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Nicole Leckscheidt war froh, dass endlich Halbzeit war. Sie selbst interessierte sich kaum für Fußball, hatte dahingegen als Millie Malorny ständig Statements abzugeben, dass sie ›unsere Jungs‹ total verehrte und durch die Bank geil fand. Gleich nachdem ihr Corinna den Erpresserbrief in die Hand gedrückt hatte, war sie zu Steve, ihrem Manager, gefahren, der jedoch viele Gäste zum Deutschland-Spiel eingeladen hatte und erst jetzt Zeit für sie fand. Er wohnte in einem Loft am Spreeufer und war mit ihr ins Schlafzimmer gegangen, wo man ungestört miteinander reden konnte.
Sie reichte ihm den Ausdruck ihrer Krankengeschichte hinüber. »Hast du alles gelesen?«
Steve nickte. »Was meinst du, was mit dir los wäre, wenn du Kunstgeschichte studiert hättest oder Anglistik? Meinst du, du hättest keine Probleme im Museum oder als Lehrerin? Wenn du überhaupt eine Stelle bekommen hättest, was zu bezweifeln ist.«
»Ich wollte Jura studieren und Richterin werden«, wandte sie ein.
»Da wärst du mit Sicherheit auch bei Narsdorf gelandet, aber mit Hartz IV und nicht mit Aussicht auf einen Platz in den Charts und Zehntausenden Euros auf dem Konto.« Er begann das Lied zu singen, von dem er annahm, dass es Millie Malorny endlich ganz weit nach vorne bringen würde. »Siehst du einen Mann, und er blickt dich nicht an – gib nicht auf, du wirst es schaffen! Willst du ein großer Star sein, und die Jury sagt dir: Nein – gib nicht auf, du wirst es schaffen!«
»Ich bin nicht meine Zielgruppe«, sagte sie und schwieg.
Unten auf der Spree zogen Schiffe vorbei, die Leute auf dem Deck schienen allesamt glücklich zu sein. Nur sie war es nicht. Weil sie auf dem falschen Dampfer saß. Mit dem vielen Geld auf dem Konto wurde es zudem nichts, falls sie den Erpressern regelmäßig etwas überweisen musste.
»Du bist nicht deine Zielgruppe«, wiederholte Steve. »Aber deine Zielgruppe kann dir goldene Eier legen. In fünf Jahren hast du so viel Geld beisammen, dass du 20 Semester Jura studieren kannst.«
»Bis dahin bin ich eine Art Prostituierte.«
Steve lachte. »Was du von deinen Verehrern in die Hand nehmen musst, ist nur ihr Kugelschreiber – zum Autogramme schreiben – und nicht ihr Ding.«
»Komm, das ist nicht mein Niveau.«
»Nein, Frau Leckscheidt, ich weiß.«
Sie starrte weiter auf den Fluss hinunter. »Sollen wir nun zahlen oder nicht?«
»Nein, wir zahlen nicht, wir treten die Flucht nach vorne an.«
Nicole Leckscheidt runzelte die Stirn. »Du willst Völlenklee und seine Freundin doch nicht etwa …?«
»Zur Strecke bringen? Klar will ich das. Aber nicht mit dem Messer oder dem Revolver, sondern mit Hilfe unserer Medien.«
»Wie das?«
»Indem ich meine Kontakte nutze. Wir geben es an die Presseagenturen weiter, dass du erpresst wirst, und ich sorge dafür, dass jemand für viel Geld die Exklusivrechte bekommt.«
»Ich will nicht, dass das ausgeschlachtet wird!«, rief Nicole Leckscheidt und zerriss ihre Krankengeschichte.
Steve legte ihr den Arm um die Schultern. »Du kommst auf die Titelseiten von BILD und B. Z., du kommst in den Stern, den SPIEGEL und in zig Talkshows. Das wird der ganz große Durchbruch für dich. Gib nicht auf, du wirst es schaffen!«
Sie machte sich von ihm los und war nahe daran, die Contenance zu verlieren. »Sollen denn alle wissen, dass ich ’ne Macke habe?«
»Ja, sollen sie. Dann werden noch mehr deine Platten kaufen. Denk an Amy Winehouse und an meinen alten Spruch: ›Banal ist schal.‹ Die Medien machen die Leute groß, um sie anschließend auszuschlachten. Elend und Absturz sind immer gut. Jeder kann sich in dich hineinversetzen. Empathie und Mitleid sind immer gut. Wer eine CD von dir oder dein neuestes Album kauft, zeigt den anderen nicht nur, dass er weiß, was gerade angesagt ist, er will dir auch helfen. Wenn er sich mit dir vollkommen identifiziert, dann tut er auch etwas für sich, wenn er dir hilft.«
Nicole Leckscheidt bückte sich, um ihre zerrissene Krankengeschichte wieder aufzuheben und die einzelnen Teile zusammenzusetzen. »Hier: ›… hasst das Publikum, möchte herausschreien, dass sie alle für Idioten hält, die ihr zuhören, und fürchtet, dass ihr Zorn einmal so groß werden könnte, dass sie mit einem Messer auf die einsticht, die ihr zujubeln.‹ Soll das publik werden? Das ist doch tödlich für mich!«
Steve versuchte abzuwiegeln. »Natürlich müssen wir verhindern, dass die ganze Krankengeschichte irgendwo abgedruckt wird. Das schaffen wir nur, indem wir auf den Datenschutz pochen und mit Klagen drohen. Worauf die Journalisten abheben sollen, ist das, was dich sympathisch macht – wie das …« Er bückte sich, um den Rest der zerrissenen Krankengeschichte vom Boden aufzuheben. »Das mit der Borderline-Persönlichkeit kann bleiben, das finden alle interessant, und das hier: ›Mit den durchweg vernichtenden Kritiken der Redakteure kann sie nicht leben und zeigt zunehmend Symptome des Verfolgungswahns. Dinge und Menschen werden ihr unheimlich (»Die Wände in meiner eigenen Wohnung wollen mich fressen!«). Alle tun ihr Unrecht an, sie sieht sich als Opfer.‹ Das klingt gut, und alle werden dich verteidigen.«
Nicole Leckscheidt zögerte weiterhin. »Ich weiß nicht so recht …«
Steve blickte auf die Uhr. »Gleich fängt die zweite Halbzeit an, du musst dich irgendwann entscheiden.«