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Sören Fröttstädt hatte ein paar Tage Urlaub, und da war es das Schönste für ihn, zu Hause in Berlin zu sein und nicht fliegen zu müssen. Mitunter entwickelte er geradezu einen Hass gegenüber Menschen, die vom Reisen und von fernen Ländern schwärmten. Das dauernde Leben im Hotel hatte seine Fähigkeiten, sich selbst das Frühstück zu bereiten, ziemlich verkümmern lassen, und so blieb ihm nur der Gang ins Café, wenn er nicht Hunger leiden wollte. Es war kurz vor 12 Uhr mittags, als er sich auf den Weg zur Kottbusser Brücke machte, da er als Folge des Jetlags nach jedem Aufwachen sofort wieder eingeschlafen war. Er fand einen freien Platz an einem der Tische, die man nach mediterraner Sitte auf den Bürgersteig gestellt hatte, und gab seine Bestellung auf.

»Du siehst heute so traurig aus«, stellte die Studentin fest, die mit dem Notizblock vor ihm stand. Mara. Dass sie ihn duzte, bedeutete gar nichts, leider, hier duzten sich alle.

»Ich komme gerade von meiner eigenen Beerdigung«, antwortete Fröttstädt. »So fühle ich mich jedenfalls.«

»Bist du nicht Pilot?«

»Ja, bei Crash Airways. Woher weißt du das, bist du mal mit mir geflogen?«

»Nein. Mein Freund kennt dich, der ist bei der Flugsicherung.«

Fröttstädt war enttäuscht. Fing eine an, von ihrem Freund zu reden, hieß das für ihn: Stopp, bemüh dich nicht weiter! Er erinnerte sich an einen Spruch, mit dem ein Freund früher in der Schule geprahlt hatte: ›Die ist nicht ohne zwingenden Grund von der Bettkante zu weisen.‹ Irgendwie erinnerte Mara ihn an Kelly, seine New Yorker Freundin. Sie hatte zu viele Tabletten geschluckt. Aus Angst, Krebs zu haben. Er kam von dem Gedanken nicht los, dass sich Kelly das Leben einzig deshalb genommen hatte, um ihn nicht heiraten zu müssen. Durch ihren Tod hatte sie sich nur verbessern können.

Beim Schmieren seiner Schrippen dachte er an die Zeiten, in denen er mit seiner Familie gefrühstückt hatte, draußen in Lichtenrade auf der Terrasse ihres Kampa-Hauses. Vorbei. Warum hatte es Gabriele mit ihm nicht mehr aushalten können? Er wusste keinen Grund. Andere Männer waren von einer Aura umgeben, konnten Frauen glücklich machen und dauerhaft an sich binden, er hatte das Gefühl, wie ein schwarzes Loch auf sie zu wirken, weshalb sie so schnell wie möglich die Flucht ergriffen. Wahrscheinlich ahnten sie etwas von seinen psychischen Problemen. Seine Ängste erschienen ihm wie winzige Quasare, sie mussten Wellen aussenden, die sensible Frauen empfangen konnten.

Fröttstädt spuckte seinen Kaffee in die Tasse zurück. Das Zeug schmeckte so bitter, jemand musste Gift hineingeschüttet haben. Es wurde immer schlimmer mit ihm. Während er seinen Orangensaft trank, etwas Flüssigkeit musste schließlich sein, formulierte er bereits, was er Dr. Narsdorf bei der nächsten Sitzung sagen wollte: »Meine Höhenangst nimmt immer mehr zu. Sitze ich im Cockpit, habe ich Angst, dass sich plötzlich unter mir eine Falltür öffnet und ich in die Tiefe stürze. Ohne Fallschirm. Und bei jedem Flug spüre ich die Versuchung, zum Sturzflug anzusetzen. Über den Alpen an einem Felsen zerschellen … Aber das kommt nicht aus mir, irgendjemand muss mir heimlich etwas ins Essen tun, der Kaffee schmeckt immer bitterer.«

Er fühlte sich krank, er fühlte sich verloren. Das Einzige, was ihm in diesem Zustand helfen konnte, war eine Flasche Whisky. Er ging in einen Supermarkt am Kottbusser Damm, um sich eine zu kaufen. Heute und morgen hatte er dienstfrei, da ging er kein Risiko ein. Dr. Narsdorf würde ihm wieder Vorhaltungen machen, aber dann konterte er mit seinem Lieblingsspruch: »Glück hat auf Dauer nur der Süchtige.«

Die Plastiktüte mit der Whiskyflasche wäre ihm fast aus der Hand gefallen, als er seinen Briefkasten aufschloss und ihm eine Lawine von Briefen, Gratiszeitungen und Flyern entgegenkam. Er sammelte alles auf und trug es nach oben. Das meiste kam gleich in den Müll, nur wenige Absender interessierten ihn. Eine Ex-Freundin aus Montreal, ein Cousin aus Wismar. Ein Leon Völlenklee aus der Dieffenbachstraße. Er kannte keinen Leon Völlenklee. Vielleicht ein Passagier, der ihm danken wollte. Mit einem kleinen blauen Schälmesser schlitzte er den Umschlag auf.

 

Sehr geehrter Herr Fröttstädt,

 

erschrecken Sie nicht, wir meinen es gut mit Ihnen. Wir haben mehrfach versucht, Sie persönlich anzusprechen, aber Sie sind leider sehr selten zu Hause. Es geht um eine Partnerschaft, die wir mit Ihnen eingehen wollen. Sie helfen uns, unseren Lebensunterhalt zu bestreiten, und wir helfen Ihnen, sodass Sie weiterhin als Pilot arbeiten können. Die Summe, die wir von Ihnen erwarten, ist Verhandlungssache, da uns klar ist, dass man die Kuh nicht schlachten darf, die einem die Milch geben soll. Sie wissen nicht, worum es geht? Nun, kurz und gut: Wir haben ein Dokument in der Hand, dem zu entnehmen ist, dass Sie Alkoholiker sind und andere schwerwiegende psychische Probleme haben (siehe Anlage). Erfährt Ihre Fluggesellschaft davon, feuert man Sie auf der Stelle. Also: Reden Sie mit uns! Wir werden uns in den nächsten Tagen bei Ihnen melden und Zeit und Ort ausmachen.

 

Mit den besten Grüßen

Ihr Leon Völlenklee.

 

 

Fröttstädt war darauf trainiert, in kritischen Situationen nicht durchzudrehen, und deshalb saß er auch in diesem Moment ruhig an seinem Küchentisch und analysierte die Lage. Den Erpressern war es offenbar gelungen, auf die Festplatte von Dr. Narsdorf vorzudringen. Dies und ihr Stil verwies darauf, dass es intelligente Menschen waren. Verblüffend war, dass der Schreiber des Briefes Namen und Adresse angegeben hatte. Das zeigte, dass er sich seiner Sache sehr sicher war und ausschloss, dass er, Fröttstädt, sofort zur Polizei lief. Offenbar glaubte er an einen stark entwickelten Selbsterhaltungstrieb bei seinem Opfer und war auf eine Art parasitäre Symbiose aus.

»Da habt ihr euch bei mir aber gewaltig getäuscht!«, rief Fröttstädt, nun doch in einer Kurzschlussreaktion, und sprang auf. »Ich gehe zur Polizei und mache allem ein Ende!« Ihrem kriminellen Treiben und seiner Laufbahn als Pilot.

Erst auf dem Weg zur Tür fiel ihm ein, dass er gar nicht wusste, wo sich das nächste Polizeirevier befand. Er setzte sich an den Computer, um im Internet nachzusehen. Die Gelben Seiten meldeten ihm: ›Innerhalb einer Entfernung von 50 km zu Berlin Kreuzberg wurden für Polizeireviere keine Brancheneinträge gefunden. Möchten Sie den Suchraum erweitern?‹ Er fühlte sich verhöhnt und hätte fast mit der Faust auf die Tastatur geschlagen, konnte sich aber gerade noch beherrschen. Stattdessen öffnete er seine Whiskyflasche und nahm den ersten langen Schluck. Eventuell war es besser, gleich bei der Kripo anzurufen. Nur wo saßen die Fachleute für Erpressung? Am Platz der Luftbrücke, in der Keithstraße, in der Gothaer Straße?

Fröttstädt zögerte, zum Telefon zu greifen und die Auskunft anzurufen. Anzeige zu erstatten und damit seine psychischen Defizite bloßzulegen, war sozialer Selbstmord. Warum nicht gleich richtigen Selbstmord begehen? Als Pilot war er ein penibel bürokratischer Mensch und setzte sich an den Tisch, um auf einem Blatt Papier die Möglichkeiten festzuhalten, die es dafür gab, und sich dann in aller Ruhe zu entscheiden. Bis fünf kam er: 1. Sich vor den Zug werfen (U- oder S-Bahn, ICE?); 2. Von einem Hochhaus springen; 3. Sich erhängen; 4. Tabletten schlucken; 5. Sich die Pulsadern aufschneiden.

Als er fertig war, konnte er sich nicht entscheiden. »Ich bin es eben gewohnt, Anweisungen vom Tower zu bekommen«, spottete er über sich selbst. Dass er das in dieser Situation konnte, zeigte ihm an, dass nach wie vor genug Lebenskraft in ihm steckte. Nach einem weiteren Schluck aus der Flasche nahm er endgültig Abstand vom Selbstmord.

Das Telefon klingelte, und er wusste, dass es dieser Völlenklee war. Er nahm den Anruf entgegen und wartete ab, was kommen würde.

»Wir treffen uns in einer Viertelstunde vor der Buchhandlung in der Körtestraße«, sagte der Erpresser. »Gegenüber dem Eingang zu den Höfen am Südstern. Ich frage Sie: Glauben Sie, dass die hier auch was über die Pilotenausbildung haben? Und Sie antworten: Ja, etwas von einem Leon Völlenklee. Damit nichts schiefgeht werde ich meine Partnerin mitbringen, Corinna, nur dass Sie keinen Schreck bekommen. Bis gleich!«

Fröttstädt stellte sein Mobilteil zurück in die Basisstation und glaubte einige Sekunden lang, die Welt würde sich in kosmische Nebel auflösen, und er mit ihr. Alles zerfloss zu einem Nichts. Wo war er? Wer war er? Er schloss die Augen, hielt sich am Türpfosten fest und dachte, dass er nun endgültig reif war für die Psychiatrie. Es erschütterte ihn nicht sonderlich. Eine Auszeit vom Leben war vielleicht die beste Lösung.

Kurz darauf schrie es jedoch in ihm »Kämpfen! Kämpfen!«, und er machte sich klar, dass er bereits durch viele Gewitterfronten geflogen war und seine Maschine bei den schrecklichsten Scherwinden sicher zu Boden gebracht hatte. Der Alkohol tat sein Übriges, sodass er fast euphorisch in die Körtestraße eilte.

Er war kein besonderer Freund von Krimis, wusste aber, dass man sich in solchen Situationen besser erst einmal bedeckt hielt. Deshalb lief er auf dem östlichen Bürgersteig der Körtestraße entlang und tat so, als wollte er zum Südstern. Wie zufällig ging sein Blick zur Buchhandlung hinüber. Da stand und wartete niemand. Somit lief er in normalem Fußgängertempo zur Hasenheide, machte dort kehrt und hielt auf dem Rückweg vor einem Spielwarengeschäft, dessen große Schaufensterscheiben ihm die Gelegenheit boten, unauffällig zu beobachten, was auf der anderen Straßenseite vor sich ging. Nach etwa zwei Minuten tauchte drüben ein Pärchen auf, das offensichtlich Ausschau nach jemandem hielt und vor der Buchhandlung Halt machte. Sie sah mit ihren kupferroten Haaren wie eine Künstlerin aus und wirkte eigentlich recht lebensfroh, er dagegen schien der Körperhaltung zufolge eher depressiv gestimmt zu sein und erinnerte mit seiner Brille und seinen langen, etwas wirren Haaren an einen Physiker, der immer wieder aufs Neue scheiterte, Einsteins E = mc2 zu widerlegen. Nun, das schienen an sich keine Gegner zu sein, die er groß zu fürchten hatte, allerdings hatten sie im Augenblick alle Trümpfe in der Hand. Erst, wenn er seinen Beruf aufgab, waren sie die Verlierer. Er schlenderte hinüber und ließ sich ansprechen.

»Glauben Sie, dass die hier auch was über die Pilotenausbildung haben?«

Er legte ein Höchstmaß an Coolness an den Tag. »Ja, etwas von einem Leon Völlenklee. Das sind Sie also?«

»Ja, und das ist Corinna.«

Fröttstädt lächelte. »Schön, dass Sie mit offenen Karten spielen.«

»Wir setzen uns drüben auf eine Bank, da können wir ungestört miteinander reden«, sagte Völlenklee.

»Okay.«

Sie überquerten die Körtestraße, wo es zu Füßen des Fichtebunkers eine Grünanlage mit Sport- und Spielplätzen gab. Ein paar Jungen kickten, andere lungerten herum, einige Mütter buddelten mit ihren Kleinen, keiner beachtete sie. Eine Gruppe jüngerer Männer hatte eine Menge zu bereden. Dass die Türken die Tschechen in einem Wahnsinnsspiel besiegt und in der letzten Viertelstunde aus einem 0:2 ein 3:2 gemacht hatten, dass die Deutschen mit einem dürftigen 1:0 gegen die Österreicher eine Runde weitergekommen waren und es kein zweites Cordoba gegeben hatte.

Sie setzten sich. Fröttstädt an den linken Rand der Bank, Völlenklee neben ihn, dann Corinna. Die Sonne schien, es wurde langsam wieder wärmer.

Corinna brach als Erste das Schweigen. »Schön, dass Sie so kooperativ sind«, sagte sie zu Fröttstädt, indem sie sich etwas vorbeugte, sodass sie an Völlenklee vorbeisehen konnte.

»Das wird sich noch herausstellen.« Fröttstädt wusste nicht, zu welcher Strategie er sich entschließen sollte. Zu verhandeln und zu pokern war nicht sein Metier. Folglich blaffte er Corinna zunächst einmal an. »Was soll das alles, was wollen Sie eigentlich von mir?«

»Geld«, antwortete Völlenklee. »Nicht viel, nur so viel, wie Sie ohne Weiteres entbehren können.«

»Geld – wofür?«

»Dafür, dass wir Ihrer Fluggesellschaft nicht mitteilen, was wir über Ihre Probleme wissen.«

»Woher wissen?«, fragte Fröttstädt.

»Von Dr. Narsdorf. Aus Ihrer Krankenakte.« Fröttstädt lachte. »Ich war bei keinem Dr. Narsdorf. Das, was Sie mir geschrieben haben, haben Sie sich ausgedacht.«

»Nein, das hat Narsdorf auf seiner Festplatte gespeichert.«

»Und wenn: Damit hat meine Gesellschaft keine Chance, mich rauszuwerfen, siehe Datenschutz und ärztliche Schweigepflicht, da gewinne ich vor dem Arbeitsgericht jeden Prozess.« Fröttstädt wusste nicht, ob das der Realität entsprach, allerdings hörte es sich sehr überzeugend an, in der Art, wie er es vortrug.

Völlenklee schwieg daraufhin eine Weile, ehe er sagte, dass immer etwas hängenbleiben würde und er seine Karriere mit Sicherheit vergessen könne.

»Na und?«, erwiderte Fröttstädt. »Ich will sowieso Ende dieses Sommers aufhören und bei meinem Bruder im Reisebüro mithelfen.«

»Dann lassen wir es drauf ankommen«, sagte Völlenklee und erhob sich.

»Ich warne Sie!«, rief Fröttstädt, um etwas leiser hinzuzufügen, dass er genügend Geld habe, sich einen Killer zu leisten.

»Das ist doch billig«, sagte Corinna. »Und es würde Ihnen nur lebenslänglich einbringen.«

Fröttstädt sah ein, dass er etwas von der Ideallinie abgekommen war, und spielte ein weiteres Mal seine höchste Trumpfkarte aus. »Zeigen Sie mich an, ich höre eh auf mit dem Fliegen. Aber wenn Sie mich anzeigen, können Sie sich gleich selbst anzeigen, dann haben Sie Ihr Spiel verloren.«

»Wenn es dazu kommt, haben nicht nur wir drei hier verloren«, sagte Corinna, »sondern auch Dr. Narsdorf und alle anderen, deren Krankengeschichte wir zu Hause haben. Wollen Sie das, Herr Fröttstädt?«

»Ja, warum nicht.« Da war sein altes Motiv wieder: Wenn er abstürzte, sollten andere mit ihm abstürzen.

»Das ist skrupellos von Ihnen!«, rief Corinna.

Fröttstädt lachte. »Sie haben es nötig, mit mir über Moral zu reden.« Er stand auf, um den Platz als Sieger zu verlassen. »Und mehr Glück bei Ihren anderen Opfern.«