26
Gunnar Schneeganß und Eugen Grätz hingen müde in ihren Drehsesseln. Die langen Fußballabende hinterließen nach und nach ihre Spuren. Ob man nun nach dem Schlusspfiff Wein trank, wie der eine, oder Bier, wie der andere, der Adrenalinspiegel war auch weit nach Mitternacht noch so hoch, dass man nicht einschlafen konnte. Was blieb einem da anderes übrig, als im Büro erst einmal eine Tasse Kaffee nach der anderen zu trinken und zum Warm-up Zeitung zu lesen und das Gelesene zu kommentieren.
»Diese blöden Iren mit ihrem No«, sagte Grätz. »Gleich rausschmeißen aus der EU.«
»Ich esse ab heute keine irische Butter mehr«, merkte Schneeganß an.
»Früher haben wir unsere Butter immer bei Butter-Beck gekauft«, erinnerte sich Grätz. »Aber wenn ich heute den Namen Beck höre, dann … Wenn der Kanzler werden sollte, wandere ich aus.«
»Bei mir steht Beck ganz oben an«, erklärte Schneeganß.
»Wer – Kurt Beck?«
Schneeganß lachte. »Nein, Martin Beck, unser Kollege in den Krimis von Sjöwall/Wahlöö. Durch den bin ich zur Kripo gekommen. Aber da habe ich ja noch nicht an unseren Beck gedacht, und dass wir uns an dem die Zähne ausgebissen haben.«
Grätz konnte ihm nicht folgen. »Wer ist unser Beck?«
»Na, der Jöllenbeck vom U-Bahnhof Bayerischer Platz.«
Grätz wandte sich wieder seiner Zeitung zu und wechselte das Thema. »Haben sie dich schon aus Vancouver angerufen?«
Schneeganß kniff die Augen zusammen. »Wieso denn das?«
»Na, damit du den Kollegen vor Ort helfen kannst.« Grätz las vor, was von den Küsten Kanadas berichtet wurde. »Sechster Fuß angeschwemmt. Der am Strand von Campbell River angespülte rechte Fuß steckte in einem schwarzen Sportschuh für Männer.«
»Der kann nur von einem Fußballer stammen, der mit seiner Mannschaft schon in der Vorrunde ausgeschieden ist«, stellte Grätz fest. »Wahrscheinlich von einem Österreicher, den sie gelyncht haben, weil es kein zweites Cordoba gegeben hat.«
Damit waren sie wieder beim allumfassenden Thema angekommen und diskutierten lange und ausführlich den 3:2-Sieg der Deutschen über Portugal.
»Das 3:2 ist unser Schicksalsergebnis«, stellte Grätz fest. »Siehe das Wunder von Bern.«
»Zwei Gegentore sind aber schlecht«, hielt Schneeganß dagegen. »Am wichtigsten ist doch die Null, die hinten steht.«
»Bei uns in Berlin stehen die Nullen doch alle vorne«, sagte Grätz.
»Du kannst ja zusehen, ob du es schaffst, Ernst Reuter und Willy Brandt wiederauferstehen zu lassen. Besonders mit Ernst Reuter wäre das eine schöne Sache, der war ja auch so ein halber Türke und könnte viel zur Integration von Küçükoglu, Yilmaz und Co. beitragen.«
»Wenn es zum Endspiel Türkei gegen Russland kommen sollte, erschieße ich mich«, erklärte Grätz.
»Dann brauchst du wenigstens nicht mehr auszuwandern«, sagte Schneeganß.
So ging es noch eine Weile hin und her, bis es Zeit geworden war, zur Morgenandacht in den Sitzungsraum zu eilen. Dort hatte ihnen ihr Chef einiges mitzuteilen.
»Zum Fall Jöllenbeck … Einer der Tatverdächtigen ist ja dieser Richard Immelborn, genannt Ritchie. Auf den ist am vergangenen Abend zwischen 21.30 Uhr und 22 Uhr möglicherweise ein Attentat verübt worden, jedenfalls ist der Bauwagen in der Urbanstraße, in dem er zuletzt gelebt hat, angezündet worden. Ums Leben gekommen ist aber nicht Ritchie, der vorher ins Urban-Krankenhaus eingeliefert worden war, sondern ein Freund von ihm, ein EDV-Spezialist. Der Name … Leon Völlenklee. Die Identität hat sich schnell anhand seiner Papiere feststellen lassen. Wir haben es hier nicht mit einer total verkohlten Leiche zu tun, sondern der Mann ist an Rauchgasen erstickt und nur leicht angesengt, wenn ich das einmal so sagen darf, von den Feuerwehrleuten aus dem Bauwagen gezogen worden, den Passanten vorher weitgehend gelöscht hatten. Nun wird es interessant, denn gegen diesen Völlenklee und seine Lebensgefährtin, eine Corinna Natschinski, ist gerade Anzeige erstattet worden … und zwar von einer Popsängerin namens Millie Malorny alias Nicole Leckscheidt. Der Völlenklee und die Natschinski sollen sie erpresst haben. Es muss ihnen gelungen sein, auf die Festplatte eines Psychiaters vorzudringen, eines Dr. Hagen Narsdorf, und mit der ausgedruckten Krankengeschichte sind sie dann bei der Leckscheidt erschienen und haben Geld verlangt. Ich vermute mal, dass sie nicht die Einzige gewesen ist, bei der sie es versucht haben, sodass mehrere Leute einen Grund gehabt haben könnten, Völlenklee aus der Welt zu schaffen. Wir sollten also …« Er brach ab, da ein Mitarbeiter hereingekommen war und ihm einen Notizzettel auf den Tisch legte. Schnell hatte er ihn überflogen. »Gerade erfahre ich, dass diese Corinna Natschinski auf dem U-Bahnhof Südstern vor einen einfahrenden Zug gesprungen ist beziehungsweise gestoßen worden ist … Man hat sie ins Urban-Krankenhaus gebracht … Über ihren Zustand wissen wir noch nichts. Hm … Die Parallelen zum Fall Jöllenbeck liegen auf der Hand, weshalb ich glaube, dass es das Beste ist, wenn Gunnar Schneeganß und Eugen Grätz da am Ball bleiben.«
*
Das Städtische Krankenhaus Am Urban, eröffnet 1890, war im Pavillonstil errichtet worden, im Zeitraum 1966–1970 hatte man die lieblichen und überschaubaren Gebäude aus gelbem Backstein aber mit einem V-förmigen Hochhaus ergänzt, somit war vom Charme des Alten nicht viel geblieben. Der Eingang befand sich jetzt in der Nähe des Landwehrkanals.
»Ich liebe Krankenhäuser«, sagte Schneeganß, als sie das Foyer betraten und auf die Auskunft zusteuerten.
Grätz verzog das Gesicht. »Das ist ja pervers. Krankenhäuser heißen so, weil man da erst richtig krank wird, das heißt, sich die Bakterien einfängt, die einen umbringen.«
»Ich bin natürlich nicht gern als Patient hier, sondern als Besucher. Es ist ein herrliches Gefühl, dass man gesund und munter nach Hause gehen kann, während andere hier leiden und sterben.«
Corinna Natschinski lag auf der Chirurgischen Station. Sie fuhren mit dem Aufzug nach oben und fragten die erstbeste Schwester, die ihnen über den Weg lief, ob sie zu ihrer Zielperson ins Zimmer gehen könnten.
»Sind Sie die Eltern?«
Schneeganß nickte. »Ja, ich bin die Mutter, das hier ist der Vater. Nach Corinnas Geburt habe ich mich einer Geschlechtsumwandlung unterzogen, und Eugen hat das akzeptiert.«
Grätz blieb ganz ernst. »Ja, und da ich schon immer schwul war, ist mir das sehr gelegen gekommen.«
»Be Berlin«, fügte Schneeganß hinzu.
»Kommen Sie bitte mit.«
»Ist meine Tochter schwer verletzt?«, fragte Schneeganß so besorgt wie möglich.
»Nur das rechte Handgelenk und eine Rippe ist gebrochen. Dazu kommen Kopfverletzungen und der Schock. Unsere Psychologin hat bereits mit ihr gesprochen.«
»War es ein Sturz oder ist sie vor den Zug gestoßen worden?«, fragte Grätz.
»Sie hat von einem Selbstmordversuch gesprochen.«
»Dann danken wir Ihnen«, sagte Grätz.
Die Schwester öffnete die Tür, um sie eintreten zu lassen. Schneeganß blieb stehen, als er sah, dass noch drei andere Frauen im Zimmer lagen. »Ach, noch etwas … Wir hätten Frau Natschinski gern allein gesprochen.«
Die Schwester stutzte und wurde misstrauisch.
»Sie sind doch nicht die Eltern?«
»Nein. Entschuldigung, wir sind von der Kriminalpolizei.« Schneeganß zeigte seine Marke vor. »Wir ermitteln gegen Frau Natschinski wegen … Egal, wir möchten sie jedenfalls allein sprechen.«
»Dann müssen wir ihr Bett in ein leeres Zimmer schieben – aber wir haben keines.«
»Stirbt nicht mal einer?«, fragte Grätz.
»Ja, schon, aber …« Die Schwester hatte immer noch keine rechte Einstellung zu den beiden Beamten gefunden. »Das ist sehr pietätlos. Ich muss erst mal den Oberarzt fragen.«
»Ob einer sterben darf?«, fragte Schneeganß.
»Ob ich Frau Natschinski in ein leeres Zimmer bringen kann.«
Schneeganß fand die Kleine immer süßer und überlegte, mit welchem Leiden er sich ins Urban einliefern lassen konnte, um von ihr verwöhnt zu werden. Sie verschwand und klärte die Sache.
Corinna Natschinski wurde in den Fernsehraum gerollt, wo sie ungestört mit ihr sprechen konnten. Sie sah derart nach Unfallopfer aus, wie man es aus dem Fernsehen kannte, und Schneeganß verspürte fast so etwas wie Langeweile. Auch wusste er nicht wirklich, als was er sie behandeln sollte: Als eine Erpresserin, die möglicherweise Jöllenbeck in den Tod getrieben hatte, oder als eine junge Frau, die gescheitert war und ihr großes Abenteuer fast mit dem Leben bezahlt hätte – wie ihr Freund und Lebensgefährte.
Schneeganß stellte sich vor, danach holte er sich einen Stuhl heran und setzte sich ans Bett. Grätz tat es ihm gleich.
»Sie kennen sich ja aus mit Psychologen, Frau Natschinski«, eröffnete Schneeganß die Partie. »Und wie fangen Therapeuten in der ersten Sitzung immer an? Sie fangen immer an mit den Worten: Erzählen Sie mal … Ja, Frau Natschinski, dann tun Sie das mal bitte.«
»Ich bin Malerin und Bildhauerin«, begann Corinna Natschinski recht kläglich. »Und da hatte Leon die Idee … Also, wo soll ich anfangen …?« Sie schloss die Augen.
»Fangen Sie ruhig bei Leon Völlenklee an. Sie haben zusammengelebt?«
»Ja, in der Dieffenbachstraße, hier gleich nebenan. Leon war bei der CompWorld angestellt, oben in Reinickendorf, hat sich aber immer unterfordert gefühlt. Wie schon in der Schule. Er war ja auch ein genialer Hacker.« Corinna Natschinski suchte nach einem roten Faden. »Ja, und in der Schule, da hat er einen ganz besonders gehasst: den Hagen Narsdorf, der nachher Psychiater geworden ist. Sie hatten sich aus den Augen verloren, dann ist aber ein Klassenkamerad von ihnen ermordet worden, der Henning Hanke, der Schriftsteller, und so sind sie dann bei der Beerdigung wieder aufeinander getroffen. Leon hat sich als Loser gefühlt, und Narsdorf, Dr. Narsdorf, war der erfolgreiche Arzt mit einer großen Praxis und prominenten Patienten. Ja, weiter ist nicht viel zu erzählen, und das wissen Sie ja auch alles: Dass Leon auf die Festplatte von Narsdorf vorgedrungen ist und wir einige seiner Patienten erpresst haben.«
»Wen denn zum Beispiel?«, fragte Grätz.
»Na …« Corinna Natschinski nahm die Finger zur Hilfe. »Erstens mal Narsdorf selbst. Zweitens den Bulkowski, den Kugelstoßer. Drittens den Dr. Mägdesprung, den Schönheitschirurgen. Viertens den Fröttstädt, einen Piloten. Und fünftens diese Millie Malorny, diese Sängerin.«
»Und warum waren die erpressbar?«, wollte Schneeganß ganz dringend wissen, weil er befürchtete, dass Dr. Narsdorf über diese Angelegenheit schweigen würde, so wie es das Gesetz vorschrieb, ärztliche Schweigepflicht.
Bei Corinna Natschinski war das etwas anderes, und sie tat ihm den Gefallen, die Gründe aufzuzählen, warum sie alle, von Bulkowski bis zu Millie Malorny, bei Dr. Narsdorf in Behandlung gewesen waren.
Schneeganß fand das alles sehr eindrucksvoll und schrieb es in Stichworten nieder. Auf die Gerichtsverhandlung freute er sich heute schon. Wann wurden die Zuhörer ausgeschlossen? Wann schickten die Richter und die Datenschützer ihn und Grätz zur Gehirnwäsche, damit sie vergaßen, was sie nicht wissen durften?
»Gut«, sagte Schneeganß, als Corinna Natschinski am Ende war. »Und was ist mit Bernhard Jöllenbeck, dem Rechtsanwalt, den haben Sie nicht erpresst?«
Corinna Natschinski wollte den Kopf schütteln, zuckte jedoch bei der ersten kleinen Bewegung zusammen, weil das offenbar mit starken Schmerzen verbunden war. »Nein, den nicht, den hatten wir zwar auf der Liste, weil er auf Jungs scharf war, der war aber dann schon tot, bevor wir Kontakt zu ihm aufnehmen konnten.«
»Hm …«, murmelte Schneeganß, der nicht so ganz überzeugt von dieser Ausage war.
»Und sie haben alle gezahlt?«, fragte Grätz.
»Die beiden Ärzte ja, Fröttstädt und Bulkowski nicht. Bulkowski hat uns einzuschüchtern versucht, und Fröttstädt hat es darauf ankommen lassen. Millie Malorny hat wirklich Anzeige erstattet, wenn ich die Zeitung richtig gelesen habe.«
Grätz nickte. »Ja, hat sie. Von ihr wissen wir auch Ihren Namen.«
Schneeganß schrieb sich auf, was ihm wichtig erschien. »Ja, Frau Natschinski, das war dann sozusagen der Tragödie erster Teil, in groben Zügen jedenfalls, und nun zum zweiten Teil, zum Tod Ihres Lebensgefährten.«
Corinna Natschinski begann zu schluchzen. »Das ist alles so schrecklich! Das hat er nicht verdient, er hat doch keinen umgebracht!«
»Sollen wir Sie einen Augenblick allein lassen?«, fragte Schneeganß.
»Ja, bitte.«
»Gut, ich rufe die Schwester, und wir gehen für eine halbe Stunde in die Cafeteria.«
Dort fanden sie einen freien Tisch in der hinteren Ecke, und Grätz holte für jeden eine Flasche Mineralwasser. Kaffee konnten sie nicht mehr sehen.
»Das ist ja der Albtraum eines jeden Datenschützers«, sagte Schneeganß.
»Dass wir Selterswasser trinken?«, fragte Grätz.
»Nein, dass das passiert, was die beiden da gemacht haben. Menschen in bestimmten Berufsgruppen müssen eben hundertprozentig funktionieren, und wenn herauskommt, dass sie etwas haben, was im DSM steht, sind sie verloren.«
»DSM?« Grätz hatte nie davon gehört und suchte zu erraten, was sich dahinter versteckte. »Das Deutsche Säufer Monatsheft?«
»DSM gleich Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders, also das Handbuch psychischer Störungen.«
»Ah, danke.« Grätz hob sein Glas und trank. Schneeganß sah aus dem Fenster. »Der mit der größten psychischen Störung dürfte den Bauwagen angesteckt und Völlenklee umgebracht haben.«
Grätz begann zu philosophieren. »Man müsste das ebenso einfach messen können wie den Alkoholgehalt im Blut. Du pustest in ein Röhrchen, und ich kann dir sofort sagen, wie viel Promille Macke du im Gehirn hast.«
Als sie wieder am Krankenbett von Corinna Natschinski standen, hatte sie sich bereits etwas erholt und wohl auch ein Beruhigungsmittel gespritzt bekommen. Sie wollte auf alle Fälle weiter aussagen.
»Es geht ja schließlich darum, dass der gefasst wird, der Leon aufm Gewissen hat.«
Schneeganß hielt seinen Notizblock bereit. »Erzählen Sie bitte einmal, Frau Natschinski, wie das gestern Abend alles abgelaufen ist.«
»Ja …« Sie atmete tief durch. »Mal sehen, ob ich noch alles rekonstruieren kann … Der Schock … Ich war bei einer Vernissage in der Leibnizstraße. Bloß weg vom Fußball und weg von unserer Sache, der Erpressung also. Aber wen treffe ich bei der Vernissage: den Dr. Narsdorf. Deshalb bin ich schnell wieder los und mit dem Fahrrad nach Hause gefahren. Die Straßen waren leer. In der Dieffenbachstraße bin ich auf einmal nicht in unsere Wohnung gekommen, weil das Schlüsselloch verstopft war. Irgendein Kleber. Ich wusste nicht, wo Leon war, und die Tür ging auch nicht auf. Also habe ich mit dem Handy den Schlüsselnotdienst angerufen. Als der gekommen ist, war auch ein zweiter Schlosser da, und der hat mir erzählt, dass Leon ihn bestellt habe. Ein Klaus Soundso. Nach Schluss des Spiels sollte er da sein. Vorher hat er nicht gekonnt, wegen Deutschland gegen Portugal. Und dieser Klaus hat mir erzählt, dass Leon sich solange bei Ritchie im Bauwagen aufhalten wollte, weil ihm nicht gut war. Nachdem die Wohnungstür geöffnet worden war und ich die Leute bezahlt hatte, bin ich los zum Bauwagen. Da habe ich nur noch rauchende Trümmer vorgefunden, und die Feuerwehrleute haben mir erzählt, dass sie einen Mann gefunden und rüber ins Krankenhaus gebracht haben. Ich hin … Ja, und im Urban haben sie mir gesagt, dass es Leon gewesen ist, der gestorben ist und nicht Ritchie, wie ich angenommen hatte. Da habe ich die Nerven verloren und bin ab zum U-Bahnhof. Das Weitere wissen Sie ja.«
Wieder verließen sie die Kräfte, und der herbeigeeilte Oberarzt setzte Schneeganß und Grätz mit einigen harschen Worten vor die Tür.
Sie gingen wieder in die Cafeteria, diesmal um Mittag zu essen. Als sie fertig waren, schaute Schneeganß auf seine Liste. »Bulkowski, Fröttstädt, Dr. Narsdorf, Dr. Mägdesprung, Millie Malorny – Schrägstrich – Nicole Leckscheidt.«
»Die ja wohl nicht, die hat ja Anzeige erstattet«, wandte Grätz ein.
»Richtig. Kommen aber noch die hinzu, die es vielleicht gar nicht auf Völlenklee abgesehen hatten, sondern auf Ritchie, warum auch immer.«
»Da haben wir nur einen, diesen – wie hieß er?«
Auch Schneeganß musste einen Augenblick überlegen. »Schwenz, wie Schwanz nur mit e. Motiv: Rache für den Tod von Jöllenbeck, in der Annahme, dass Ritchie Jöllenbeck vor die U-Bahn gestoßen hat. Und Schwenz hat ja nicht wissen können, dass Völlenklee statt Ritchie im Bauwagen schläft.«
»Das ist mir zu viel Arbeit«, sagte Grätz. »Die alle abzuklappern. Warten wir erst mal ab, was die Techniker herausfinden. Vielleicht hat auch nur einer einen Knallkörper aus dem Auto geworfen, und der Bauwagen hat Feuer gefangen, oder einer hat ihn angesteckt, weil da die falsche Fahne rausgehangen hat.«
Diese Spekulationen hatten allerdings ein Ende, als Schneeganß’ Handy klingelte und die Techniker meldeten, es sei ein Brandbeschleuniger verwendet worden, und zwar ganz gewöhnliches Benzin. Die Tat musste demzufolge geplant gewesen sein.
Schneeganß stand auf. »Also: hopphopp, gehen wir Klinken putzen und fragen die Leute nach ihren Alibis.«
*
Es kam zunächst das Wochenende dazwischen, und erst am Mittwoch, als Deutschland und die Türkei im Halbfinale der Europameisterschaft aufeinandertreffen sollten, waren sie mit ihren Hausbesuchen durch. Schneeganß, der einen sichtlichen Spaß an solchen Protokollen hatte, setzte sich danach an den Computer, um festzuhalten, was die Gespräche mit den Tatverdächtigen 1-6 bis zu dieser Stunde ergeben hatten:
1. Dr. Hagen Narsdorf
Gibt ohne Weiteres zu, dass zwischen ihm und Völlenklee eine ›innige Feindschaft‹ bestanden und er dessen Erpressung als existentielle Bedrohung gesehen habe. Hat kein Alibi für die Tatzeit, will, nachdem er Corinna Natschinski bei der Vernissage in der Leibnizstraße getroffen hatte, ziellos durch die Straßen gestreift sein. Sein Auto sei in der Mommsenstraße geparkt gewesen, er sei aber erst weit nach Ende des Fußballspiels eingestiegen und nach Hause gefahren. Es gibt niemanden, der das bestätigen kann.
Sein Einwand, er wäre ja schön dumm gewesen, Völlenklee und Corinna N. zu töten, weil ja damit alles an die Öffentlichkeit gekommen wäre und er als Hauptverdächtiger dagestanden hätte, ist nicht von der Hand zu weisen, kann aber auch als strategische Finte gesehen werden. Von sich aus erzählt er uns, Bulkowski gebeten zu haben, Völlenklee einzuschüchtern und von der Erpressung abzubringen.
2. Dr. Mägdesprung
Erzählt, dass Corinna Natschinski bei ihm gewesen sei. Er habe willig gezahlt. Die Erpressung sei für ihn ein Schicksalsschlag, ein Unfall gewesen, und dagegen sei man machtlos. Viel mehr habe ihn getroffen, dass der Sohn seiner Lebensgefährtin Sabrina Immelborn, Richard (= Ritchie), in die Sache verwickelt sei. Völlenklee, Corinna Natschinski und Ritchie hätten früher in einer WG zusammengelebt. Was da im Einzelnen geschehen sei, wisse er nicht, da sollten wir Frau Immelborn direkt befragen. Auf die Idee, seine Erpresser zu eliminieren, sei er nie gekommen, weil das seine Probleme nicht gelöst hätte, ganz im Gegenteil. Ein Alibi hat er nicht: Er will allein zu Hause gesessen und das Fußballspiel verfolgt haben.
3. Sören Fröttstädt
Ist bisher nicht zu erreichen gewesen, hat sich aber laut Auskunft seiner Fluggesellschaft zur Tatzeit auf dem Flug Korfu–Berlin Tegel befunden. Dass er jemanden mit dem Anschlag auf den Bauwagen beauftragt haben könnte, das kann wohl ausgeschlossen werden.
4. Maik Bulkowski
Steht der rechten Szene nahe und gilt als sehr impulsiv, kanalisiert seine Aggressionen im Kugelstoßen und Gewichtheben. Gegen ihn sprechen seine Angriffe auf Völlenklee. Augenzeugenberichten zufolge soll er etwa drei Stunden vor dem Brand des Bauwagens in der Dieffenbachstraße auf Völlenklee zugerast und erst kurz vor ihm zum Stehen gekommen sein. Er gibt an, von Dr. Narsdorf dazu gebracht worden zu sein. Mit dem Abfackeln des Bauwagens will er nichts zu tun gehabt haben, hat jedoch kein Alibi zur Tatzeit. Nach der ›Scheinhinrichtung‹ (O-Ton) will er in verschiedenen Lokalen zwischen Südstern und den Yorckstraßenbrücken das Fußballspiel verfolgt haben, kann aber keine genauen Angaben dazu machen. Eine Durchsuchung seines Motorbootes hat Benzin von der Art zutage gebracht, wie es auch in der Urbanstraße als Brandbeschleuniger benutzt worden ist. Further research is needed (es sei denn, wir konzentrieren uns mehr auf die nachfolgenden Tatverdächtigen).
5. Sabrina Immelborn
Sie könnte den Bauwagen aus zweierlei Gründen in Brand gesteckt haben: a) weil er für sie das Symbol des Elends ihres Sohnes gewesen ist und weil sie Ritchies Rückkehr an diese Stätte ein für alle Mal ausschließen wollte und b) weil sie Völlenklee die Schuld für das Abgleiten ihres Sohnes in die Drogenszene gegeben hat und sich an ihm rächen wollte. Im ersten Fall hat sie angenommen, der Wagen sei leer, im zweiten sehr wohl gewusst, dass Völlenklee dort gelegen hat. Die Frage ist: Hätte sie nicht erst nachsehen müssen, ob der Wagen leer ist, also klopfen müssen? Sie streitet generell ab, das Krankenhaus für längere Zeit verlassen zu haben, sie sei höchstens einmal auf die Straße getreten, um eine Zigarette zu rauchen. Zeugen kann sie nicht angeben. Ihr Alibi ist sehr wacklig. Eine erste Befragung der Krankenschwestern wie der Mitarbeiterin an der Rezeption hat nichts ergeben, auch hier muss weiter nachgeforscht werden.
6. Werner Schwenz
Sein Motiv liegt auf der Hand: Rache für Jöllenbeck, den er einmal sehr geliebt hat und für dessen Tod er Ritchie verantwortlich macht, das auch offen sagt. Dass Eifersucht im Spiel ist und er den Jungen hasst, streitet er nicht ab, behauptet aber, zu einer solchen Tat unfähig zu sein. Dass die Videoaufzeichnung eher für einen Selbstmord Jöllenbecks spricht, will er nicht wahrhaben. Ein Alibi hat er nicht. Er will zur Tatzeit allein vor dem Fernseher gesessen und Deutschland gegen Portugal gesehen haben.
Generell ist zu diskutieren, wie die Tatverdächtigen 1, 2, 4 und 5 erfahren haben, dass sich Völlenklee und nicht Richard Immelborn (Ritchie) zur fraglichen Zeit im Bauwagen aufgehalten hat. Sie streiten das zwar alle ab, aber am wahrscheinlichsten ist, dass sie Völlenklee beim Verlassen seines Wohnhauses beziehungsweise des Urban-Krankenhauses beobachtet haben. Diese Vermutung trifft am ehesten auf Maik Bulkowski und Sabrina Immelborn zu, die sich nachweislich in der Gegend aufgehalten haben. Dr. Mägdesprung könnte von seiner Partnerin gehört haben, dass Völlenklee und ihr Sohn wieder Kontakt miteinander haben und Völlenklee und Corinna Natschinski schon mindestens einmal zu Gast im Bauwagen gewesen sind. Von Relevanz ist auch die Tatsache, dass der Bauwagen abgeschlossen war und der Schlüssel innen in der Tür gesteckt hat.
»Was nun?«, fragte Grätz, als er Schneeganß’ Aufzeichnungen durchgelesen hatte.
»Keine Ahnung.« Schneeganß gab nur ungern zu, ratlos zu sein, doch in diesem Falle konnte er nicht anders. »Am besten, wir würfeln, danach wissen wir, wer es war. Früher nannte man so etwas ein Gottesurteil, und der Umstand, dass wir sechs Tatverdächtige haben, ist ein deutlicher Fingerzeig, so zu verfahren. Hast du einen Würfel dabei?«
»Ja, sechs sogar, denn am Freitag ist Spieleabend bei uns zu Hause, und da ist zum ersten Mal auch Kniffel dabei, deshalb habe ich vorhin welche gekauft.«
»Mensch, noch ein Zeichen des Himmels!«, rief Schneeganß. »Los, würfel!«
Grätz kam der Weisung nach. Der Würfel rollte lange aus und zeigte schließlich eine Eins.
»Dr. Narsdorf!«, rief Grätz. »Auf den hätte ich sowieso getippt. Die alte Devise der Linken: Macht kaputt, was euch kaputt macht. Und Völlenklee hat ja sein Leben zerstört.«
»Klingt logisch«, sagte Schneeganß. »Das Duell, das im Klassenzimmer begonnen hatte …«