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In den Räumen der zwölften Mordkommission ging es zu wie im Meditationsraum einer buddhistischen Gemeinschaft. Aktuelles lag nicht an und man beschäftigte sich mit ungelösten Fällen oder tat etwas für seine Fortbildung.

Gunnar Schneeganß studierte eine etwas vergilbte Nummer der Fachzeitschrift Kriminalistik und hatte gerade mit der Lektüre über Amokläufe an Schulen begonnen, während Eugen Grätz dabei war, in der Fußball-Woche nach einem Bericht über seinen Verein zu suchen, der ganz weit unten in der Bezirksliga angesiedelt war.

»Wieder nichts drin über uns«, musste er feststellen. »Diese Journalisten-Fuzzis sollte man alle auf den Mond schießen. Wenn man die nicht schmiert, schreiben sie auch nichts über einen, und Positives erst recht nicht. Aber über Hertha! Obwohl das doch die größten Loser aller Zeiten sind, und der Dieter Hoeneß keinen Einbeinigen von einem Zweibeinigen unterscheiden kann. Wenn es ein Straftatbestand wäre, dass man kein Fortune hat, müsste der für 20 Jahre in den Knast.«

Eugen Grätz, gerade 54 Jahre alt geworden, war zwar Beamter, streikte dennoch – und dies seit über

20 Jahren. Sein Arbeitskampf galt pauschal ›denen da oben‹, was, von seinen direkten Vorgesetzten bis zu Gott, alle einschloss, die etwas zu sagen hatten. Sie hatten verhindert, dass er auf der Bühne des Lebens mehr abbekommen hatte als die beschissene Statistenrolle eines Kriminalhauptwachtmeisters. Was hatte das Leben ihm bisher gegeben? Nichts außer Frust und Ärger. Ob nun Frau und Kinder oder Freunde und Kollegen, alle waren nur darauf aus, ihn zu ärgern und zu kränken. Dabei war er doch ein humorvoller und stets hilfsbereiter Mensch.

»Wenn das mit dir so weitergeht, endest du auch noch mal als Amokläufer«, sagte Schneeganß. »Versuch doch mal, alles ein bisschen leichter zu nehmen.«

»Wie denn? Unsere ganze Gesellschaft ist versaut! Überall nur Korruption und andauernd Streiks.«

»Ja.« Schneeganß nickte. »Nicht mal in Bagdad ist es schlimmer als bei uns. Komm mal bitte vom Fenster weg, ich hör schon die nächste Rakete.«

»Haha«, machte Grätz. »Werd du erst mal so alt wie ich, dann hängt dir auch alles zum Halse raus.«

»Ich lasse lieber alles in den Hals reinhängen«, murmelte Schneeganß. »Am liebsten in Sarahs. Siehe ›Deep Throat‹.«

Gunnar Schneeganß war gerade einmal 34 Jahre alt und hatte schon eine, wie er fand, sagenhafte Karriere hinter sich. Er kam aus einer total zerrütteten Familie. Sein Vater war Alkoholiker, andauernd arbeitslos und schlug, wenn ihn die große Wut überkam, auf alles ein, was in seiner Nähe war. Die Mutter hatte des Öfteren in ein Frauenhaus flüchten müssen, mal mit ihm, mal ohne ihn, je nachdem ob das Jugendamt ihn gerade in ein Heim gesteckt hatte oder nicht. Zudem hatte es Schneeganß in seinem Schöneberger Kiez als Deutscher ungemein schwer gehabt, zu groß war die Dominanz von Klassenkameraden nichtdeutscher Herkunft gewesen. Doch er hatte es geschafft, sich durchzuboxen und war nach Abschluss der Hauptschule bei der Polizei aufgenommen worden, da sein IQ weit über dem Durchschnitt lag, seine Allgemeinbildung war besser als die mancher Akademiker und sportlich war er zudem. In all seinen Stationen war er glänzend beurteilt worden, hatte sich von Besoldungsgruppe zu Besoldungsgruppe hochgearbeitet und sich durch seine Mitgliedschaft in der Polizeigewerkschaft und der SPD ein ansehnliches Netzwerk aufgebaut, sodass man ihn schließlich, nachdem er in der Abendschule das Abitur gemacht hatte, als Kommissaranwärter zum Studium an die Fachhochschule schickte. Nach drei Jahren hatte er es geschafft, war nun Beamter des gehobenen Dienstes und zur Kripo gekommen. Wie viele Aufsteiger auch, neigte er dazu, sich für den Größten zu halten, für ein einzigartiges Exemplar der Gattung Homo sapiens, und bei jeder Handlung inszenierte er sich: immer schnoddrig, immer witzig, immer Alphatier. Prächtig gestylt war er, gab ständig den Macho, wenn auch selbstironisch, und glaubte, ein legitimer Erbe des großen Ernst Gennat zu sein.

Er griff gerade nach seinem Handy, um Sarah anzurufen, als der Koordinator aller Mordkommissionen bei ihnen auftauchte, um sie zum U-Bahnhof Bayerischer Platz zu schicken.

»Da ist ein Mann vor den Zug gefallen, gesprungen oder gestoßen worden. Jedenfalls: Exitus.«

»Oben oder unten?«, fragte Schneeganß.

»Wie?«

»Unten haben wir den Bahnsteig der U7, oben den der U4«, erklärte ihm Schneeganß.

»Keine Ahnung.«

»Keiner hat wieder mal von was ’ne Ahnung«, brummte Grätz.

»Wir sind eben die Generation Doof«, sagte Schneeganß. ›Generation Doof‹ von Stefan Bonner und Anne Weiss, war ein herrliches Sachbuch, und er las es jeden Abend mit großem Vergnügen.

Nach kurzer Beratung mit dem Koordinator machten sie sich auf den Weg. Schneeganß wäre die etwa zwei Kilometer gern im Walkingtempo gelaufen, aber Grätz bestand darauf, dass sie mit dem Auto fuhren.

»Meinst du, mein Dienstherr bezahlt mir die

Hacken, die ich mir dabei ablaufe?«

Kurz nachdem sie im Wagen gesessen und losgefahren waren, dudelte das Handy und sie erfuhren, dass der Tote auf dem U-Bahnhof Bayerischer Platz ein Politiker sein sollte.

»Bernhard Jöllenbeck«, sagte Schneeganß, das Gerät wieder zuklappend.

»Schön, dass die sich selbst aus dem Verkehr ziehen, bevor sie größeren Schaden anrichten können«, erklärte Grätz. »Brauchen wir ihre riesigen Diäten nicht zu bezahlen.«

»Es steht doch noch gar nicht fest, dass es Selbstmord war«, sagte Schneeganß, während sie in die Martin-Luther-Straße einbogen.

Als Grätz das Straßenschild las, konnte er den Reflex nicht unterdrücken, weiter zu schimpfen. »Was meinst du, was mich das aufregt, wenn unsere Nachrichtensprecher immer sagen: Martin Luser King, als würde unser Reformator Martin Luser heißen.«

»Kann er doch gar nicht«, wandte Schneeganß ein.

»Der King war alles andere als ein Loser. Anders als dieser Jöllenbeck.«

»Nie gehört den Namen«, brummte Grätz.

»Jöllenbeck war Mitbegründer der NeoLPD, der Neoliberalen Partei Deutschlands, so einer Mischung von rechtester FDP und sozusagen nazifreier NDP, wenn so was überhaupt möglich ist. Ein deutscher Jörg Haider wollte er werden. Insofern steckt eine gewisse Logik darin, dass er sein Ende auf dem Bahnhof Bayerischer Platz gefunden hat, auch wenn Bayern noch nicht ganz Österreich ist, trotz Sissi.«

»Das ist mir zu hoch«, sagte Grätz.

»Wir sind ja gleich unten in der U-Bahn.« Schneeganß liebte es, Grätz auf den Arm zu nehmen. Anders war der Mann nicht zu ertragen.

Sowie sie am Bayerischen Platz angekommen waren, mussten sie sich die Ohren zuhalten, da der Rettungshubschrauber, der auf der Grünfläche des Bayerischen Platzes gelandet war, gerade in die Höhe stieg.

»Wozu braucht der denn noch ’n Hubschrauber, wenn der schon tot ist!«, rief Grätz. »Steuerverschwendung!«

Parkplätze gab es nicht, sodass Schneeganß nicht zögerte, auf den Bürgersteig zu rollen. Sofort war ein Hundebesitzer jüngeren Datums zur Stelle, um für Ordnung zu sorgen.

»Häih, det is hier ’n Bürgersteig und keene Autobahn!«

»Ja, aber ich bin der Pfarrer und muss nach unten, um dem traumatisierten U-Bahnfahrer die letzte Ölung zu … zu …« Da er das optimale Verb nicht kannte, stockte er kurz. »… zu verpassen.«

»Pass ma uff, det ick dir keene verpasse!«

»Sag bitte noch: du Arsch, dann haben wir die Beamtenbeleidigung beisammen.«

In diesem Augenblick tat der Dobermann des Jungberliners das, was seine Natur ihm gebot und was er sich jeden Tag mindestens einmal schuldig war: er kackte auf den Bürgersteig.

Grätz zeigte auf die Kotsäule. »Wegmachen, sonst …«

»Du hast wohl nicht mehr alle!« Der Hundehalter machte Anstalten, sein Tierchen von der Leine zu lassen.

Schneeganß knöpfte sein Jackett auf und deutete auf seine Dienstwaffe. »Sie binden Ihren Hund zuerst hier an den Laternenpfahl und heben schön auf, was er hinterlassen hat. Und nicht in Zeitlupe, sondern mit Höchstgeschwindigkeit bitte.«

Der Hundebesitzer beeilte sich, und Schneeganß fühlte sich in seiner These bestätigt, dass der mündige Bürger nichts als Fiktion war und nur in den Parteiprogrammen der CDU und der FDP wirklich existierte.

»Schade, dass du diesem Armleuchter nicht aus Versehen und in Notwehr ins Bein geschossen hast«, sagte Grätz. »Erst dem Hund in den Kopf und ihm dann ins Knie.«

»Besser noch: Ihm in den Kopf und dem Hund ins Knie.«

Nun konnten sie sich ihrer eigentlichen Tätigkeit widmen. Die Leute der BVG und die Kollegen von der Schutzpolizei waren mit ruhigem Eifer dabei, den Bahnhof zu sperren und die verwirrten Fahrgäste auf den bald eingerichteten Schienenersatzverkehr zu verweisen. Beim Tatbestand ›Person im Gleis‹, funktionierte der Ausnahmezustand immer tadellos.

»Sie sollten eine Strecke nur für Selbstmörder einrichten«, sagte Grätz. »Damit sparen sie sich das ganze Theater.«

Schneeganß war begeistert. »Gute Idee. Vielleicht die alte Siemensbahn von Jungfernheide nach Gartenfeld wieder in Betrieb nehmen. Die Bahnhöfe Wernerwerk und Siemensstadt stehen ja noch. Da lässt man alle Stunde einen Kurzzug pendeln, und wer will, der kann dann … Vielleicht sollte man sogar eine richtige Firma gründen, so mit Pfarrer, Beerdigungsunternehmen und Psychologen, die versuchen, die Leute noch vom Sprung auf die Schienen abzuhalten.«

»Und wer kratzt sie von den Schienen ab?«, fragte Grätz.

»Da finden sich schon Freiwillige, wozu boomen die Horrorfilme. Ich hoffe nur, hier unten waren die Abkratzer schon am Werke …« Auch nach einem Dutzend Dienstjahren hatte Schneeganß Angst vor dem Anblick grässlich zugerichteter Leichen. Am liebsten war es ihm, wenn man jemanden sanft vergiftet hatte.

Sie kamen nur langsam voran, denn überall stand einer, vor dem sie sich legitimieren mussten.

»Hoffentlich kommen wir bald ins Fernsehen, damit uns jeder gleich erkennt«, sagte Schneeganß.

Endlich hatten sie ihre Techniker erreicht, die auf dem Bahnsteig der U7 alles sicherten, was nach Spur aussah. Ihnen blieb es vorbehalten, die Leute zu befragen. Aber zu sehen war neben einigen BVGBediensteten nur eine ältere Dame.

»Ist das alles an Fahrgästen?«, fragte Grätz einen Fahrmeister. »Klar, nach der vielen Streikerei in diesem Jahr laufen die Leute lieber.«

»Die Fahrgäste des betroffenen Zuges sind alle ins Freie geleitet worden, doch die haben ja ohnehin nichts bemerken können.«

»Und der Fahrer selbst?«, wollte Schneeganß wissen.

»Der ist mit einem Schock ins Gertrauden-Krankenhaus gekommen.«

»Und die Leute, die auf dem Bahnsteig hier standen, als …?«

»Die haben sich in alle Winde zerstreut. Es kommt immer Panik auf, wenn sich jemand …« Auch der Fahrmeister vermied ein präzises Wort, denn alle Verkehrsunternehmen verfolgten die Strategie, das Thema Selbstmord auszublenden. »Nur die Dame da am Kiosk ist geblieben. Die kann ja nicht so einfach alles stehen und liegen lassen, die will ja nicht entlassen werden.«

Schneeganß und Grätz schlenderten zum Kiosk. Unten auf den Gleisen hörten sie die Arbeiter fluchen. Bei der Notbremsung hatte sich ein Stromabnehmer verklemmt.

»Zum Glück war es keine Schafherde«, sagte Schneeganß. »Wie neulich beim ICE. Oder eine Gruppe von Bundestagsabgeordneten. Die müssen ständig im Tunnel sein, sonst hätten sie nicht immer ihren Tunnelblick.«

Damit waren sie bei der Dame vom Kiosk angelangt und stellten sich vor. »Sie müssten doch etwas gesehen haben, Frau …?«

»Velkoborski, Hannelore Velkoborski.«

»Angenehm.« Schneeganß verwendete manchmal die Wendungen seiner Großeltern.

»Det is ja allet so schrecklich!« Hannelore Velkoborski wischte sich die Tränen aus den Augen.

»Und hier uff meim Bahnhof. Da braucht man ja keen Fernsehen mehr. Der Jöllenbeck, Mann!«

»Kannten Sie den Mann?«, fragte Schneeganß.

»Ja, klar, der hat manchmal ’ne Zeitung bei mir jekooft. Und nu issa nur noch Hackepeter.« Wieder begann sie zu weinen.

Grätz hasste Showeinlagen wie diese. »Was haben Sie denn nun gesehen?«

Hannelore Velkoborski hatte Mühe, das Bild abzurufen. Wie Jöllenbeck von dem Jungen mit den schlabbernden Hosen angegriffen worden war. »Da is ’n Junge uff ihn zu, und dann gab’s ne Rangelei. Mehr hab ick nich jesehn, weil jrade ’n Kunde jekommen is. Nur noch den Schrei hab ick jehört.«

Schneeganß bedankte sich, Grätz schrieb sich Namen und Adresse auf. Dann traten sie zu einer kurzen Beratung beiseite.

 

»Zuerst sollten wir uns mal ansehen, was auf dem Video der BVG zu erkennen ist, und dann mit dem Fahrer reden«, schlug Schneeganß vor. »Anschließend müssen wir uns wohl mit Jöllenbecks Privatleben befassen, wenn der überhaupt eins hatte.«

»Hoffen wir, dass es Selbstmord war«, sagte Grätz.

»Da haben wir keine Arbeit mit.«

Doch die Videoaufzeichnung vom Bahnhof Bayerischer Platz brachte ihnen keinerlei Erkenntnisse darüber, was es denn im Falle Jöllenbeck wirklich war: ein Mord, ein Selbstmord oder ein Unfall. Es hatte einen kleinen Kampf gegeben, das schien festzustehen, jedoch war es nicht eindeutig zu erkennen, ob sich der Anwalt danach in selbstmörderischer Absicht vor den Zug geworfen hatte, ob er von dem Jungen in Baggy Pants vor den Zug gestoßen worden war oder ob er einfach das Gleichgewicht verloren hatte und auf das Gleis gestürzt war.

»Ohne diesen Knaben werden wir nicht weiterkommen«, sagte Grätz.

»So ist es.« Schneeganß nickte und sorgte per Handy dafür, dass die notwendigen Maßnahmen eingeleitet wurden. Danach machten sie sich auf den Weg, um zu sehen, ob es in Jöllenbecks Kanzlei etwas gab, das ihnen weiterhelfen konnte. Bis zur Aschaffenburger Straße waren es nur ein paar 100 Meter.

Die Anwaltsgehilfin hatte schon erfahren, was geschehen war, und saß wie leblos hinter ihrem Schreibtisch.

»Liegt hier irgendwo ein Abschiedsbrief?«, fragte Schneeganß.

»Nein …«

»Und im Computer war auch nichts?«

»Nein …«

»Ist hier irgendwann einmal ein junger Mann mit diesen Hosen aufgetaucht, die aussehen, als wären sie zehn Nummern zu groß?«, fragte Grätz.

»Nein …«

»Nein …« Grätz konnte nicht anders, als die stimmlose Dame nachzuäffen. »Ist Ihnen sonst etwas aufgefallen, das uns weiterbringen könnte?«

»Nein …«

Typisch Generation Doof, dachte Schneeganß, und nahm einen letzten Anlauf. »Können Sie uns bitte die Adresse von Herrn Jöllenbeck verraten und uns sagen, ob da jemand zu Hause ist. Ist er – war er verheiratet?«

»Nein …«

Immerhin erfuhren sie, dass Jöllenbeck in der Meraner Straße wohnte, gleich auf der anderen Seite des Bayerischen Platzes. Als sie klingelten, öffnete ihnen eine Reinemachefrau, die so chic und polnisch aussah, dass Schneeganß sofort an das dachte, was naheliegend war. Da sie jedoch nicht in Tränen aufgelöst war, konnte davon ausgegangen werden, dass sie von Jöllenbecks schrecklichem Ende nichts erfahren hatte. Sie stellten sich zwar vor, ließen sie aber vorerst im Ungewissen.

»Sie haben Herrn Jöllenbeck gut gekannt?«

»Ja …«

»So gut, dass er Ihnen immer alles erzählt hat, was ihn bedrückte?«

»Ja …«

»Hat er Ihnen gegenüber auch einmal durchblicken lassen, dass er an Selbstmord denkt?«

»Ja …«

»Und da haben Sie ihn dann getröstet?«

»Nein …«

Dieses Nein fiel so sehr aus dem Rahmen, dass Schneeganß Mühe hatte, es zu verarbeiten. »Wie?«

»Er hat nicht wollen, dass ich ihn tröste.«

»Wie das?«, staunte Schneeganß und grinste. »Ich an seiner Stelle …«

»No, er hat lieber Jungen gehabt, wissen Sie.«