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Sein Sohn trabte gerade los, um pünktlich zwei Minuten zu spät in der Schule zu sein, da kam sein Enkel die Treppe hinauf und nahm den freien Platz am Frühstückstisch ein.
»Na, Opa?«, fragte Orlando. »Den gestrigen Fußballabend ohne Herzinfarkt überstanden?«
»Hör auf!«, rief Mannhardt. »Das war ja teilweise so schrecklich, dass man gar nicht hinsehen konnte.«
»Darum ist auch zeitweise das Fernsehbild ausgefallen«, sagte Heike.
»Der Sieg ist alles«, erklärte Orlando.
»Richtig«, sagte Mannhardt. »Der Freddy Sieg.«
»Wer ist Freddy Sieg?« Orlando und Heike kannten ihn beide nicht.
»Gleich ausweisen aus Berlin!« Mannhardt stöhnte anhaltend. »Das ist der, der die beiden Lieder gesungen hat, die für jeden Eingeborenen eine Heilige Kuh sein sollten: ›Zickenschulzes Hochzeit‹ und ›Das Lied von der Krummen Lanke‹: ›Und dann saß ick mit der Emma uff da Banke …‹«
Orlando lachte. »Wie würde mein Opa sagen: Besser Sieg Freddy als Sieg Heil.«
»Können wir nicht auch mal über was anderes reden als über Fußball?«, mahnte Heike.
»Ja, darüber, ob die deutsche Nationalmannschaft nun wegen ihres 3:2-Sieges über die Türken wegen Beleidigung des Türkentums angeklagt wird«, sagte Orlando.
»Die sollte man lieber wegen Verunglimpfung der Fußballkunst anklagen«, forderte Mannhardt.
»Andererseits waren die Slapstickeinlagen unseres Torwarts schon wieder hohe Kunst.«
»Hätten sie lieber schön spielen und 2:3 verlieren sollen?«, fragte Orlando.
»Die Frage ist falsch gestellt, meine Damen und Herren!«, rief Mannhardt im Tonfall eines Redners im Bundestag. »Sie hätten das tun sollen, was meine Partei schon seit Langem fordert: Schön spielen und 3:2 gewinnen.«
»Der Sieg ist alles«, wiederholte Orlando.
»Das merkt euch mal«, sagte Heike.
»Wieso?«, fragte Mannhardt.
»Weil ihr beide im Fall Dr. Narsdorf ja nicht gerade gesiegt habt«, sagte Heike. »Wenn ihr Pech habt, hat der Gute eine Anklage wegen Mordes am Hals.«
Sie kamen nun auf Völlenklee und Ritchie zu sprechen und trugen alles zusammen, was sie in den Zeitungen gelesen und über informelle Kanäle erfahren hatten. Damit brachten sie es auf etwa denselben Wissensstand wie Schneeganß und Grätz.
»Tja, wer hat den Bauwagen vorsätzlich angezündet und Völlenklee getötet? Das ist die große Frage.« Mannhardt sah die beiden anderen an. »Oder ist Völlenklee nur versehentlich Opfer geworden?«
»Einer weiß es ganz bestimmt«, sagte Orlando.
»Oder eine«, fügte Mannhardt hinzu. »Nach allem, was wir herausgefunden haben, käme auch Sabrina Immelborn infrage.«
»Wir müssen sehen, dass wir Narsdorf entlasten«, sagte Orlando. »Sonst muss ich allein Doppel spielen – und das geht wohl schlecht.«
»Wieso?«, fragte Mannhardt. »Nimmst du einen Schläger in die rechte und einen in die linke Hand und spielst abwechselnd mit beiden. Wäre mal etwas, um das Tennis wieder interessanter zu machen, zurzeit ist es nur ein besseres Schlafmittel.«
»Wann sollt ihr bei Narsdorf sein?«, fragte Heike.
»Um halb zehn, vor seinem ersten Patienten.«
»Dann mal ab!« Sie stand auf und drückte den beiden Männern alles in die Hand, was auf dem Tisch zu finden war. »Aber tragt das erst mal in die Küche, damit ihr heute wenigstens ein Erfolgserlebnis habt.«
*
Dr. Narsdorf schreckte davor zurück, zum Eigentlichen zu kommen, und philosophierte erst einmal mit leichter Selbstironie über das gestrige Länderspiel. »Wenn ich etwas zu sagen hätte, wäre die Sache anders gelaufen. Dann hätte ich verfügt, dass das Spiel 2:2 endet und anschließend eine gemischt deutsch-türkische Mannschaft im Endspiel gegen Spanien oder Russland angetreten wäre: sechs Deutsche, fünf Türken.«
»Das hätten die Gralshüter der political correctness bestimmt nicht durchgehen lassen«, wandte Mannhardt ein. »Die denken mit Schrecken daran, wie Sepp Herberger nach dem Anschluss Österreichs auf Befehl Hitlers aus Deutschen und Österreichern eine gemeinsame Mannschaft bilden musste, die dann auch prompt bei der WM 1938 baden gegangen ist.«
»Heute ist es ja eher umgekehrt«, sagte Orlando. »Frau Merkel und Herr Sarkozy sind gegen die Aufnahme der Türkei in die EU. Da würde eine gemeinsame Mannschaft eher verboten werden.«
Mannhardt sah erst auf die Uhr, anschließend zu Dr. Narsdorf hinüber. »Damit Ihre Patienten nicht zu lange warten müssen, sollten wir vielleicht …«
»Und ehe der Schneeganß hier ist, dich zu verhaften«, fügte Orlando hinzu.
»Ich bin wohl der Tatverdächtige Nummer eins?«
Mannhardt zuckte mit den Schultern. »Weiß ich nicht genau, ich glaube schon. Ihr Glück ist vorerst nur, dass die anderen auch handfeste Motive und ebenfalls kein Alibi haben.«
Narsdorf schloss die Augen. »Ach Gott, manchmal glaube ich wirklich, dass ichs getan habe. Mein gleichsam angeborener Hass gegen Leon … Ihm ist es nicht anders ergangen. Hass kettet zwei Menschen ebenso aneinander wie Liebe. Nun fehlt er mir direkt.« Narsdorf begann ›La Paloma‹ zu summen: »›Einmal muss alles vorbei sein …‹« Er kam kaum gegen seine Rührung an. »So simpel dieser Satz ist, er enthält die letzte Wahrheit: Einmal muss alles vorbei sein. Nun ist es vorbei, nun ist unser lebenslanges Duell zu Ende, und verloren haben wir beide: er sein Leben, ich meine Zukunft.«
»Im Augenblick stehst du noch nicht vor Gericht«, sagte Orlando.
»Aber alles wird so kommen, wie es kommen muss.«
»Alles hängt von Ihrem Alibi ab«, sagte Mannhardt. »Lässt sich da nicht doch irgendwo ein Zeuge finden?«
»Wie denn? Ich war nach der Vernissage ein wenig durcheinander und wollte nach Hause laufen«, erklärte Narsdorf. »Nach einer halben Stunde habe ich umgekehrt und mein Auto geholt.«
»Und warum waren Sie ein wenig durcheinander?«, hakte Mannhardt nach.
»Weil …« Narsdorf zögerte einen Augenblick mit der Antwort. »Weil ich Corinna getroffen habe, Corinna Natschinski, meine Erpresserin. Es ist Wahnsinn, aber ich finde, dass sie eine faszinierende Frau ist.«
Mannhardt, der in früheren Fortbildungsveranstaltungen einiges aus der Psychologie gelernt hatte, lachte. »Wenn Bruno Bettelheim von der Identifikation mit dem Aggressor spricht, dann ist es bei Ihnen die Identifikation mit dem Erpresser – beziehungsweise der Erpresserin.«
»Irgendwie hat sie’s mir angetan«, sagte Narsdorf.
»You are my destiny«, sang Orlando.
»Wenn Sie wenigstens mit ihr nach Hause und ins Bett gegangen wären«, sagte Mannhardt. »Dann hätten Sie ein wunderschönes Alibi.«
»Bin ich aber nicht, sie war plötzlich verschwunden.«
»Kein Wunder«, stellte Orlando fest. »Erstens war sie noch mit Leon Völlenklee zusammen und zweitens musste sie naturgemäß Angst vor dir haben, Angst, dass du sie und Völlenklee eliminieren würdest.«
»Was nun?«, fragte Narsdorf. »Am besten, ich schließe meine Praxis, bevor ich in U-Haft komme.«
»Mach das«, sagte Orlando. »Heute ist sowieso großer Ärztestreik in Berlin.«
Narsdorf sah Mannhardt an. »Wie sehen Sie meine Chancen?«
»Die stehen meiner Ansicht nach gar nicht mal so schlecht. Neben Ihnen gibt es unseres Wissens nach drei weitere Tatverdächtige: ihren lieben Maik Bulkowski, den Sie ja selbst auf Völlenklee losgelassen haben, Sabrina Immelborn, die Mutter von Ritchie, und Werner Schwenz, wenn der auch nur indirekt mit Ihnen was zu tun hat. Ihr Kollege Mägdesprung könnte noch hinzukommen, der ist allerdings wohl am ehesten außen vor.«
»Und was soll ich nun machen?«, fragte Narsdorf.
»Nur nicht mit Corinna Natschinski in Verbindung treten«, riet ihm Mannhardt. »Das gäbe nämlich ein besonders überzeugendes Motiv für Sie und man könnte sagen: Er hat Völlenklee eliminiert, um an Corinna heranzukommen.«