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Corinna Natschinski war am U-Bahnhof Mehringdamm in den Bus M29 gestiegen, um zur Vernissage ihrer Freundin Basmath zu fahren. Allein, weil Völlenklee lieber zu Hause sitzen und sich ansehen wollte, wie die Deutschen gegen die Portugiesen verloren. Sie saß gern oben in der ersten Reihe und nahm die Busfahrt als Sightseeing-Tour. Schon als Kind hatte sie immer an diesem Platz sitzen wollen. Als Kind … Als sie noch nicht geahnt hatte, dass ihre Kindheit in einer Katastrophe enden sollte. Am Nachmittag hatte sie ihre Eltern besucht. Ihren Vater auf dem Friedhof, ihre Mutter in der Psychiatrie.

Es ging unter den Yorckbrücken hindurch, und sie zog unwillkürlich den Kopf ein, weil sie Angst hatte, das Oberdeck des Busses würde abrasiert werden. Danach ging es unter der Hochbahn durch. Wenn genau in dem Moment ein Zug herunterfiel … An manchen Tagen war das Leben nur eine Manifestation von Ängsten, das wusste sie, und sie musste an einen Dialog zwischen ihren Eltern denken. »Irgendwann hänge ich mich auf!«, hatte ihr Vater geschrien, und ihre Mutter hatte geantwortet: »Bitte, wenn du dich dadurch verbessern kannst.« Die Frage war, ob er sich wirklich verbessert hatte.

Einsatzwagen rasten an ihrem Bus vorbei und schleuderten ihre blauen Blitze in den Berliner Feierabend. Schwärmten sie aus, um sie und Völlenklee zu verhaften? Vielleicht war dieser Pilot zur Polizei gegangen und hatte Tabula rasa gemacht.

Es ging am KaDeWe vorbei und die Tauentzien hinunter, und sie staunte über die vielen Menschen, denen es so ging wie ihr und die an diesem Tag anderes im Kopf hatten als Fußball. Aber selbst die wussten, wer Jens Lehmann und Michael Ballack waren, und genau in diesem Augenblick wurde ihr klar, dass der Wert eines Lebens davon abhing, wie viele Menschen einen kannten, und ihr Leben wertlos war, weil keiner sie kannte. Corinna Natschinski? Malerin? Nie gehört. Nicht einmal Gott, dachte sie, als sie die Gedächtniskirche sah, hatte sie in seinem großen Himmelscomputer gespeichert.

An der Ecke Kurfürstendamm und Joachimsthaler Straße hatte sich auf dem Bürgersteig vor einem Bierlokal eine Gruppe jugendlicher Fans gebildet und lärmte plebejisch. Einige von ihnen pinkelten grölend gegen eine Plane, die von einem Gerüst herunterhing. Corinna wusste, dass sie den Kudamm unbedingt meiden musste, wenn es nach dem Spiel zum Autokorso kam.

An der Leibnizstraße stieg sie aus und ging in Richtung Stadtbahn. In der kleinen Galerie hatten sich an die 50 Gäste eingefunden. Die meisten von ihnen gehörten zur Szene und genossen es, sich in Szene zu setzen. Basmath war glücklich über ihre erste Vernissage. Sie hatte wirklich Talent und beim Feuilleton immer gute Karten. Ihr Thema waren Insekten. Insekten mit menschlichen Gesichtern, Insekten als Herren der Welt, nachdem die menschliche Zivilisation zusammengebrochen war.

Der Galerist klopfte gegen seinen Sektkelch, um eine kleine Begrüßungsrede zu halten. »Ihr Lieben, ich freue mich, dass ihr heute gekommen seid. Es gibt in dieser Stadt wohl doch noch echte Alternativen zum Fußball.« Hier musste er eine kleine Pause machen, weil heftig geklatscht wurde. »Danke … Das bestätigt mich in meiner Auffassung, dass die Elite dieses Landes nicht nur auf dem Rasen zu finden ist. Ich freue mich also, dass ihr gekommen seid. Es ist ja immer schön, wenn jemand kommt … Siehe Sex and the City …« Er wartete, bis das Gelächter verstummt war. »Ich freue mich, und es ist mir eine Ehre, Basmath mit ihren Bildern heute bei uns zu sehen. Sie ist unsere Entdeckung des Jahres. Ihre Biografie findet ihr, sofern ihr sie nicht schon kennt, in diesem Flyer. Basmath ist ein Name aus dem Alten Testament, aus dem ganz alten Testament sozusagen, denn der Name findet sich bereits im 1. Buch Mose, 26. Kapitel.«

»Kommt also nicht vom Basmati-Reis!«, rief ein Kultur-Journalist.

»Nein. Und unsere Basmath ist auch keine Inderin, sondern eine autochthone Deutsche aus Neukölln-Nord. Ihr Vater war Tierpfleger im Zoo, genauer gesagt im Aquarium, und Basmath, die ihn oft besucht hat, war schon als Baby fasziniert von Spinnen, Käfern, Fliegen und anderen Haustieren dieser Art. Insekten sind somit früh ›passion and obsession‹ bei ihr geworden, und das ist gut, sonst hätten wir ihre wunderbaren Bilder nicht, die demnächst auch London und New York erobern werden. Aber ihr Start war Berlin. Bevor wir uns nun gemeinsam Basmaths Bilder ansehen und uns nachher auf das Kalte Büffet stürzen, wollte ich euch mit einer kleinen geistigen Vorspeise erfreuen. Ursprünglich hatte ich meinen Freund Henning Hanke zur Lesung einer Kurzgeschichte eingeladen, doch Henning ist ja … Ach, das wisst ihr ja alle. Nun, eingesprungen für ihn ist -ky, der eine Story geschrieben hat, die voll und ganz zum Thema passt. Sie heißt …«, er blickte auf seinen Spickzettel, »›Das Massaker von Wolkenstein‹ und handelt von mörderischen Fruchtfliegen.«

Corinna ließ die Lesung über sich ergehen, musste jedoch mittendrin auf die Toilette. Als sie in den Ausstellungsraum zurückkehren wollte, lief sie Dr. Narsdorf in die Arme. Beide wichen ein Stück zurück.

»Sie hier?«, rief Corinna.

»Ja, der Galerist ist aus meinem Tennisverein, da hat sich das nicht vermeiden lassen.« Narsdorf hatte sich sehr schnell wieder gefangen.

»Ich bin hier, weil Basmath eine alte Freundin von mir ist«, erklärte Corinna, »nicht Ihretwegen.« Das wäre auch schlecht gegangen, weil sie gar nicht hatte wissen können, dass er auch da sein würde. Sie registrierte genau, dass sie wirres Zeug zu reden begann.

»Schade.«

Corinna wusste nichts zu entgegnen. Narsdorf sah sie so an, wie Männer Frauen ansehen, mit denen sie liebend gern ins Bett gegangen wären. Das irritierte sie mehr als der Gedanke, dass er eigentlich ihr Opfer war.

»Wo ist denn der Herr Völlenklee?«, fragte Narsdorf. »Sie haben sich doch nicht etwa von ihm getrennt?«

»Nein, wieso?«

»Weil Ihnen das nur gut tun würde. Mit der Erpressung sind Sie in etwas hineingerasselt, das gar nicht zu Ihnen passt.«

Endlich hatte Corinna ihre Sprache wiedergefunden. »Sie müssen das ja wissen, Sie sind ja Psychologe.«

»Das bin ich, und als ein solcher sage ich Ihnen: Wenn Sie leben wollen, machen Sie sich frei von Völlenklee.«

Corinna lachte. »Sie wollen uns ja nur auseinanderbringen, damit wir aufgeben.«