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Dr. Martin Mägdesprung war erstaunt, dass sein Name im Zusammenhang mit dem Mordfall Leon Völlenklee bisher nicht in der Zeitung gestanden hatte, nicht einmal Formulierungen wie ›unter den Tatverdächtigen soll sich auch der bekannte Schönheitschirurg Dr. Martin M. befinden‹ waren zu lesen gewesen. Gegenwärtig funktionierte der Datenschutz, wahrscheinlich hatte man in den Redaktionen zu viel Angst vor einer Klage wegen Rufschädigung. Jedoch, wann brachen die Dämme? Spätestens, wenn Sabrina Immelborn zugab, den Bauwagen angesteckt zu haben, aus welchem Motiv heraus auch immer. Er musste mit ihr reden. Es war kurz vor 17 Uhr, und eigentlich war er zu müde dazu. Den Vormittag über hatte er operiert, allerdings nur Krampfadern, das war weit genug weg von der Kehle, und anschließend hatte er bis eben seine Sprechstunde abgehalten. Als er Termine ausgemacht hatte, war er sich wie ein Betrüger vorgekommen, weil er bis August und September seine Praxis bestimmt längst verkauft hätte – oder er bis dahin in Untersuchungshaft sitzen würde. Nein, realistischer war, dass man ihm die Ausübung seines Berufes verbot, wenn man erfuhr, warum er sich bei Dr. Narsdorf in Behandlung befand. ›Leidet unter der zwanghaften Vorstellung, seinen Patientinnen bei der Operation mit dem Skalpell die Kehle durchschneiden zu müssen.‹ Dass man ihn unter diesen Umständen nicht auf die Menschheit loslassen durfte, lag auf der Hand.

Neben einem starken Kaffee brauchte er Anton Bruckner, um wieder handlungsfähig zu werden. Er ging seine CDs durch und entschied sich für die Achte Sinfonie. Nach einer halben Stunde fühlte er sich kräftig genug, sich in seinen Wagen zu setzen, um nach Zehlendorf zu fahren und mit Sabrina Immelborn zu sprechen. Er fand sie in ihrer Buchhandlung, gerade ins Gespräch mit einer Kundin vertieft, die ihrem Aussehen nach Oberstudienrätin war und selbst schrieb. Solche Frauen kamen nie zu ihm, obwohl sie es am nötigsten gehabt hätten. Er gähnte und wartete. Als ihm der Dialog der beiden zu lange dauerte, ging er die Regale entlang und suchte etwas Passendes für sich. Vielleicht etwas von diesem Henning Hanke, den sie im Wedding ermordet hatten. Doch dessen ›Berliner Blut‹ suchte er bei Sabrina Immelborn vergeblich, Triviales führte sie nicht. Handke ja, Hanke nein. Doch auf den ›Versuch über den geglückten Tag‹ hatte er wenig Lust. Seit diese Corinna Natschinski bei ihm aufgetaucht war, um ihn zu erpressen, hatte es für ihn keine geglückten Tage mehr gegeben.

Endlich schickte Sabrina Immelborn ihre beiden Jungbuchhändlerinnen nach Hause, schloss den Laden und hatte Zeit für ihn. Sie setzten sich hinten ins kleine Büro, das mehr eine Rumpelkammer war, die Wände vollgestellt mit Remittenden und nicht abgeholten Büchern, die Tische übersät mit Rechnungen, Briefen und Flyern aller Art. Sie kochte grünen Tee, zur Beruhigung der Nerven, wie sie meinte.

»Was soll nun werden?«, fragte er.

Sabrina Immelborn griff zu einem Reclamheft, auf dessen in orange gehaltenen Deckel er las: ›Hartmann von Aue, Der arme Heinrich‹. Sie zitierte drei Zeilen: »›man giht, er sî sîn selbes bote / und erlœse sich dâ mite, / swer vür des andern schulde bite.‹«

»Schön, dein Mittelhochdeutsch. Wenn du das bitte übersetzen würdest …«

»Man sagt, wer für die Schuld des anderen bete, / sei sein eigener Bote / und erlöse sich damit selbst.«

Mägdesprung nickte. »Gut, dann bete du für meine Schuld.«

Sie fixierte ihn. »Wenn ich die mal kennen würde. Ich weiß ja nicht einmal, womit Völlenklee dich erpressen wollte.«

Er schaffte es, ihr in die Augen zu sehen, als er sagte: »Datenschutz.«

Sabrina Immelborn stieß einen Laut des Unmuts aus. »Komm, damit kann man jede ehrliche Diskussion unterdrücken. Wenn du nicht mal zu mir Vertrauen hast, dann …«

Mägdesprung starrte auf den Schreibtisch. »Es ist etwas, das Frauen nicht gerne hören …«

»Und deswegen warst du bei Dr. Narsdorf in Behandlung?«

»Ja.«

»Und wenn es an die Öffentlichkeit dringt, kann es dir das Genick brechen?«, fragte sie.

Mägdesprung gab sich leicht genervt. »Ja, was denn sonst!«

»Hast du mit deinen Patientinnen immer was angefangen?«

Er lachte. »Das wäre ja genau das andere Ende des Kontinuums gewesen.«

»Hast du sie umbringen wollen?«

»Ja, ihnen die Kehle durchschneiden wollen!«, brach es aus ihm heraus. »Ein dunkler Drang aus dem Unbewussten.«

Sabrina Immelborn zuckte unwillkürlich zusammen und rollte mit ihrem Drehsessel ein Stückchen nach hinten. »Gott, du Armer!«

»Du sagst es. Wenn das an die Öffentlichkeit dringt, bin ich erledigt, das ist wie ein Berufsverbot.«

»Weiß dieser Schneeganß, warum du …?« Mägdesprung nickte. »Ja, sicher. Narsdorf wird geschwiegen haben, allerdings hat es ihm diese Corinna mit Sicherheit gesagt.«

»Aber die Kripo darf es nicht nach draußen geben«, sagte Sabrina Immelborn.

Er winkte ab. »Ach, da gibt es immer eine undichte Stelle. Wie auch immer, das ist erst einmal nur das eine, das andere ist, dass ich für Schneeganß einer der Tatverdächtigen bin. Es sei denn, du entlastest mich.«

Sabrina Immelborn wich ihm aus. »Ich bin doch nicht von Völlenklee erpresst worden.«

Mägdesprung fixierte sie. »Aber du hast ihn gehasst, weil du ihm die Schuld an Ritchies Elend gegeben hast.«

»Ja, aber deswegen einen umbringen? Na, hör mal!«

Er versuchte weiter, sie in die Enge zu treiben. »Da gibt es immerhin noch eine zweite Möglichkeit: Du hast den Bauwagen angesteckt, um deinen Sohn daran zu hindern, wieder in sein altes Leben zurückzukehren. Ohne zu wissen, dass Völlenklee drin liegt und schläft. Alles bei dir hat sich auf diesen Bauwagen fokussiert.«

Sabrina Immelborn sprang auf, verlor jede Contenance und schrie los. »Ja, und als Ritchie so dagelegen hat, fast wie ein Toter, da habe ich es nicht mehr aushalten können und bin runter zu meinem Wagen gelaufen, habe mir den kleinen Reservekanister genommen und bin zur Urbanstraße, zum Bauwagen …«