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Nach außen hin funktionierte Sören Fröttstädt wie immer. Auch das, was viele seiner Passagiere verwundert aus dem Kabinenfenster schauen ließ und bei denen, die unter Flugangst litten, fast eine Panikattacke auslöste, war reine Routine: der Start von Korfu aufs offene Meer hinaus, also in die falsche Richtung, wollte man nach Deutschland. Da jedoch die Albaner darauf bestanden, dass ihre öden Berge nur in großer Höhe überflogen werden durften, mussten sie erst eine große Schleife fliegen, um sich nach oben zu schrauben.

Als sie endlich Kurs auf Berlin-Tegel nehmen konnten, war es Zeit, die Passagiere zu informieren, Fröttstädt schaffte es heute nicht, sein Verslein herunterzubeten und überließ seinem Kopiloten das Mikrofon.

»Was ist denn los mit dir?«

»Hör auf, nichts ist los mit mir. Alles roger.« Doch nichts war mit ihm in Ordnung, und der

Seelenklempner, zu dem er gegangen war, hatte ihm auch nicht helfen können, so oft er in dessen Sessel gesessen und mit ihm geredet hatte, frei assoziiert, wie das bei denen hieß …

 

»Sie sprechen da von Demütigungen und Deprivationen, Herr Fröttstädt, ich hätte gern noch ein paar Details zu Ihrer Kindheit gewusst.«

Fröttstädt schloss die Augen. »Ich bin in Lichterfelde aufgewachsen.«

Der Therapeut sah ihn fragend an. »Das ist allerdings eine eher feudale Wohngegend …?«

»Ja, schon, aber mein Vater war Hausmeister und hatte in seiner Schule eine Dienstwohnung. Meine Mutter war Näherin. Sie haben fürchterlich berlinert. Ich habe mich immer geschämt, wenn Klassenkameraden bei uns zu Hause waren und die beiden den Mund aufgemacht haben. Mein Vater kam aus Prenzlauer Berg und ist noch kurz vor der Mauer in den Westen rüber, und meine Mutter ist im Wedding groß geworden, Kösliner Straße.«

Der Therapeut wollte es auf den Punkt bringen. »Sie haben unter Ihrer – wie sagte man früher – proletarischen Herkunft immer etwas gelitten?«

»Ja, so lieb und nett meine Eltern auch waren, die anderen in der Klasse hatten Ärzte, Bankdirektoren oder Professoren als Väter, und die Mütter waren zumindest Grundschullehrerin.«

»Und Sie wollten von Anfang an hoch hinauf?«

Fröttstädt lachte. »Klar, darum bin ich ja auch Pilot geworden. Hohes Einkommen, hohes Prestige. Nein, aber … Otto Lilienthals künstlicher Fliegerberg lag ja bei uns gleich um die Ecke, und da haben wir uns als Kinder oft aus Papier und Pappe Flügel gebastelt und die tollkühnen Männer in ihren fliegenden Kisten gespielt. Später waren es dann Modellflugzeuge mit und ohne Motor. Da ist dann eins zum anderen gekommen. Fliegen war eben ›passion and obsession‹. Nach dem Abitur bin ich erst zur Bundeswehr gegangen und habe da das Fliegen gelernt, danach zur Lufthansa. Zwei Jahre hat die Ausbildung gedauert, teils in den USA, teils in Deutschland. Die Ausbildungskosten waren immens, und ich habe viele Jahre lang meinen Kredit abzahlen müssen. Dann war ich über zehn Jahre Kopilot, und als ich es zum Kapitän gebracht hatte, bin ich zu einer anderen Gesellschaft gegangen.«

Der Therapeut hatte eifrig mitgeschrieben. Jetzt sah er wieder auf. »Inzwischen sitzen Sie nicht mehr ganz so gern im Cockpit …?«

Fröttstädt wich ihm aus. »Es ist wie mit dem Sex, wenn man jahrelang verheiratet ist.«

Der Therapeut nickte. »Ja, natürlich. Wo wir gerade bei Ihrer Ehe sind: Ihre Frau hat sich von Ihnen getrennt?«

Fröttstädt lachte bitter. »Ja, weil ich so selten zu Hause war. Klar, wenn man einen Piloten heiratet.« Er starrte gegen die Decke. »Schön, da war auch ab und an mal die eine oder andere Kollegin, aber … Nichts Ernsthaftes. Nun ist Gabriele mit den beiden Kindern nach Templin gezogen, und ich kann sie praktisch nur zu Weihnachten sehen: meinen Sohn und meine Tochter.«

»Sind Sie Single oder …?«

Fröttstädt war den Tränen nahe. »Es ist wie ein Fluch. Kelly, eine New Yorkerin, und ich wollten irgendwann heiraten, doch sie hat Selbstmord begangen. Warum, weiß ich nicht, mit dem 11. September hängt das nicht zusammen. Oder doch? Weil ich Pilot war? Ich weiß es nicht. Jedenfalls habe ich danach zu trinken angefangen. Immer so, dass ich am nächsten Morgen im Cockpit wieder nüchtern war, nur im Urlaub war ich tagelang betrunken … Sie wissen ja, dass das irgendwann … Und darum bin ich ja auch hier. Dazu kommt, dass ich neuerdings an Höhenangst und an Flugangst leide. Stellen Sie sich das vor: ein Pilot mit Höhenangst und der Angst hat, dass die Triebwerke jeden Moment ausfallen können oder dass Feuer in der Kabine ausbricht.«

»Die Angst vor dem Absturz«, murmelte der Therapeut. »Das kenne ich und nenne es für mich selbst immer das Ikarus-Syndrom. Zu hoch hinaus.«

Diese Szene ging Fröttstädt immer wieder durch den Kopf, während sie den Autopiloten eingeschaltet hatten und über den Balkan Richtung Deutschland flogen. Wenn es mit ihm so weiterging wie in den letzten Jahren, landete er in der Psychiatrie, bevor er seinen 40. Geburtstag feiern konnte. Oder auf dem Friedhof. Was allerdings das bessere Los war, verglich er es mit dem Leben seiner Mutter, die mit schwerer Demenz ins Seniorenheim gekommen war.

›Glücklich kann nur der sein, der nie gezeugt worden ist.‹

Dieser Satz ging ihm nicht mehr aus dem Kopf, während er in seinem Sessel lag und seinen Kopiloten das Wesentliche machen ließ.

›Lieber ein Ende mit Schrecken …‹

Plötzlich verspürte er den Impuls, die Nase seiner Maschine nach unten zu ziehen und im Sturzflug auf die Erde zuzurasen, bis sie an irgendeinem Berg zerschellten. Noch konnte er sich beherrschen. Es wäre auch sinnlos gewesen, denn Patrick, sein Kopilot, war viel kräftiger als er, und im Zweikampf mit ihm hatte er keine Chance, ihren Bordcomputer auszutricksen.

Patrick sah ihn von der Seite mit glasigen Augen an. »Ist dir auch so schlecht?«

»Nein, wieso?«

»Weil du so verkrampft aussiehst.«

Fröttstädt schüttelte den Kopf. »Nee, mir geht es blendend.«

»Mir nicht.« Patrick drückte sich aus dem Sitz und hielt sich den Magen. »Ich muss mal dringend auf die Toilette.«

Fröttstädt saß allein im Cockpit und hatte vielleicht drei Minuten Zeit.