauen Schalensitz im Block N, das war auf der sogenannten Gegentribüne. Links von ihm hatte Narsdorf Platz genommen, rechts sein Enkel. Entspannt ließ er die Bilder auf sich einwirken. Das Wetter war herrlich, Vorfreude erfüllte ihn. Ärgerlich waren nur die blaue Aschenbahn, widernatürlich für ihn, und das Dach, das aus dem weiten Rund des Stadions eine enge Halle machte. Ohne Deckel war die Schüssel schöner gewesen. Wenig erfreulich waren auch die beiden blau-weiß gekleideten Fans, die sich in die Reihe vor ihnen platzierten. Der eine trug einen Hut in Form eines Baumkuchens, der ihm die Sicht versperrte, der andere trank ein Bier nach dem anderen und schwitzte es postwendend wieder aus, worauf es anhaltend nach Kuhstall roch.

»Hach, ist der Rasen grün«, sagte Mannhardt.

»Und so schön gemustert.«

Hertha spielte gegen den 1. FC Nürnberg, und Mannhardt fragte erstaunt, warum die denn den Maxl Morlock nicht aufgestellt hätten.

»Wer ist Maxl Morlock?«, fragte sein Enkel.

»O Gott!«, rief Mannhardt. »Das ist ja so, als wenn du als Jurist nicht wüsstest, wer Savigny war.«

Als die Mannschaftsaufstellungen durchgegeben wurden, erreichte der Lärm Dezibelstärken, die Mannhardt zu seinen Ohrenstöpseln greifen ließen. Zwar war dadurch kein Small Talk mit seinen Nachbarn mehr möglich, es ersparte ihm aber gesundheitlichen Schaden.

Das Spiel begann, es begann vor sich hinzuplätschern. Für Hertha ging es um nichts mehr, und die Nürnberger hatten nicht so recht realisiert, dass sie eigentlich siegen mussten, um dem Abstieg zu entgehen. Vor einem Jahr waren sie hier im Olympiastadion Pokalsieger geworden und noch immer geblendet von ihrer eigenen Größe. Was Mannhardt in der ersten Halbzeit hinderte, wegzudösen, waren die Zwischenergebnisse der anderen Bundesligaspiele, die regelmäßig auf der Videowand erschienen. Immerhin hatte er jetzt Pantelić, den Serben, der bei Hertha ab und an für Tore sorgte, den langen Jan Koller, den Tschechen, und Charisteas, den griechischen EM-Helden des Jahres 2004, einmal live gesehen.

»Nun kann ich ja beruhigt sterben«, sagte er zu Orlando. Zuvor regte er sich noch darüber auf, dass die Millionarios unten auf dem Rasen nur Kümmerliches boten und die Fans wie der Stadionsprecher umso mehr lärmten, je weniger Fußballkunst und echte Spannung geboten wurden.

Als ihm sein linker Ohrenstöpsel herausfiel, hörte er Narsdorf sagen, dass er Serben in deutschen Mannschaften gar nicht gern sehen würde, weder bei Hertha noch bei den Basketballern von Alba Berlin. »Man kann nicht wissen, ob die nicht auch in Srebrenica dabei waren.«

Mannhardt konnte nichts antworten, weil in diesem Augenblick ein Nürnberger gefoult wurde, und als er den sterbenden Schwan spielte, brüllte ein Depp hinter ihnen: »Hubschraubereinsatz!«

Endlich kam der Halbzeitpfiff und Mannhardt nutzte die Gelegenheit, auf die Toilette zu eilen. Dort wurde es so spannend wie in den 45 Minuten zuvor nicht ein einziges Mal, da sein Pinkelbecken mit eklig gelbem Urin angefüllt war. Nun ging, während er blank gezogen hatte, plötzlich die Spülung an und spritzte ihm die Brühe an die Hose. Nicht nur das, auch sein Penis bekam etwas ab, und er infizierte sich mit Gonorrhöe und AIDS. Mindestens. So seine Horrorvision, doch nichts passierte, und die zweite Halbzeit wurde besser als die erste, was auch daran lag, dass der Torwart der Herthaner zum besten Mittelfeldspieler der Mannschaft avancierte, weil seine Abschläge alle Steilpässe waren und die Nürnberger in Gefahr gerieten, ein Tor zu kassieren. Ihre Fans, die einen Block neben dem Marathontor besetzt hatten, suchten sie mit wildem Kriegsgeschrei zu unterstützen. Der Einpeitscher wie die Frontmänner hatten die Oberkörper entblößt.

Dutzende von Ordnern in grellen gelben und orangefarbenen Westen standen mit dem Rücken zum Spielfeld und beobachteten das Geschehen auf den Rängen. Dass ja keiner zum Amoklauf über das halbe Spielfeld ansetzte oder Feuerwerkskörper zündete.

Endlich fiel das 1:0 für Hertha BSC, und Mannhardt nutzte die Chance, um aufzuspringen, die Arme hochzureißen und eine Runde Rückengymnastik einzulegen. Geschossen hatte das Tor ein Brasilianer namens Raffael. Deutsche gab es kaum auf dem Platz, der Schiedsrichter hieß Babak Rafati. Er fiel vor allem dadurch auf, dass er den Nürnbergern zumindest einen klaren Elfmeter verwehrte.

»Sonst hätten sie unentschieden gespielt«, sagte Orlando.

»Wer sagt denn, dass sie den Elfer verwandelt hätten«, gab Mannhardt zu bedenken, wissend, dass sich Fußballakademiker über diese Frage stundenlang streiten konnten.

Zum Schutze sensibler Zuschauer verzichtete man auf eine längere Nachspielzeit, und die Nürnberger waren trotz ihrer Niederlage noch nicht abgestiegen, weil Arminia Bielefeld im Spiel gegen Borussia Dortmund kurz vor Schluss das 2:2 kassiert hatte. Dennoch riefen die frustrierten Nürnberger Fans:

»Berlin ist Scheiße!«

»Ich kaufe dieses Jahr zu Weihnachten keine

Nürnberger Lebkuchen«, beschloss Mannhardt.

Auf dem steilen Anstieg zum Ausgang war Dr. Narsdorf neben ihnen und fragte sie, ob sie nicht gemeinsam etwas essen könnten.

»Ich möchte da noch etwas mit dir beziehungsweise Ihnen bereden.«

Er führte sie die Olympische Straße hinunter zu einem Italiener am Steubenplatz. Nachdem sie ein wenig über das Spiel geplaudert und ihre Bestellung aufgegeben hatten, kam er beim Aperitif zur Sache.

»Auf Orlando kann ich mich verlassen, das weiß ich seit Jahren, und Sie, Herr Mannhardt, waren ja ein Leben lang Kriminalbeamter … Sie schwören mir, keinem anderen etwas von dem zu erzählen, was ich Ihnen jetzt anvertrauen will … Mit der Bitte um Hilfe …«

Mannhardt zuckte zusammen. Kam jetzt das Geständnis, dass der Arzt und Psychiater jemanden ermordet hatte? »Ja, natürlich werde ich nicht … Ich bin ja nicht mehr im Dienst.« Trotzdem: Mitwisser einer Bluttat werden wollte er auch nicht.

Nachdem auch Orlando sein Schweigen zugesichert hatte, platzte Dr. Narsdorf damit heraus, dass er erpresst werde.

Fast hätte Mannhardt ausgerufen: Na, wenn es weiter nichts ist!, und gesagt, dass er für dieses Delikt nicht zuständig sei. Er konnte sich jedoch gerade noch bremsen und fragen, weshalb und von wem.

»Weshalb?« Dr. Narsdorf sah sich um und antwortete erst, als er sich vergewissert hatte, dass niemand mithören konnte. »Jemand ist auf meine Festplatte vorgedrungen und hat herausbekommen, wer bei mir wegen was in Behandlung ist. Kommt das heraus, ist das tödlich für mich, das heißt, ich kann meine Praxis schließen. Wer würde noch zu mir kommen, wenn er weiß, dass alles, was er mir anvertraut, am nächsten Tag in der Zeitung stehen kann?«

»Das ist ja weniger schön …« Mannhardt überlegte. »Sie wissen ja, dass auch der genialste Erpresser ein Problem hat, das so unlösbar ist wie die Quadratur des Kreises: Er muss bei der Übergabe des Geldes aus der Deckung hervorkommen – und in dem Moment kann man ihn schnappen.«

»Es sei denn, der Erpresser hat nichts zu verlieren. Ich kann aber alles verlieren, wenn die Sache öffentlich wird. In diesem Falle ist Diskretion alles, und ich kann auch in keinem Fall die Polizei einschalten. Das wäre Selbstmord für mich. Darum dachte ich ja auch, dass Orlando und Sie als eine Art Privatdetektiv die Sache für mich …?«

»Ich danke Ihnen für das Vertrauen in mich und meine Produkte«, sagte Mannhardt mit nicht allzu großer Begeisterung. »Aber …« Er besann sich. Es war immer gut, mit einem Mediziner befreundet zu sein: die Wartezeiten in den Praxen und Krankenhäusern verkürzten sich dadurch für einen Kassenpatienten mindestens um 90 Prozent. »Wie ist der Erpresser an Sie herangetreten?«

»Ich habe einen Brief bekommen und die Kopie einer Krankengeschichte.«

»War der Brief ganz normal ausgedruckt oder aus Zeitungsbuchstaben zusammengesetzt?«, fragte Orlando.

»Alles ganz normal ausgedruckt.«

»Und wessen Krankengeschichte war das?«, wollte

Mannhardt wissen.

Narsdorf senkte den Blick und starrte auf den Tisch. »Das möchte ich Ihnen nicht sagen.« Mannhardt reagierte darauf etwas unwirsch.

»Somit können wir kaum etwas für Sie tun.«

»Es war die von … von …« Narsdorf sprach um einiges leiser als zuvor. »Von Bernhard Jöllenbeck.« Mannhardt wäre fast aufgesprungen. »Der, der auf dem U-Bahnhof Bayerischer Platz?«

»Ja. Und keiner weiß bis jetzt, ob es nicht doch ein Suizid war. Selbstmord, weil er auch schon erpresst worden ist.«

Mannhardt stöhnte anhaltend. »O Gott, das kann ja heiter werden! Hat der Täter auch die Adressen Ihrer Patienten oder nur ihre Krankengeschichten?«

»Er hat nur meine Notizen, also das, was man früher ins Diktiergerät gesprochen hat und heute schnell selbst in den Computer tippt. Nur den Namen und das Leiden, die Adresse nicht.«

»Dann wird er nach E-Mail-Adressen suchen müssen«, sagte Orlando.

»Oder die Leute direkt aufsuchen«, fügte Mannhardt hinzu. »Das wird ihn einige Zeit kosten. Von Ihnen selbst hat er noch kein Geld haben wollen?«

»Nein, bisher nicht.«

»Und Sie wissen, wer das ist?«

»Ja …« Narsdorf wartete, bis sich der Kellner, der ihnen gerade die Salate brachte, wieder entfernt hatte.

»Ich glaube, dass es mein alter Intimfeind ist, Leon Völlenklee.«

 

*

 

Mannhardt und Orlando schlichen in Heikes Kleinwagen durch die Dieffenbachstraße und suchten das Mietshaus, in dem Leon Völlenklee wohnen sollte. Der Hausnummer nach musste es zwischen der Graefe- und der Grimmstraße sein, von der sie kamen. An beiden Ecken gab es ein Restaurant, das eine hieß Rizz, der Namenszug des anderen war nicht so recht zu entziffern: Powolly oder so ähnlich. Ihre Köpfe gingen in schneller Folge nach links und rechts. Eine Bilderrahmung war auszumachen, eine KiezBlüte, ein Ron Telsky, der Canadian Pizza verkaufte, eine Schule in wilhelminischem Backsteinrot, mehrere Läden: back.art, Fisch & Feinkost, Bücher, Künstlerbedarf, und noch ein Restaurant, eines mit dem Namen Honigstein.

»Da ist es!«, rief Orlando.

Sie kurvten eine Weile ums Karree herum, bis sie endlich einen Parkplatz gefunden hatten, und warteten darauf, dass Völlenklee aus dem Haus kam. Dabei hielt Mannhardt ein Foto in der Hand, das jemand bei der Beerdigung von Henning Hanke, Klassenkamerad von Völlenklee und Narsdorf, gemacht hatte. Sie waren hier, weil sie hofften, dass sich Völlenklee auf den Weg zu einem seiner Opfer machen würde. Traf er sich zur Geldübergabe mit einem von Narsdorfs Patienten, wussten sie wenigstens, dass der Arzt mit seiner Annahme recht hatte. Und danach? So intensiv sie über eine geeignete Strategie nachdachten, sie kamen nicht weiter.

»Was soll man machen, wenn der Erpresste aus einsichtigen Gründen nicht bereit ist, zur Polizei zu gehen?«, fragte Orlando.

»Dann bleibt nichts anderes übrig, als den Erpresser umzubringen«, antwortete Mannhardt. »Aber dabei dürfte es nicht so leicht sein, einen perfekten Mord zu begehen, da der Erpresser zu Hause mit Sicherheit all seine Opfer aufgelistet hat, damit jede Mordkommission leichtes Spiel hat.«

»Also ist der Erpresste machtlos, wenn er auf alle Fälle vermeiden muss, dass die Öffentlichkeit etwas von der Erpressung erfährt?« Es war ein Gedanke, der Orlando als künftigen Juristen und womöglich als zukünftigen Staatsanwalt zutiefst empörte.

Mannhardt nickte. »Ja, ist er. Er kann den anderen nur zur Strecke bringen, wenn er sich selbst opfert. Nehmen wir an, einer von Narsdorfs Patienten ist Krankenpfleger und leidet unter der zwanghaften Vorstellung, einem frisch Operierten auf der Intensivstation die Schläuche kappen zu müssen, dann kann er sich, hat er seinen Erpresser auffliegen lassen, auf ein Leben als Dauerarbeitsloser einrichten.«

»Wer es auch immer ist, der Narsdorf-Erpresser ist eine … unwissenschaftlich gesagt: große Drecksau und gehört in den Knast!«, rief Orlando.

Mannhardt griff in eine seiner Schubladen. »Theorie der Rechtfertigungstechniken von Sykes und Matza: Er wird sagen, wie du mir so ich dir, und ich zahle dir nur zurück, was du mir angetan hast. Wobei sein Opfer auch stellvertretend für andere oder die ganze Gesellschaft stehen kann.«

Orlando fasste ihre Diskussion zusammen.

»Solange Narsdorf keinen anderen Beruf ergreifen will, zumindest, solange er seine Praxis nicht aufgeben will, die ja eine Goldgrube ist, kann er gegen seinen Erpresser nichts machen?«

Mannhardt lachte bitter. »Nein, nur zahlen und hoffen, dass der andere bei einem Wohnungsbrand ums Leben kommt, und bei dem zusätzlich auch alle Papiere und Festplatten verbrennen.«

»Das heißt, wir haben auch auf Narsdorf zu achten, dass er der Versuchung widersteht, den Brand selbst zu legen … wenn der Erpresser schläft.«

»So ist es.« Damit gab sich Mannhardt seinem Mittagsschläfchen hin, während sein Enkel den Hauseingang im Auge behielt und dabei Zeitung las und das Gelesene gleichzeitig murmelnd kommentierte.

»Erdbeben in China … Nur gut, dass die Olympischen Spiele noch nicht angefangen haben. Venezuela: Hugo Chávez bezeichnet Angela Merkel als Nachfahrin Adolf Hitlers … Welche Vene ist denn bei dem zu, wahrscheinlich die zum Gehirn. Mensch, da kommt er!«

Mannhardt schreckte hoch. »Wer? Hugo Chávez?«

»Nein, der Leon Völlenklee. Das ist er!«

»Na, endlich. Dann folgen wir mal errötend seinen Spuren.«

»Im Wagen oder zu Fuß?«, fragte Orlando. »Du bist der Fachmann.«

»Danke, aber …« Mannhardt zögerte mit einer Entscheidung. »Wenn er mit der U-Bahn fährt, wäre es nicht sehr klug, ihm im Wagen zu folgen, es sei denn, du gehst vorher zu ihm hin und legst ihm eine elektronische Fußfessel an.«

»Was man von älteren Menschen nicht alles lernen kann«, brummte Orlando.

»Es sieht ganz so aus, als würde er kein Auto haben, sondern zur U-Bahn gehen, Südstern wahrscheinlich. Ihm nach.« Mannhardt hievte sich aus dem Wagen. Da Völlenklee sie beide nicht kannte, brauchten sie sich bei seiner Observation nicht sonderlich anzustrengen. Völlenklee überquerte die Urbanstraße, ging die Körtestraße Richtung Südstern hinunter und verschwand in der Tat in der Eingangshalle der U-Bahn. Sie mussten sich beeilen, um nicht den Anschluss zu verlieren. Da der Bahnhof Südstern gerade renoviert wurde und die Züge in Richtung Rathaus Spandau nicht hielten, konnte Völlenklee nur stadtauswärts fahren wollen. Es war nicht schwer, ihn zu entdecken.

Während sie auf den Zug nach Rudow warteten, fragte Mannhardt seinen Enkel, ob der wüsste, welche Namen dieser Bahnhof getragen habe.

»Nein. Aber ich kann ja mal raten: Hasenheide vielleicht?«

»Richtig! Der Kandidat hat 100 Punkte. Aber nicht nur Hasenheide, sondern auch noch Kaiser-Friedrich-Platz und Gardepionierplatz. Südstern ist der vierte Name.«

Der Zug kam, und sie schafften es, im selben Wagen wie Völlenklee Platz zu finden. Er fuhr das ganze ewige Ende bis Rudow und stieg dort in den Bus zum Flughafen Schönefeld um.

»Vielleicht hat er schon irgendwo kräftig abkassiert und will sich nun in die äußere Mongolei absetzen«, sagte Mannhardt.

Völlenklee machte jedoch nirgendwo Anstalten, einzuchecken, er streifte nur durch die Hallen und hielt Ausschau nach … Ja, wonach? Mannhardt und Orlando kamen nicht darauf. Wollte er jemanden abholen? Nein, da wäre er an einem ganz bestimmten Ausgang stehen geblieben. Einmal folgte er einer Gruppe von Stewardessen, musste allerdings zurückbleiben, als die im Personalbereich verschwanden.

»Er wird doch nicht etwa auch eine Stewardess erpressen wollen«, sagte Mannhardt. »Was soll bei einer Serviererin der Lüfte schon zu holen sein?«

Orlando verlor langsam die Lust an der Sache.

»Vielleicht ist er gar nicht deswegen hier, vielleicht ist er gar nicht der, der es auf Narsdorf abgesehen hat?«

Völlenklee war inzwischen vor der großen Tafel stehen geblieben, auf der die ankommenden Flüge angezeigt wurden. Lange studierte er das, was da an Zeiten, Flugzielen und Airlines zu finden war, dann nahm er seine Wanderung durch die Terminals wieder auf. Die nächste halbe Stunde verging, ohne dass etwas Besonderes geschah.

»Üben wir weiter«, sagte Mannhardt.

Sein Enkel konnte ihm nicht folgen. »Was sollen wir üben?«

»Na, uns in Geduld.«

Nach weiteren zehn Minuten schienen sie belohnt zu werden, denn Völlenklee verstellte zwei Piloten, die gerade ihren Dienst antreten wollten, den Weg, um sie etwas zu fragen. Die beiden schüttelten jedoch nur den Kopf und gingen weiter.

»Geh du hinter Völlenklee her«, sagte Mannhardt zu seinem Enkel. »Ich folge den beiden Piloten und frage sie, was Völlenklee von ihnen wissen wollte.« Schnell hatte er die beiden Männer eingeholt und suchte, sie für einen Moment aufzuhalten.

»Pardon, kann ich Sie mal kurz fragen, was der Herr eben …?«

Die Piloten gingen weiter, als sei er Luft für sie. Möglicherweise verstanden sie kein Deutsch. Er versuchte es auf Englisch, doch auch da reagierten sie nicht.

»Arschlöcher«, murmelte Mannhardt und musste all seine Impulskontrolle bemühen, um den beiden nicht in den Hintern zu treten. Was blieb ihm, als umzukehren und nach Orlando Ausschau zu halten. Da stand er, am Zeitungskiosk.

»Na, Opa?«

»Nichts.« Mannhardt fluchte noch einmal. »Aber die Tatsache, dass er die beiden angesprochen hat, könnte darauf hindeuten, dass er auf der Suche nach einem Piloten ist, von dem er zwar den Namen, den Beruf und die Krankengeschichte hat, aber keine Adresse.«

Orlando nickte. »Ja, das sehe ich auch so. Was bleibt ihm anderes übrig, als die Leute live zu erwischen.«

Während sie diese Worte wechselten, war Völlenklee zur Bushaltestelle gegangen und in den 171er gestiegen.

»Wenn wir auch einsteigen, wird er uns bemerken und Verdacht schöpfen«, sagte Mannhardt. »Am besten, wir setzen uns in eine Taxe und lassen uns zum U-Bahnhof Rudow fahren. Vermutlich wird er da in den Zug umsteigen. Wenn nicht, haben wir Pech gehabt.«

Sie hatten Glück und folgten Völlenklee hinunter in die U-Bahn. Hier war so viel Betrieb, dass sie keine Angst haben mussten, ihm irgendwie aufzufallen. Sie nahmen an, dass er in seine Wohnung zurückkehren wollte, schauten allerdings vorsichtshalber an jedem Bahnhof abwechselnd aus der Tür, ob er nicht vorher aussteigen würde. Und richtig, bereits an der Johannisthaler Chaussee verließ Völlenklee den Zug und fuhr mit der Rolltreppe in die Gropius Passagen hinauf.

»Warum will er hier einkaufen und nicht bei sich vor der Tür?«, fragte Mannhardt.

»Weil es hier sicherlich billiger ist?«, antwortete Orlando.

Mannhardt schüttelte den Kopf. »Billiger als bei Karstadt am Hermannplatz glaube ich nicht.«

»Vielleicht ist einer der Händler hier im Einkaufscenter eines seiner potenziellen Opfer«, sagte Orlando.

Wieder war Mannhardt anderer Meinung. »Ach, das sind ohnehin alles Ketten, und die Verkäuferinnen kriegen alle nur ihren Mindestlohn, da ist doch nichts zu holen.«

»Vielleicht aber bei der da.« Orlando zeigte auf die kleine Bühne, die auf der Plaza vor der Buchhandlung SoSch aufgebaut war. »Kennst du die singende Moderatorin da?«

»Nein, leider nicht.«

»Das ist Millie Malorny«, verriet ihm Orlando.

»Nie gehört.«

»Kein Wunder bei den Sendern, die du nicht einschaltest, und den Zeitschriften, die du nicht liest.« Sein Enkel zählte sie ihm alle auf. »Du gehörst eben nicht zur Generation Doof. Die kennt Millie Malorny, die liebt Millie Malorny.«

Als die lebende Barbie-Puppe nun von der Bühne stieg, um Autogramme zu geben, strömten Hunderte von Teenies herbei. Doch ganz vorne in der Schlange stand Leon Völlenklee.

»Zufall oder erste Kontaktaufnahme mit seinem Opfer?«, fragte Mannhardt.

»Wir sollten die Dame auf alle Fälle im Auge behalten.«