Rochefort: Memoiren
Fünfunddreißig

Im Tower angekommen warf ich einem Diener die Zügel zu und ging über das Gras innerhalb der gewaltigen Mauern. Die schlechte Laune versuchte ich abzustreifen.

Außerdem, sinnierte ich, besteht durchaus die Möglichkeit, dass ich bei den Kämpfen um den Whitehall-Palast getötet werde. Und dann ist da noch die Frage, ob der Versuch, James wieder auf den Thron zu setzen, wirklich den großen Bürgerkrieg auslösen wird, von dem Caterina gesprochen hat. Aber wie auch immer, bin ich erst einmal tot, sind all meine Probleme gelöst …

Inzwischen hatte man innerhalb der Mauern ein ausgedehntes Zeltlager errichtet. Rauch stieg von Lagerfeuern auf, und die Männer klangen gutgelaunt. Hier und da nickte man mir freundlich zu; offenbar hatten Ned Alleyne und seine Schauspieler meinen Namen verbreitet.

Das ließ mich lächeln, wenn auch ein wenig grimmig. Jetzt hat König James also nicht nur einen ›Dämon‹ aus Nihon, dachte ich, sondern auch noch einen persönlichen ›Franzmann‹. Ich frage mich, ob sein Ruf das überleben wird.

»Sagt mir bloß nicht Bescheid, wenn Ihr irgendwo hingeht, nein, nein«, beschwerte sich eine Stimme. Ich drehte mich um und sah Mademoiselle Dariole auf mich zukommen.

»Nichts?«

»Nichts«, grunzte sie. »Northumberland und Raleigh haben bei ihrem Aufbruch alles mitgenommen.«

Ihr Blick ging an mir vorbei in Richtung Torturm. Ich hörte Rufe aus dem Torhaus.

»Hey! Saburo ist wieder zurück!«

Da es sinnlos war, ihn zu befragen, während er sich einen Weg durch die Menge bahnte, drehte ich mich um und ging zu James' Quartier im Weißen Turm.

Dariole holte mich ein, als ich das Treppenhaus verließ, und reihte sich neben mir ein, als ich mich vor James verneigte. »Er ist nicht da! Saburo sagt, sie hätten ihn nicht! Messire, wenn er nicht bei Prinz Heinrich ist, besteht nicht die geringste Hoffnung, Fludd zu finden!«

»Sie könnten lügen …« Ich trat beiseite, als ein Dutzend Milizionäre – die voller Enthusiasmus, aber nicht gerade effizient Wachdienst schoben – Saburo zum König führten.

»Ja, das könnten sie wohl.«

Jenseits der Schießscharten, die auf der Ostseite des Towers als Fenster dienten, schimmerten der Fluss und das Londoner Hafenbecken. Von den Schiffen war nun nichts mehr zu sehen, von denen Monsieur Saburo so sehr geschwärmt hatte, als er beim letzten Mal darauf gewartet hatte, erneut eine Nachricht von James nach Whitehall zu bringen. Der Weiße Turm ist so hoch, dass man in Richtung Westen über Tausende von Dächern hinwegblicken kann; lediglich St Paul's war so hoch, dass sie die Sicht versperrte.

Flussabwärts bog die Themse hinter der London Bridge nach Osten ab, und irgendwo flussaufwärts, im Westen, lagen die Türme des Whitehall-Palastes und der Westminster Abbey.

»Und ich sage immer noch, dass Fludd es weiß.« Dariole senkte die Stimme, als sie sich aus den ›Höflingen‹ löste und zu mir ans Fenster trat. Ohne ihr Schwert und ihre Samtkappe sah sie noch mehr wie ein heranwachsender Jüngling aus. »Soweit wir wissen, tun wir noch immer genau das, was er will.«

Ein wenig spöttisch erwiderte ich: »König James wieder auf den Thron setzen?«

»Vielleicht wird James auf diese Art sterben. Vielleicht diente das Maskenspiel in Wookey nur dazu, uns an diesen Punkt zu bringen. Wir Ihr Euch vielleicht erinnert, hat Fludd gesagt, dass Ihr den Schlag führen werdet. Vielleicht ist es ihm so ja auch gelungen, Heinrich zu dem Mordversuch an seinem Vater zu überreden. Vielleicht wusste Heinrich ja, dass er ihn noch nicht einmal verletzen würde – das würdet Ihr später für ihn tun.«

»Oder er hat gelogen«, widersprach ich. »Nur weil jemand die Zukunft vorhersagen kann, heißt das noch lange nicht, dass er auch stets die Wahrheit sagt! Oder vielleicht haben Eure Entscheidungen die ganze Prophezeiung längst hinfällig gemacht. Oder … Allein nur darüber nachzudenken, kann einen schon in den Wahnsinn treiben!«

Dariole grunzte.

»Und Ihr«, sagte ich, »treibt Euch viel zu viel mit dem Samurai herum!«

Als James Stuart befahl, den Raum zu räumen, tauchte Monsieur Saburos kleine Gestalt zwischen den Höflingen auf. Den kurzen Wink des Königs zu den Wachen, dass uns gestattet war zu bleiben, fasste ich als Befehl auf vorzutreten.

Die Räume in der mittelalterlichen Festung waren – groß, aber dunkel, sodass hier auch tagsüber Kerzen brennen mussten. Irgendwo hatte man einen alten, schweren Holzstuhl aufgetrieben, der James nun als Thron diente.

Der Samurai ließ sich auf den Eichenboden fallen, und der Knall hallte von den mächtigen Steinwänden wider.

»Ich bin unwürdig, großer König-Kaiser!« Saburo drückte die Stirn auf den Boden. »Es ist sehr bedauerlich. Ich habe versagt. Es ist mir nicht gelungen, Seso-sama dazu zu bewegen, hierher zu kommen. Er stimmt nur einem Treffen in Heinrichs Raum zu, am Mitteltempel.«

James hob die buschigen Augenbrauen. »Aber er wird Uns doch eine königliche Leibwache zugestehen, oder?«

»Ja, König-Kaiser. Aber er sagt: ›Nur der Samurai.‹ Er traut seinen Landsleuten nicht.«

Der Stuartkönig nickte bedächtig. Das war ein Kompromiss, der weder Cecil in den Tower, noch den König nach Whitehall führen würde. Beide Seiten würden eine begrenzte Anzahl an Bewaffneten mitbringen, und das Ziel wären Gespräche, kein Krieg …

»Monsieur Saburo hat viel für Euer Majestät erreicht«, sagte ich und verneigte mich vor dem König. »Nur das mit den Männern sehe ich als Problem. Ich wünschte, wie hätten mehr von ihnen wie Monsieur Saburo – und mehr Kattanklingen.«

Saburo blinzelte im Kerzenlicht. »Das Schwert ist die Seele des Samurai. Ihr anderen nehmt teppo

Mademoiselle Dariole kicherte – ein Geräusch, gegen das ich protestiert hätte, hätte der König nicht ein ähnliches gemacht.

Und James kennt das nihonesische Wort für ›Muskete‹. Nun, darüber lohnt es sich nachzudenken. Zu schade, dass ich ihre ›Handelsgespräche‹ nicht habe mithören können …

Dariole verbeugte sich wie ein frecher, französischer Page. Das Lächeln auf ihrem Gesicht machte mich schon nervös, bevor sie einen Ton gesagt hatte. »Ich weiß, wie man das handhaben kann. Wir kommen in Verkleidung mit! So können wir auch erkunden, ob Cecil loyal zur Krone steht oder nicht.«

Ich blinzelte. »Ihr … habt Euch Euren Ruf als Erfinderin der ungewöhnlichsten Ideen wahrlich verdient.«

James Stuart schnaubte durch seine fetten Finger. »Falls Minister Cecil Uns wirklich für tot halten sollte, dann wird er in jedem Fall treulos erscheinen, da Heinrich sein einziger König ist.«

James wuchtete sich von seinem Stuhl und winkte Mademoiselle Dariole zu sich. Dann legte er ihr den Arm um die Schultern, schlurfte auf und ab und flüsterte ihr ins Ohr.

James' kleiner Favorit, Robert Carr, wird Mademoiselle Dariole aller Wahrscheinlichkeit nach vergiften, sobald wir England wieder in die Normalität zurückgeführt haben! Ich unterdrückte ein Schnaufen. Dann verschwand meine Belustigung genauso rasch wieder, wie sie gekommen war, als ich sah, wie unbehaglich sie sich bei der Berührung fühlte – eine Tatsache, die James Stuart überhaupt nicht zu bemerken schien.

Aber er meint es ja nicht böse, dachte ich, und ich glaube nicht, dass sie es begrüßen würde, sollte ich mich einmischen – nicht solange Fludd noch ein Streitpunkt zwischen uns ist.

Der Stuartkönig blieb unvermittelt stehen und nahm die Hand von Darioles Schulter. »Wie könnten wir das anfangen, ohne dass wir enttarnt und ermordet werden? Wenn wir die Stadt betreten, ist das Risiko groß. Wie sollen wir es anstellen, dass niemand uns bemerkt?«

»Wir könnten als Monsieur Saburos Leibwache auftreten. Euer Majestät, dann hättet Ihr uns alle bei Euch.«

Sie will doch nicht … Doch! Sie schlägt tatsächlich vor, dass James Stuart sich genauso kleidet wie Monsieur Saburo. Guter Gott!

»Ihr habt wohl zu viele Theaterstücke gesehen«, bemerkte ich.

»Vielleicht bringen Uns Theaterstücke ja Glück, hm?« James Stuart formulierte es als Frage, aber ich wusste sehr wohl, dass er es als freundlichen Tadel meinte.

Mich zu verneigen, gestattete mir, mein Gesicht lange genug vor ihm zu verbergen, um das Gefühl zu unterdrückten, das ich empfand. Er ist verrückt geworden! Mir scheint, dass James Stuart nach seiner Vorstellung in Somerset und dem Auftritt in ›The Rose‹ allen Vorschlägen gegenüber ein wenig zu aufgeschlossen ist, die etwas mit Schauspielerei zu tun haben. Versteht er denn nicht, dass die Schwerter und Pistolen diesmal echt sein werden?

Nun, ›echt‹ wäre allerdings auch der Verlust seines Throns, wenn er nichts unternimmt.

Sein kühnes Auftreten ließ mich unwillkürlich lächeln. Dann fragte ich mich nüchtern, woher er bei diesem Aufstand seines Sohnes den Mut nahm.

Dariole verneigte sich auf eine Art vor dem König, die kaum mehr als ein Nicken war. Das Kerzenlicht ließ ihre Locken golden schimmern, und ihr Gesichtsausdruck war kühl und aufgeregt zugleich.

»Ihr müsst Lord Cecils Bitte nachkommen, Euer Majestät. Wie sonst sollten wir ihn in einen Raum mit Euch bekommen, um ihn beurteilen zu können?«

Mir fiel auf, dass der König dem Lieutenant des Towers keinen vernünftigen Befehl erteilte wie zum Beispiel, Dariole in den Burggraben zu werfen für die Frechheit, das Wort ›müssen‹ in Bezug auf Seine Majestät verwendet zu haben.

James bemerkte lediglich: »Master Alleynes Wams wird wohl kaum als Verkleidung für Uns reichen.«

»Messire Saburo hat eine Menge Samuraikleider.« Dariole holte weit aus, als hätte sie die Absicht, sämtliche Verhaltensweisen des Fremden zu erklären. »Er wäscht sie gerne, jeden Tag. Wenn Ihr das tragen würdet, Euer Majestät, wird jedermann nur auf das Kostüm schauen, nicht auf Euch. Wir alle könnten uns als Diener des Gesandten ausgeben, Sire.«

Ich sah ein Funkeln in James' Augen, das ich lieber nicht gesehen hätte.

»Gesandter, seid Ihr tatsächlich so geschickt mit Eurer Kattanklinge, wie es den Anschein hat?«

»Hai.«

Wenn ich Monsieur Saburos einsilbige Antwort richtig deutete, ließ sie sich wie folgt übersetzen: Nur weil Ihr ein König seid und mein König Euch braucht, seid Ihr noch am Leben. Ansonsten hätte ich Euch für diese Beleidigung schon längst in Stücke gehauen! James Stuart strahlte ihn nur an – und dann mich.

»Monsieur de Rochefort, macht nicht solch ein langes Gesicht! Vergesst nicht: Dass Wir noch leben, verdanken Wir der Weitsicht von Suor Caterina und den Entscheidungen von Master Dariole. Eure, seine und Monsieur Saburos Schwertkünste sind ausreichend, um Unsere Person zu verteidigen. So lasst uns denn auf die Jagd gehen. Wir freuen Uns schon darauf, mit eigenen Augen zu sehen, ob der Herr Minister sich für seine eigenen Worte verdammt. ›König‹ Heinrichs Raum, fürwahr! Master Saburo, zeigt Uns Eure Kleider.«

Den größten Teil des langen Abends über ritt Saburo als Bote zwischen Whitehall und dem Tower hin und her. Wie es aussieht, werden wir vor morgen früh nichts mehr unternehme, dachte ich.

Ich hatte mehrere Gelegenheiten gehabt, die Wächter in ihren Kasernen und die Milizen bei ihren Zelten zu besuchen. So war ich am Abend dann mehr als bereit, mich an eines ihrer Feuer zu setzen, mir anzusehen, in welcher Stimmung sie sich befanden und den neuesten Gerüchten zu lauschen, wie es Aufgabe eines Spions ist. Dabei trank ich mehr, als klug war.

»Es hängt alles von Cecil ab …«

Dariole ließ sich neben mir auf den Boden sinken, nicht zu nah am Feuer.

Das Feuer selbst diente mehr zum Kochen, als dass jemand die Wärme gebraucht hätte. Dariole warf der Köchin einen schelmischen Blick zu, was ihr einen Pfannkuchen und einen Kniff ins Ohr einbrachte. Kauend bemerkte sie: »Ich glaube, wenn jemand weiß, wo Fludd sich aufhält, dann er.«

Wann war es ihr eigentlich in Fleisch und Blut übergegangen, das zu tun?

Irgendwann in den letzten paar Wochen, erkannte ich. Es war ganz natürlich für sie geworden, zu mir zu kommen und einfach bei mir zu sitzen und mit mir zu reden, anstatt zu versuchen, mich zu töten.

»Wenn wir Cecil zu sehen bekommen, wird uns das auch mit Heinrich gelingen … und dann, denke ich, haben wir unsere Schäflein im Trockenen«, fügte sie leidenschaftlich hinzu.

Ich schob mein Rapier in eine bequemere Position. »Wenn man darüber spricht, wird es unweigerlich zu einer Katastrophe kommen.«

Sie schürzte die Lippen und schmollte mit mir, doch aus dem Schmollen wurde ein reizendes Lächeln, bei dem die weißen Zähne gerade so zu sehen waren. Geradezu jämmerlich begann ich, mich nach ihr zu sehnen.

Und es konnte durchaus sein, dass wir beide diesen Kampf der Könige und Mathematiker nicht überleben würden …

Getrieben von Ungeduld, Verlangen und Dummheit – und aufgrund der paar Schlucke Bier, die ich vielleicht extra für diesen Zweck zu viel getrunken hatte – beugte ich mich zu Dariole hinüber und sagte leise:

»Mademoiselle … Ich sehne mich danach, heute bei Euch zu liegen. Würdet Ihr Euch bereit erklären, das Bett mit mir zu teilen?«

Einen Augenblick lang war ihr Körper wie erstarrt – und sofort war die Starre wieder weg. Doch ich bin ein erfahrener Fechter, der die Körpersprache seines Gegenübers genau zu deuten weiß.

»Dariole …« Ich legte den Kopf in die Hände. »Gütiger Gott im Himmel! Bevor Ihr irgendetwas sagt … Es tut mir Leid!«

Ihre Schulter, die die meine berührte, war angespannt, als stünde Dariole kurz davor, sich zu bewegen. Dann spürte ich, wie sie sich wieder ein ganz klein wenig entspannte.

Ich hob den Kopf, schaute sie an und sagte: »Verzeiht mir. Ich weiß, dass ich Euch nicht darum bitten sollte. Es gibt so viele Gründe … Verzeiht mir. Es hat mich überkommen. Ich bin betrunken …«

Sie warf mir einen Blick zu, der mich augenblicklich verstummen ließ.

»Abgesehen von allem anderen«, sagte Dariole in stockendem Tonfall, »bin ich kein Ersatz für Aemilia Lanier, die sonstwohin davongelaufen ist!«

Ich blinzelte wie eine Eule und verlangte zu wissen: »Was?«

»Ja, sie schreibt Theaterstücke, ja, sie ist schön – nehme ich an.« Dariole funkelte mich wild an. »Ja, sie ist erfahren und intelligent, und sie spricht sechs Sprachen und kann auf dem Wasser laufen, blablabla … Und sie fickt Euch wie eine niederländische Kurtisane. Geht, und sucht Euch eine englische Hure! Ich bin nicht zu haben.«

Ich starrte sie mit offenem Mund an. Mir fehlten die Worte. Wäre ich wachsamer und nicht so betrunken gewesen, ich hätte mir denken können, wie rasch sich Gerüchte in einer Schauspieltruppe verbreiteten, und Dariole war oft mit ihnen zusammen. Das erklärt aber nicht ihren Groll.

Panik überkam mich.

Ich will nicht, dass sie glaubt, ich sei mit Lanier liiert.

Nein … Besser, sie glaubt es. Wenn sie denkt, ich hätte eine andere Frau …

Aber wie kann ich sie denken lassen, ich hätte sie derart beleidigt? Wie kann ich zulassen, dass sie glaubt, ich hätte sie nur gefragt, weil Lanier weg ist?

Wenn ich nichts sage, wird sie annehmen …

Dariole saß mit gesenktem Kopf neben mir und starrte ins Gras, das von den Stiefeln der Männer niedergetrampelt war. Über den Lärm der um uns herum geführten Gespräche hinweg fragte sie: »Warum habt Ihr gesagt, dass es Euch Leid tut? Wofür wollt Ihr Euch entschuldigen?«

Ohne Vorbedacht sprach ich die Wahrheit. »Weil ich so dumm war, Euch zu bitten, bei mir zu liegen, obwohl Ihr vor noch nicht allzu langer Zeit vergewaltigt worden seid – und noch dazu hier.«

Sie hob den Kopf. Ihre Pupillen waren so sehr geweitet, dass ihre Augen mir fast schwarz erschienen. Ich verzehrte mich nach ihr.

Sie sagte: »Ihr wollt nicht mich, Messire.«

Ich ergriff ihre Hand.

Das war das eine Mal, da sie mir ihre Hand nicht hätte geben sollen, doch sie tat es.

Ich drückte sie in meinen Schritt. Durch Seide und Leinen hindurch war deutlich zu fühlen, wie sich mein harter Schwanz an meinen Bauch presste.

»Und was ist das?«, fragte ich. »Was ist das, wenn nicht Verlangen …?«

Sie wich zurück.

Doch es war keine Bewegung, wie ich sie von ihr kannte. Ihr gesamter Körper hatte sich verspannt, und sie zog sich vor mir zurück, die Hand erhoben und die Finger abwehrend gespreizt.

»O Gott!« Ich ließ ihre Hand los.

Reumütig und für jedermann um uns herum deutlich sichtbar kroch ich auf allen vieren von ihr weg und setzte mich dann wieder auf. »Es tut mir Leid! Dariole … Verzeiht mir …«

Die Erde drehte sich nicht, und das Gras bewegte sich nicht unter meinen Füßen; so betrunken war ich also gar nicht. Wäre ich es gewesen, hätte sich mein rebellisches Glied nicht so aufgerichtet. Ich fühlte mich desorientiert. Trotzdem streckte ich die Hand aus und legte sie auf Darioles Beine, die sie an den Leib gezogen hatte, um die Arme darum zu schlingen.

Sofort ließ ich sie jedoch wieder los, als hätte ich glühendes Metall angefasst. »Ich will mich Euch nicht aufdrängen!«

Sie anzuschauen, forderte weit mehr Mut von mir, als ich gedacht hatte.

Ihr Gesicht war kreideweiß und zeigte keinerlei Reaktion. Ich schaute mich nicht um.

»Ich weiß, dass Ihr jetzt nicht mit einem Mann zusammen sein wollt. Dariole … Es tut mir Leid!«

Sie streckte die Hand aus und berührte meine Schläfe. Einer ihrer Finger wanderte über mein Haar.

Ich kenne Mademoiselle Dariole gut: Ich weiß, wie sie steht, wie sie sich bewegt, und ich weiß, dass sie es nicht so schnell vergisst, wenn man sie verletzt hat. Und bei einer Verletzung wie dieser …!

Bis jetzt wusste ich nicht, wie es aussehen würde, wenn du mir vergibst …

Ich vermag es kaum zu ertragen!

Ihre Fingerspitzen wanderte über meine Wange und unter meinem Auge entlang.

»Ihr seid dort nass, Messire.«

Was mich nahezu sofort in die Verzweiflung stürzte, war nicht die Tatsache, dass ich fast geweint hätte, sondern das Lächeln in ihrer Stimme – zitternd, aber es war da. So spürte ich tatsächlich eine Träne, die sich ihren Weg aus meinem Auge bahnte.

»Ich bin ein Narr«, sagte ich in rauem Ton. »Ich hätte genug Verstand besitzen müssen, Euch schon vor langer Zeit um Verzeihung zu bitten. Dann hätte ich Euch vielleicht nicht so schlecht behandelt. Ach, Mademoiselle! Wie kann es sein, dass Ihr mir trotzdem noch vergeben könnt?«

»Weil Ihr mich darum gebeten habt.«

Ihre Worte trafen mich wie ein Schlag.

Sie hielt kurz inne; offenbar dachte sie nach.

»Ihr hasst mich also nicht«, sagte ich dümmlich.

Ihre Mundwinkel zuckten leicht. Sie fuhr mir mit den Fingern durchs Haar, spielte mit einer Strähne und zog sanft daran.

»Manchmal, Messire, manchmal seid Ihr wirklich langsam …«

»Nicht …« Ich rückte von ihr weg und schüttelte den Kopf, um wieder klar denken zu können. Da ist diese Kluft zwischen uns – das ist Fludd. Weil ich zu unreif bin, es zu verstehen. »Ich bin nicht sicher für Euch! Habe ich das nicht gerade erst bewiesen? Dariole, ich will, was ein Junge will, der halb so alt ist wie ich: Ich will Euch. In meiner Gegenwart seid Ihr nicht sicher.«

Die voreilige Akzeptanz wich aus ihrem Gesicht. Ich hätte mehr als nur eine Träne vergießen können, aber wie würde ich dann aussehen? Und außerdem hat sie sich das Gejammer eines Besoffenen schon lange genug angehört.

»Ich hätte es besser wissen müssen und mich nicht betrinken dürfen, Mademoiselle.« Ich bemühte mich, so zerknirscht wie möglich zu klingen. »Ich entschuldige mich. Vergesst, was Ihr heute Nacht gehört habt. Ich bin alt genug, um solche Situationen in Zukunft zu vermeiden.«

»Gott verdammt, Rochefort!« Dariole stand auf und schaute mich mit einem Gesichtsausdruck an, den ich nicht deuten konnte. »Wer hat Euch eigentlich das Recht gegeben zu entscheiden …«

Sie wirbelte herum und stapfte davon. Allem Anschein nach erstickte sie fast vor Wut.

Zwischen Entsetzen, Erregung und dem unbändigen Verlangen, mich zu betrinken, hin- und hergerissen, kam mir erst, nachdem sie zwischen den Zelten verschwunden war, der Gedanke: Ich hätte sie nicht gehen lassen dürfen.

Eine Viertelstunde später ging ich zu jenem Teil der Festung, wo das sogenannte ›Verrätertor‹ zum Fluss führte. Der Wind wehte kalt vom Wasser heran und kühlte mir die Wangen. Das Plätschern hallte im Torbogen wieder. Es war noch immer Hochsommer. Erst nach neun Uhr wurde es richtig dunkel, und selbst des Nachts wurde es nicht kalt genug für einen Mantel. Wer in der Lage war zu schlafen, konnte das auch im Freien tun.

Warum begehre ich sie so sehr, und warum wünsche ich mich nichts sehnlicher, als sie zu beschützen?

Manchmal ergibt sich etwas, und dann kann man nicht mehr zurück. Was erst nur wahrscheinlich war – oder so unwahrscheinlich wie, dass die Sterne das Schicksal der Menschen beeinflussen –, wird bisweilen plötzlich zur Tatsache, und alles hat sich verändert.

Ich blickte auf mein kaum sichtbares Spiegelbild in dem schwarzen Wasser hinunter. Valentin Raoul Rochefort. Wer war Valentin Raoul St Cyprian Anne-Marie de Cossé Brissac … dieser Narr?

War ich wirklich so arrogant zu glauben, die offensichtliche Schwärmerei einer jungen Frau ausnutzen zu können, um sie ins Bett zu bekommen?

Du solltest ein Vater für sie sein, ein Onkel, ein Freund, dachte ich, so wie es Monsieur Saburo für sie ist. Übelkeit stieg in mir hoch. Es bedurfte nicht mehr viel, und ich würde mich übergeben.

Zwei Towerwärter kamen auf ihrer Streife an mir vorbei und nickten mir respektvoll zu. Ich verneigte mich und ging zwischen den hohen Mauern und Türmen davon, die in den sechzehnhundert Jahren ihrer Geschichte ohne Zweifel schon Peinlicheres gesehen hatten, als einen Mann mittleren Alters, der die Hand einer jungen Frau auf seinen Schwanz gezwungen hatte.

Obwohl ich mir im Augenblick nicht vorstellen kann, was.

»Ich werde zu ihr gehen und mich noch einmal bei ihr entschuldigen«, sagte ich laut in die Nacht und lachte lauthals auf. »Von Mann zu Mann …«

Die kühle Luft machte mich wieder nüchtern genug, dass mir keine Entschuldigung mehr für mein Verhalten einfallen wollte. Ich weiß, was ich tun werde, wenn ich sie wiedersehe. Ich werde mich vor ihr auf den Boden werfen … oder vielleicht werde ich sie auch küssen und versuchen, ihr zu beweisen, dass nicht alle Männer gleich sind, dass die, die sie missbraucht haben, Tiere waren. Ich jedoch bin ein Mann …

Und sie wird wieder nur Angst vor mir haben. Ich sehe es in ihrem Gesicht.

Ich dachte darüber nach, wie gern ich Monsieur Dariole in Paris voller Angst gesehen hätte; doch das war jetzt schon drei Monate her. Wieder lachte ich, laut genug diesmal, um die Raben aus ihren Nestern an der Mauer zu scheuchen.

»Ich denke, ich werde ihr schreiben«, sagte ich.

In jener Nacht bekam ich nicht gerade viel Schlaf. Ich verbrachte die Zeit in meinem Quartier und kritzelte ein Blatt Papier nach dem anderen voll und warf sie dann allesamt ins Feuer.

Für gewöhnlich fehlten mir nie die Worte, wenn es darauf ankam. Zur Erziehung eines Gentleman gehörten zumindest die Grundbegriffe der Rhetorik und Poesie.

Gegen zwei Uhr nachts schrieb ich Sonette in strengem Versmaß – ein zwielichtiger Spion und entehrter Gentleman, der glaubte, einer Sechzehnjährigen den Petrarca vorspielen zu können! – und hatte gerade noch genug Verstand, um zu erkennen, dass ich nicht mehr bei Sinnen war. Ich verbrannte meine Poesie. Sie war mies.

Mir fällt einfach nichts ein, was ich zu Papier bringen könnte, dachte ich und blickte zum Fenster hinaus. Doch ich will mich ihr erklären, bevor wir uns wiedersehen, zumal das aller Wahrscheinlichkeit nach in der Öffentlichkeit sein wird. Bis jetzt bin ich aber nicht weitergekommen als: ›Mademoiselle, ich entschuldige mich.‹ Der Rest ist unverständliches Geseiere.

Eine Stunde vor Sonnenaufgang schlief ich mit dem Kopf auf dem Tisch ein. Weder die Turmuhr noch der Junge, den ich dafür bezahlt hatte, mir Rasierwasser zu bringen, weckten mich.

Schließlich rührte ich mich jedoch wieder, und die Sonne warf die Schatten des Fenstergitters über die Papiere vor mir.

Auf meinem Bett lag keine leinene Samuraikleidung; also behielt ich meine eigenen Kleider an, so zerlumpt sie nun auch aussehen mochten. Nachdem ich lediglich den Kopf in einen Wassereimer gesteckt hatte, warf ich mir rasch Mantel und Hut über, lief zum Stall – und holte unrasiert und zerzaust gut hundert Meter hinter dem Tor die Eskorte des nihonesischen Botschafters ein.