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Mannhardt und sein Enkel waren auf dem Weg zum Flugplatz Tegel. Heike, Mannhardts Lebensgefährtin, war Journalistin und hatte nicht nur herausbekommen, bei welcher Fluggesellschaft Sören Fröttstädt angestellt war, sondern auch, wann er an diesem Tag in Berlin landen würde.
»Den Seinen gibt’s der Herr im Beischlafe«, sagte Mannhardt, denn während eines solchen war Heike eingefallen, wen sie wegen des Piloten einmal ansprechen konnte.
Orlando war es peinlich, seinen Großvater über Sex reden zu hören, und so ging er schnell zu einem anderen Thema über. »Eigentlich sind wir doch alle erpressbar, irgendetwas haben wir alle zu verbergen und denken mit Schrecken daran, dass es in die Öffentlichkeit gelangen könnte.«
Mannhardt lachte. »Klar, sonst gäbe es nicht so ein großes Wehgeschrei im Hinblick auf den Datenschutz, den alle immer verletzt sehen, selbst wenn irgendwo jemand eine Bombe bastelt. Stell dir vor, einer unserer Spitzenpolitiker leidet unter Inkontinenz und muss ständig Windeln tragen.« Er nannte einige Namen, und beide kriegten sich gar nicht mehr ein vor Heiterkeit. »Früher war das anders: Friedrich der Große hat mit seinem Kammerdiener Fredersdorf ganz ungeniert über seine Hämorrhoiden geplaudert.«
»Da gab’s aber auch noch keine Boulevardpresse und keine Freude an öffentlichen Schlachtfesten, dafür harte Strafen im Hinblick auf Majestätsbeleidigung.«
Dieses Gespräch führten sie im TXL-Bus, den sie der Fahrt im eigenen Pkw vorgezogen hatten, um sich die Irrwege in den Parkhäusern zu ersparen.
Mannhardt gähnte. »Warum so viele Kinder davon träumen, Detektiv zu werden, das ist eigentlich Langeweile hoch zwei. Gemessen jedenfalls an dem, was wir in der Mordkommission alles erlebt haben.«
»Wer weiß, wo ich mal lande«, sagte Orlando.
»Richter, Staatsanwalt, Rechtsanwalt? Vielleicht in einer Einmann-Kanzlei für Arbeitsrecht.«
»Deine Generation hat es mit Sicherheit schwerer als meine«, sagte Mannhardt. »Auf was sollt ihr euch eigentlich freuen? Alles wird ja doch immer schlechter. Wir nach dem Krieg dagegen wussten, dass alles immer nur besser werden konnte. Ist es ja auch.«
»Und heute ist für viele das Leben so leer, dass sie andere erpressen, weil sie sonst ins absolute Nichts abstürzen würden.« Anschließend summte Orlando das Sesamstraßen-Lied. »Wozu habt ihr Kopf und Hände, denkt euch selbst mal was aus.«
»Was ja Völlenklee und seine Partnerin auch getan haben«, sagte Mannhardt.
»Wie immer: Das Fernsehen ist schuld an allem.«
»Ich ärgere mich in meinen Lehrveranstaltungen immer, wenn mir die Studenten mit dieser These kommen, und frage sie dann, warum es die größten Verbrechen der Menschheitsgeschichte vor der Erfindung beziehungsweise der Einführung des Fernsehens gegeben hat, zum Beispiel das massenhafte Abschlachten und Töten von Menschen bei den Kreuzzügen, während des Dreißigjährigen Krieges, bei der Eroberung Amerikas und in den beiden Weltkriegen. Man vergesse nicht die Hexenverbrennungen und die KZs. Dazu siehe Dresden, Hiroshima, Nagasaki und Sibirien.«
Nach dieser Exkursion in die Weltgeschichte erreichten sie den Flughafen und stiegen aus dem Bus. Die Tage von Tegel waren gezählt, und Mannhardt bedauerte das nicht nur wegen seiner nostalgischen Gefühle, sondern auch, weil er Tegel mit seinem Rundbau für ein geniales Bauwerk hielt, allen anderen Airports überlegen.
Alles, was mit dem Luftverkehr zusammenhing, unterlag ja der Geheimhaltung, jedoch hatte Heike herausgefunden, aus welchem Ausgang Fröttstädt kommen musste. In dessen Nähe ließen sich Mannhardt und sein Enkel nieder, um zu warten. Ein Foto des Piloten hatten sie nicht, aber eine ungefähre Personenbeschreibung aus Heikes Quelle: Er habe eine gewisse Ähnlichkeit mit dem Regierenden Bürgermeister.
Die Piloten, die aus der Schiebetür kamen, machten in ihren durchweg dunkelblauen Uniformen alle unglaublich was her. Ein Kapitän, gleich ob auf den Meeren oder in den Lüften, hatte in dieser Kultur noch immer einen hohen Stellenwert.
»Zudem verdienen sie ja auch eine ganze Menge«, sagte Orlando, als er mit Mannhardt über die Gründe dieser Wertschätzung sprach.
»Dazu kommt, dass sie sozusagen Herren über Leben und Tod sind«, fügte Mannhardt hinzu. »Wie die Ärzte. Eine falsche Entscheidung – und es kann mit uns aus sein. Werden in anderen Berufen Fehler gemacht, passiert gar nichts beziehungsweise die Leute lachen noch darüber.«
»Warum habe ich nie Pilot werden wollen?«, fragte Orlando.
Mannhardt grinste. »Weil du als Kind immer schlechte Erfahrungen mit dem Fliegen gemacht hast.«
»Wie das?«
»Na, wenn du geflogen bist, dann immer nur auf die Schnauze.«
»Zum Glück nie von der Schule!«, glaubte Orlando festhalten zu müssen.
»Achtung!«, flüsterte Mannhardt. »Das müsste er sein.«
Fröttstädt kam aus der Tür, allerdings mit dem Kopiloten an seiner Seite. Mannhardt und Orlando fluchten leise vor sich hin, da sie ihn in dessen Gegenwart nicht ansprechen konnten. Zum Glück für Großvater und Enkel verabschiedeten sich die beiden, woraufhin sie auf Fröttstädt zugingen.
»Entschuldigung, Herr Fröttstädt?« Mannhardt lächelte so gewinnend wie möglich.
»Ja«, kam es schroff.
»Wir sind hier, um Ihnen zu helfen.«
»Zeugen Jehovas oder was?«
»Nein, Mannhardt mein Name, ich war einmal bei der Kriminalpolizei, jetzt bin ich pensioniert und eine Art Privatdetektiv … Das ist mein Enkel, ein Jurastudent.«
Fröttstädt sah über sie hinweg. »Und was hat das mit mir zu tun?«
»Wir wissen, dass Sie erpresst werden.«
»Unsinn! Lassen Sie mich in Ruhe!« Damit stieß er Orlando beiseite und enteilte in die Bereiche des Flughafens, die Betriebsfremde nicht betreten durften.
*
Der Student warf mit seinem Beamer ein Bild an die Wand, das einen DIN-A4-Bogen im Querformat zeigte. Darauf war mit bunten Buchstaben, mal einzeln, mal als ganzes Wort, ein kurzer Text aufgeklebt: ›Die Teletubbies befinden sich in Meiner gewalt! Wenn Ihr sie lebend wiedersehen wollt folgt genau Meinen Anweisungen. Keine POLiZei oder PRESSE Sonst … † Ich melde mich wieder.‹
»Der extrem gewalttätige und international gesuchte Top-Terrorist Osama Bin Morsix hat die Teletubbies entführt und eine hohe Lösegeldforderung gestellt. Um zu verhindern, dass die Polizei ihn fasst, hat er eine Bedingung für die Lösegeldübergabe gestellt: Das Lösegeld darf nur von jemandem überbracht werden, der die Teletubbies wirklich furchtbar lieb hat.«
Sein Student hatte das im Internet entdeckt, und Mannhardt fand auch, dass es gut zum Thema des Referates passte, das da lautete: ›Die Verniedlichung des Verbrechens in den heutigen Medien.‹
Der Student bekam die Note 1,5, und Mannhardt nutzte den Rest der Stunde, um kurz auf wirkliche Erpressungen und die Schwierigkeiten der Lösegeldübergabe zu sprechen zu kommen. Dazu hatte er sich aus dem Internet den Beitrag ›Dagobert und seine Brüder‹ aus dem SPIEGEL special 05/1996 ausgedruckt.
»›Wer immer in der Vergangenheit als Erpresser oder Entführer über Nacht reich werden wollte, sah sich vor dasselbe Problem gestellt: Wie kann der Täter verhindern, daß sich just beim Griff nach den gebündelten Scheinen die Handschellen – klick – um seine Handgelenke schließen?‹«, zitierte er und sah sich fragend in der Runde um. »Na?«
»Man muss sich das Geld elektronisch überweisen lassen«, kam die erste Antwort. »Alles muss bargeldlos ablaufen.«
»Ja, okay, doch unsere Spezialisten können ganz genau herausfinden, auf welches Konto das Geld geflossen ist, und dementsprechend zuschlagen. Gibt es folglich die perfekte Erpressung?«
Die angehenden Kriminalbeamtinnen und -beamten dachten nach. Schließlich hatte eine junge Dame eine Idee. »Man erpresst jemanden, das heißt, man zwingt ihn, etwas Bestimmtes zu tun oder zu lassen, ohne dass man dafür Geld haben will.«
»Zum Beispiel?«
»Na, dieser Jöllenbeck vom Bahnhof Bayerischer Platz. Eine Freundin von mir hat mal in seiner Kanzlei gearbeitet, und die hat mir erzählt, dass er pädophile Neigungen gehabt haben soll. Kommt das raus, wählt ihn niemand.«
»Niemand nicht!«, kam es aus den hinteren Reihen. »Die Päderasten wählen ihn alle.«
Mannhardt wartete, bis das Lachen verstummt war. »Und weiter, was kann man sonst von ihm wollen, wenn es kein Geld sein soll?«
»Dass er sich aus dem politischen Leben zurückzieht.«
»Gut. Aber bleiben wir beim Lösegeld. In welchem Fall könnte es der Erpresser gefahrlos in Empfang nehmen?« Da gab es gleich drei Wortmeldungen. »Ja, da hinten links.«
»Der Erpresste muss wahnsinnige Angst davor haben, dass herauskommt, warum er erpresst wird. Wenn also einer bei seiner Bank 100.000 Euro unterschlagen hat und in den Knast wandern würde.«
»Richtig, der Erpresste muss etwas zu verbergen haben, was auch immer, beziehungsweise zu einer Berufsgruppe gehören, bei der es sozusagen tödlich ist, wenn herauskommt, dass man eine – ich will es einmal salopp sagen – ganz bestimmte Macke hat.«
»Ja«, rief einer. »Wenn der Chef der Stadtreinigung heimlich Koprophage ist.«
*
Der Bundesplatz in Wilmersdorf, bis 1950 bekannt als Kaiserplatz, konnte nicht gerade als Oase in der Großstadt bezeichnet werden, dazu war der Verkehr an der Kreuzung der Bundesallee mit der Wexstraße beziehungsweise der Detmolder Straße trotz des Tunnels in der Nord-Süd-Richtung doch zu stark. Jedoch konnte man immerhin in den Restaurants, die auch draußen servierten, vergleichsweise gemütlich im Grünen sitzen und essen. Beim Treffen der Herren Dr. Narsdorf, Hansjürgen Mannhardt und Orlando Drewisch ging es allerdings nicht ganz so gemütlich zu, wie ein Außenstehender anhand der vermeintlichen Idylle hätte denken können.
»Ich bin bald selbst reif für eine Therapie, wenn das so weitergehen sollte«, sagte der Arzt und Psychiater.
Mannhardt verkniff sich eine passende Bemerkung und schlug erst einmal die Speisekarte auf. »Spargel ist zu dieser Jahreszeit ein absolutes Muss. Wie heißt es doch immer: Königliches Gemüse, Frühlingsluft in Stangen, essbares Elfenbein.«
Orlando sah Dr. Narsdorf an. »Ist Spargel wirklich so gesund?«
»Der Asparagus – ja. Außer für Triebtäter und für Leute mit einer gewissen Neigung zur Gicht, wegen des hohen Gehaltes an Purin.«
»Ah ja. Und warum nicht für Triebtäter?«
»Früher stand in Apothekenbüchern der Satz: ›Spargel in der Speise genossen, bringt lustige Begier den Männlein.‹ Und schon in der Antike sagte man dem Spargel in dieser Hinsicht wundersame Kräfte nach, junge Römer haben sich den Spargel als Liebesamulett um den Hals gehängt.«
Mannhardt schielte zu den dünnen Spargelstangen hinüber, die das junge Paar am Nebentisch auf den Tellern liegen hatte. »Ich weiß nicht: der Spargel als Phallussymbol? Männer mit dieser mäßigen Ausstattung sollten sich schleunigst zu Ihnen in die Therapie begeben.«
Orlando konnte nur mit Mühe ein Grinsen unterdrücken. »Aber nicht, wenn sie im Internet nach einer Partnerin suchen.«
»Wieso?«, fragte Narsdorf – und schlug sich daraufhin mit der flachen Hand gegen die Stirn. »Klar! Wer den Schaden hat, Stichwort: Völlenklee.«
Bevor sie zum Thema Erpressung kommen konnten, waren die Bestellungen aufzugeben. Anschließend fasste Mannhardt zusammen, was sie bisher herausgebracht hatten: »Dr. Mägdesprung, der Chirurg, und Sören Fröttstädt, der Pilot, werden mit Sicherheit von Völlenklee erpresst, obwohl sie es mit Nachdruck abstreiten. Wir hoffen nur, dass die beiden wirklich Ihre Patienten sind?«
»Ja, sind sie. Und weiter?«
»Bei Jöllenbeck wissen wir es nicht und bei der
Sängerin Millie Malorny vermuten wir es.«
»Gut«, murmelte Narsdorf.
»Vermisst du da noch einige Namen?«, fragte Orlando.
»Die eigentliche Prominenz?«, hakte Mannhardt nach. »Ob Sie uns nicht doch den einen oder anderen Namen nennen wollen?«
Narsdorf winkte ab. »Nein. Sagen Sie mir lieber, was ich am besten tun kann?«
»Sich in Geduld üben«, antwortete Mannhardt. »Wir müssen abwarten, bis sich Völlenklee und seine Partnerin sozusagen ausgetobt haben, siehe die Rachegelüste Ihnen gegenüber, und einsehen, dass sie nur noch verlieren können, wenn sie weitermachen, dass der Grenznutzen für sie gegen null geht.«
»Wir – Mägdesprung, Fröttstädt und ich – haben doch immer noch wesentlich mehr zu verlieren als sie, wenn alles publik werden sollte«, wandte Narsdorf ein.
»Es muss uns irgendwie gelingen, dass für alle Beteiligten eine Win-win-Situation herauskommt«, sagte Orlando. »Meine – wenn man so will – nichteheliche Großmutter hat herausbekommen, dass diese Corinna eine Galerie aufmachen will. Lassen wir ihr so viel Geld zukommen, dass sie das realisieren kann, wird sie für immer schweigen – und Völlenklee mit ihr.«
Mannhardt nickte. »Ja, und meine und Orlandos Aufgabe dabei ist, dass wir in etwa so wirken wie die Regelstäbe im Atomreaktor: Wir müssen uns zwischen die Brennstäbe schieben und die nukleare Explosion verhindern.«