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Völlenklee saß am Computer und las Corinna vor, was sich im Internet über Erpressung finden ließ.
»Strafgesetzbuch, Paragraph 253: ›Wer einen Menschen rechtswidrig mit Gewalt oder durch Drohung mit einem empfindlichen Übel zu einer Handlung, Duldung oder Unterlassung nötigt und dadurch dem Vermögen des Genötigten oder eines anderen Nachteil zufügt, um sich oder einen Dritten zu Unrecht zu bereichern, wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit Geldstrafe bestraft.‹«
»Bis zu fünf Jahren …«, wiederholte Corinna und sah nachdenklich aus dem Fenster.
»Ja, aber das gilt nur für die besonders schweren Fälle, und da darf sie auch nicht unter einem Jahr liegen«, sagte Völlenklee ergänzend. »Und ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel nur vor, wenn der Täter gewerbsmäßig oder als Mitglied einer Bande handelt, die sich zur fortgesetzten Begehung einer Erpressung verbunden hat.«
»Sind wir beide schon eine Bande?«, fragte
Corinna.
»Ach Quatsch!«, rief Völlenklee. »Und außerdem ist unsere Tat gar nicht rechtswidrig.«
»Wieso denn das?«
»Weil hier steht, Paragraph 253, Absatz 2: ›Rechtswidrig ist die Tat, wenn die Anwendung der Gewalt oder die Androhung des Übels zum angestrebten Zweck als verwerflich anzusehen ist.‹« Völlenklee hörte auf zu googeln. »Was ist denn daran verwerflich, wenn wir einem Kurpfuscher wie Narsdorf das Handwerk legen? Und bei den anderen? Bei Fröttstädt und Mägdesprung retten wir wahrscheinlich vielen Menschen das Leben, wenn die sich einen anderen Beruf suchen müssen, und wenn wir dieses Arschloch von Bulkowski aus dem Verkehr ziehen, müssten wir das Bundesverdienstkreuz dafür kriegen: Seine Medaillen hat er durch Betrug gewonnen, und Stasi-Schwein war er sicherlich auch.«
»Gehen wir noch was trinken?«, fragte Corinna.
»Wohin denn?«, kam die Gegenfrage. »Auch in der kleinsten Pinte sitzen jetzt mit Sicherheit die ganzen Schwachköpfe, die Fußball sehen. Deutschland, Deutschland, über alles! Die großen Polen gestern 2:0 geschlagen. Fußball ist ja sehr schön, aber nur ohne all diese Debilen, die sich derzeit an ihm hochziehen.«
»Deutschland spielt erst am Donnerstag wieder, heute kriegen wir bestimmt irgendwo ’n Platz.«
»Na schön …« Völlenklee schaltete seinen Computer aus und folgte Corinna, die bereits im Treppenhaus war. »Und aufpassen! Wenn Bulkowski …«
Doch der Kugelstoßer war nirgends auszumachen. Sie beschlossen, eine kleine Runde zu drehen. Über die Dieffenbach-, Grimm-, Urbanund Geibelstraße zum Urbanhafen und anschließend am Landwehrkanal entlang zum Planufer, wo es genügend Biergärten gab.
»Meinst du, Bulkowski startet eine neue Attacke?«, fragte Corinna.
»Sicher. Aber das ist doch alles nur Bluff.« Völlenklee bemühte sich, die Sache leichthin abzutun. »Das ganze Leben ist ein Pokerspiel, was meinst du denn, warum die Leute das im Fernsehen so gerne sehen?«
»Das Leben als Zufallsgenerator … Das Schicksal teilt die Karten aus.« Corinna überlegte, wie sie diesen Satz am besten in Bilder umsetzen konnte. Als was man auf die Welt kam, entschied ja auch schon der große Zufallsgenerator. Man hatte ein bestimmtes Blatt zugeteilt bekommen, und wer schlechte Karten hatte, dem blieb nur die Chance zu bluffen, wollte er nicht zu den Verlierern gehören.
Als sie die Urbanstraße entlanggingen, sahen sie auf Höhe des Nachbarhauses aus einem Bauwagen einen jungen Mann klettern, in dem Völlenklee bei genauerem Betrachten Ritchie erkannte. Er erinnerte sich an ihre Begegnung vor nicht allzu langer Zeit.
»Mensch, das ist Ritchie!«, rief Völlenklee.
»Der aus unserer WG?«
»Ja, wer denn sonst.«
Corinna war über diese Begegnung keineswegs begeistert und hatte Völlenklee am Arm gepackt und »Komm weiter!« gerufen, allerdings war das bereits zu spät erfogt, da Ritchie über die Straße gelaufen kam.
»Mensch, Leon, Alter! Hey, Corinna! Sagt bloß, ihr wolltet mich besuchen?«
Völlenklee schaltete auf Abwehr, weil er wusste, dass Corinna etwas gegen Ritchie hatte. »Wieso denn das?«
»Hattest du mir doch versprochen.« Ritchie grinste und zeigte auf seinen Arm, auf dem unzählige Nadeln ihre Spuren hinterlassen hatten. »Man kann ja nie wissen.«
»Nein, deswegen bestimmt nicht. Und auch sonst …«
Bei Corinna hatte sich inzwischen genügend Mitleid eingestellt, um milder zu reagieren. »Du, heute Abend haben wir einen wichtigen Termin, aber die nächsten Tage kommen wir mal bei dir vorbei.«
»Schwört ihr’s?«
»Ja.«
Ritchie kehrte in seinen Bauwagen zurück, sie setzten ihren abendlichen Rundgang fort, ganz bürgerliches Paar. Unten auf der Wiese am Urbanhafen war Berlin an diesem Sommerabend Anfang Juni besonders idyllisch. Überall lagerten Gruppen und Pärchen unterschiedlichster ethnischer Herkunft, tranken Bier und anderes, erfreuten sich an dem, was ihre tragbaren DVD-Player und I-Pods an Hits hergaben und schmusten bis in die Nähe des Pettings. Nur Single-Frauen lasen, Zeitschriften oder dicke Romane. Hunde und Kinder wuselten umher. Sightseeing-Schiffe zogen zur Admiralsbrücke.
Es war kaum ein freies Plätzchen zu finden, und als Völlenklee und Corinna endlich eines entdeckt hatten, sprang Völlenklee sofort wieder auf, denn auf der Decke neben ihnen war eine türkische Kopftuchmutter gerade dabei, eine Wassermelone zu spalten und an ihre Familie zu verteilen.
»Was hast du?«, fragte Corinna.
»Mensch: Bulkowski! Wenn ich eine Melone sehe, denke ich … Das bleibt ein Trauma, mein Leben lang.«
Aus diesem Grund gingen sie in einen Biergarten. Kaum hatten sie sich niedergelassen, wollte Völlenklee wieder aufspringen. »Mensch, hier nebenan wohnt Fröttstädt. Da kann ich gleich mal …« Er lief zum Hauseingang und klingelte. Doch wiederum ohne Erfolg. »Wenn wir wenigstens seine Handynummer hätten«, stöhnte er, nachdem er wieder am Tisch Platz genommen hatte.
»Wir haben ihm doch schon einen Brief geschrieben«, sagte Corinna. »Ihm und dieser Millie Malorny.«