Rochefort: Memoiren
Fünfundzwanzig

Das Sattelleder knarrte, während die beiden Pferde in gleichmäßigem Schritt über die trocken-harte Erde zogen. Felsen erhoben sich zu beiden Seiten von uns. Der Pfad führte durch eine Klamm in den Kalksteinhügeln, und nur wenn man den Hals reckte, konnte man oben auf der Felskante Gras wachsen sehen.

Dariole sah ganz und gar wie ein junger Mann aus: Die Reitstiefel reichten bis zum Kniebund ihrer Pluderhose, und ein feiner Rüschenkragen umrahmte ihr von der Hitze rosiges Gesicht. Sie ritt gut und hielt ihren Falben gut im Zaum, der sich immer wieder am Gras gütlich tun wollte. An der Haltung ihrer Schultern vermochte ich nichts zu lesen außer Anspannung.

Die Nachmittagshitze brachte den Geruch der Pferde, der ledernen Sättel und des Zaumzeugs erst richtig zur Geltung, und von irgendwoher wehte der Duft von Blumen heran, die sich in dem wuchernden Gestrüpp zu beiden Seiten versteckten. Rechts und links erhoben sich bedrohlich hohe Felswände. Als die Straße eine Biegung machte, fielen selbst zu dieser Zeit lange Schatten auf uns. Das Schnaufen der Pferde sowie das Knarren und Klirren des Zaumzeugs waren das einzige Geräusch in der drückenden Stille; leise hallte es von den Felswänden wider.

Dariole hatte seit unserem Aufbruch kein Wort gesagt, und inzwischen hatten wir gut acht Meilen zurückgelegt.

»Mademoiselle …« Ich streckte die Hand aus.

Dariole zuckte nicht zurück, versteifte sich jedoch am ganzen Leib.

Es war nicht schwer, diese Art von Körpersprache zu deuten, und so nahm ich meine Hand wieder zurück. Schmerz breitete sich in meiner Brust aus gemischt mit einer brennenden Wut. Robert Fludd hat dir auch das angetan.

»Mademoiselle, wollt Ihr mir nicht sagen, was Ihr Euch von dem hier erhofft?«

»Das ist meine Sache.«

Mein haselnussbraunes Pferd senkte den Kopf und begann, am Gras im Schatten der Felswände zu knabbern. Der Fels strahlte Hitze aus. Ich zog den Kopf des Tieres wieder in die Höhe und drückte ihm sanft die Sporen in die Flanken.

Darioles Tonfall blieb gleichmütig. »Hat Euer Hauptmann seine Stellung abgesichert?«

»Das nehme ich doch an. Warum?«

»Weil irgendjemand auf halber Höhe des Felsens dort mit einer Muskete auf mich zielt.«

Es war nicht die Sonne, die mein Gesicht rot werden ließ, als ich mich in den Steigbügeln aufstellte und wie vereinbart mit dem Hut zum Zeichen winkte.

Cecils Reiter unter einem Mann mit Namen Philip Spofforth hatten ihr Lager in der Tat weiträumig abgesichert. Nachdem man uns unterhalb des Eingangs zur Cheddar Schlucht abgefangen hatte, wurden wir zum Hauptmann gebracht. Er begrüßte uns mit einem freundlichen Nicken.

»Lord Cecil hat uns bereits darüber informiert, dass wir vermutlich einen jungen Mann dazubekommen würden.« Er nickte zu Dariole und fügte dann an mich gewandt hinzu: »Sie ist, wo sie immer ist. Ich werde Thomas befehlen, Euch zu ihr zu bringen.«

Während die Soldaten mitsamt ihren Tieren in der Klamm und den an sie angrenzenden Höhlen untergebracht, waren, hatte Suor Caterina es vorgezogen, in eine aufgegebene Bauernhütte im Wald zu ziehen. Diese Hütte zu bewachen, war im Augenblick alles, was die Männer zu tun hatten. Blätter und anderes Grünzeug umgaben den einzigen, mit Lehm verputzten Raum, und der Soldat mit Namen Thomas ließ uns einfach vor der Hütte stehen und huschte vor sich hin murmelnd davon – er hatte genauso viel Angst vor der Nonne wie Ned Field vor der Hexe.

Und so – wie ich vor der Seherin, dachte ich.

Wird sie Dariole sagen, dass sie sterben wird? Wird sie über die Vergewaltigung sprechen und mir die Schuld daran geben?

Das Innere der Hütte war weiß gestrichen, sodass es hier trotz der winzigen Fenster recht hell war. Die silberhaarige Frau – inzwischen übrigens deutlich sauberer – saß am Tisch und hatte die Hände unter dem Kinn verschränkt.

»Nein«, sagte sie, bevor ich etwas sagen konnte.

»Nein?«, hakte Dariole nach.

»Nein. Du bist gesund, und du heilst so schnell wie ein junger Hund, Signorina. Was auch immer du für ein Gift im Leib gehabt haben magst, dein Körper hat es besiegt. Und … Nein. Der Ausfluss, den du auf der Reise in der Nähe von Richmond gehabt hast … Hätte Gott es so gewollt, wäre das dein Kind geworden.«

Ich packte Dariole an den Schultern und schob sie zu einer Bank, damit sie sich setzen konnte, anstatt auf der festgestampften Erde zusammenzusacken. Sie starrte Caterina an, und ich sah jede Sommersprosse, welche die Sonne auf ihren Wangen zum Vorschein gebracht hatte.

»Ich trage kein Kind unter dem Herzen«, sagte sie tonlos.

»Nein. Um das zu wissen, muss eine Frau jedoch keine Seherin sein. Wir hatten immer mal wieder Hebammen bei uns im Kloster. So habe auch ich gelernt, eine Schwangerschaft bei einer Frau zu erkennen.«

Ich erwartete, dass Dariole in Tränen ausbrechen würde. Stattdessen spürte ich jedoch, wie ihre Muskeln unter meinen Händen erschlafften, und ein stummes Seufzen ging durch ihren Körper.

Die alte Italienerin legte die Hände auf den Tisch und stemmte sich in die Höhe. »Aber was die andere Sache betrifft … Schande! Mein Valentin!«

Sie streckte beide Hände nach Dariole aus.

»Cielo, aber du genießt das Spiel viel zu sehr, kleine Signorina, viel zu sehr, um ihm nicht davon zu erzählen!«

Was das zu bedeuten hatte, verstand ich zunächst nicht. Mademoiselle de Montargis de la Roncière stieg das Blut in die Wangen. »Nein, das tue ich nicht.«

Dariole ergriff die Hände der Nonne. Caterinas Hände waren kleiner und nicht mit alten weißen Narben bedeckt. Wenn man sie zusammen sah, hätte man keine von beiden als weiblich identifizieren können.

»Na gut.« Dariole sprach wie ein Mann, der über ein großes Geschäft nachdenkt. »Aber nicht so sehr wie er.«

»Ostrega! Männer!«

Die Atmosphäre zwischen den beiden Frauen entspannte sich sichtlich. Zwar verstand ich nicht warum, aber auch mir wurde leichter zumute.

»Verzeihung«, sagte ich, »aber ich fühle mich zwischen den Damen ein wenig fehl am Platz; daher würde ich es sehr begrüßen, mich entfernen zu dürfen.«

Die beiden lachten.

Dariole lacht, dachte ich. Und sie hat sogar die Schamesröte im Gesicht.

»Nein, nein, bleib. Bleib!« Suor Caterina winkte mich auf die gleiche Art zu einem Hocker, wie eine Bauersfrau die Hühner in den Stall lockt. Ich setzte mich so würdevoll, wie es einem Mann in dieser Situation möglich ist.

»Ihr habt mir ja gar nicht gesagt, dass diese Frau verrückt ist.« Dariole ließ die Nonne wieder los, setzte sich gerade hin und stützte die Ellbogen auf den Tisch.

»Ihr legt das Verhalten eines Jünglings im Schankraum an den Tag«, tadelte ich sie instinktiv.

Der Blick, den sie mir zuwarf, ließ mich wünschen, ich könnte die Worte wieder hinunterschlucken. Rochefort, der Narr!, schalt ich mich selbst.

Ich habe Euch hierher geführt, weil ich glaube, dass nur eine Frau Euch über die Vergewaltigung hinwegtrösten kann, und jetzt … Und jetzt seid Ihr nicht schwanger, und Ihr seid glücklich, und irgendetwas geschieht zwischen Euch, das ich nicht verstehe. Und was mache ich? Ich bringe Euch vor eben dieser Frau in Verlegenheit …

»Ich weiß, was Ihr wollt«, sagte Dariole, als könne sie meine Gedanken genauso gut lesen wie Robert Fludd. »Ihr wollt mich zusammenbrechen und in ihrem Schoß weinen sehen. Wenn Frauen weinen, wisst Ihr, was zu tun ist. Aber das werde ich nicht tun.« Trotzig blickte sie zu Caterina. »Nicht wahr, Signora?«

»Ich bezweifele es, mein Kind.«

Dariole verschränkte die Arme vor der Brust, und ich dachte an den Frauenkörper in ihren Männerkleidern – ich konnte einfach nicht anders.

»Frauen finden Frieden in ihren Tränen«, erwiderte ich stur. »Und Suor Caterina, dieses Mädchen hier vergießt nicht eine einzige.«

»Lass mich raten: Sie spricht nicht über das, was ihr widerfahren ist, verlangt aber Rache dafür und will den oder die Männer töten, die dafür verantwortlich sind, richtig?« Auf mein Nicken hin richtete Suor Caterina den Blick ihrer strahlenden Augen wieder auf Dariole. »Du hast gelernt, in jeder Hinsicht ein Mann zu sein.«

Ich wollte etwas sagen, hielt mich dann jedoch zurück. Was ich auch sagen würde, ob ›So benimmt sich keinesfalls ein Mann!‹ oder ›Aber sie ist eine Frau!‹, ich würde Ärger bekommen.

»Ich werde dich nicht zwingen zu weinen. Ostrega! Warum sollte ich auch?« Dariole verzog das Gesicht, und Suor Caterina lachte auf. Das Sonnenlicht spiegelte sich in ihrem geflochtenen silbernen Haar. Sie strich einige Strähnen zurück und setzte sich dann langsam und vorsichtig auf die Bank neben Dariole. Anschließend zog sie ein Blatt Papier aus dem Stapel auf dem Tisch. »Hier ist, was du brauchst.«

Dariole beugte sich vor und runzelte die Stirn. »Was soll das sein? Irgendetwas, um mich zum Heulen und Jammern zu bringen?«

Caterina schüttelte den Kopf. »Nein. Nachdem Roberto dich entführt hat, habe ich die Wahrscheinlichkeit berechnet, dass du ihm wieder entkommst. Hier, hier und hier unten siehst du die Schlussfolgerung, zu der ich gekommen bin.« Nach einer kurzen Pause hob sie den Kopf. »Du sprichst kein Italienisch, oder?«

»Ich spreche keine Mathematik!«

Suor Caterina kicherte fröhlich.

»Ich werde es dir erklären«, sagte sie und wurde wieder ernst. »Das hier ist, was der Londoner Meister berechnet haben wird, auch wenn ich es ein wenig verzerrt und nebulös finde. Valentin wird dir später erklären, warum das so ist. Jetzt schau her. Ich habe nicht erwartet, dass du hierher kommen würdest – ebenso wenig wie der Fremde: Saburo Tanaka.«

»Tanaka Saburo«, korrigierte ich sie.

Sie seufzte wie über einen hoffnungslosen Schüler und richtete ihre Aufmerksamkeit weiter auf Dariole. »Die Chance, dass du aus Eurem Gefängnis in London entkommen würdest, nachdem er dich erst einmal dorthin gebracht und missbraucht hatte, war so gut wie nicht vorhanden.«

Dariole schwieg. Aus Angst, die alte Frau könnte sich beleidigt fühlen, murmelte ich einen Kommentar. »Nur den wenigsten gelingt es, aus dem Tower zu fliehen, das ist wohl wahr.«

»Es war so unwahrscheinlich!« Suor Caterinas perfekt geformter Fingernagel folgte den Schnörkeln und kabbalistischen Zeichen auf dem Papier. »Aber hier ist etwas, das wahrscheinlich ist – war.«

Dariole nahm das Papier und hielt es ins Licht. In der Sonne fiel ein blasser Schatten auf ihr Gesicht. Ihre Augen waren blutunterlaufen, wie ich bemerkte. Sie schläft noch immer nicht.

»Hat er mich dort vergewaltigt? ›Luke‹. Hat er mich dort zu Boden geworfen?«

»Ja.«

»Und was hätte ich demnach tun sollen?« Sie warf das Papier zu Caterina. »Sterben? Mich mit meiner Hose erhängen?«

Ihr Tonfall war beißend und herausfordernd. Selbstschutz, dachte ich. Die Nonne begann mit einer wahren Flut von mathematischen Erklärungen.

»Moooment!« Dariole hob beide Hände. »Auf Französisch, bitte! Oder meinetwegen auch auf Englisch oder Spanisch, aber nicht in diesem mathematischen Kauderwelsch!«

Ihre Wangen waren noch immer gerötet.

»Warte.« Caterina griff nach dem Handgelenk des Mädchens. Entsetzt streckte ich die Hand aus, einen Herzschlag zu spät. Sie wird mit dem Reflex eines Fechters reagieren, hatte ich noch Zeit zu denken.

Darioles Hand zuckte, doch nicht so, als wolle sie sich aus dem Griff der alten Frau befreien und ihr dabei womöglich die Hand brechen.

»Diese Berechnungen haben etwas mit Robertos Plan zu tun.« Langsam ließ Caterina Dariole wieder los. Die beiden blickten einander an. Dariole nickte knapp.

Caterina fuhr fort: »Das hier sind die letzten Berechnungen. Er hat alles so sorgfältig geplant, dass es nahezu unvorstellbar war, dass er dich nicht hätte entführen können, nicht angesichts des Zeitpunkts, nach dem er gesucht hat. Jeder muss irgendwann einmal schlafen.«

»Ich war sorglos.« Die Stimme der jungen Frau klang hart wie Eisen.

»Selbst wenn du bis ins hohe Alter hinein keinerlei Fehler machen würdest, mein Kind, würdest du schließlich doch sterben.«

»Wenn ich alt bin, ist mir der Tod egal!«

Die Italienerin stieß ein lautes, hallendes Lachen aus. Ich legte kurz den Kopf in die Hände.

»Bitte, entschuldigt, Suor«, sagte ich und hob den Blick. »Sie ist nur ein Gör ohne Benimm, und ich denke schon seit einiger Zeit darüber nach, sie übers Knie zu legen und ihr Manieren beizubringen!«

»Aber ja doch … als wenn Ihr das könntet …« Zum ersten Mal seit zwei Wochen zog Dariole die Mundwinkel hoch.

»Wie ich sehe, vermag ich dich nicht zu überzeugen.« Die ältere Frau strahlte die Selbstbeherrschung und Ruhe einer Nonne aus. Sie ließ mich übermäßig groß und gewalttätig erscheinen, selbst im Sitzen, und Dariole … Neben der alten Nonne wirkt die junge Fechterin wie ein Straßenschläger, dachte ich bei mir.

Caterina beugte sich vor und blickte Dariole ins Gesicht. »Die Menschen werden dich nicht immer angreifen, kaum dass du einmal nicht so gut aufpasst, meine Kleine. Das habe ich zwar nicht errechnet, aber ich weiß, dass es stimmt, und …«

»Dann sagt mir: Werde ich alt werden?«

»Dariole!«, protestierte ich gegen ihre Unterbrechung. Außerdem wollte ich nicht, dass sie die Antwort hörte. »Suor Caterina, wenn Ihr bitte fortfahren wollt …«

»Dein Schicksal ist mit dem der Stuarts verbunden. Wenn James stirbt, wirst auch du nicht mehr lange leben.«

»Wie lange?«

»Dariole«, begann ich erneut. Sie ignorierte mich.

»Wie lange?«

»Gütiger Gott, was für ein Mädchen! Wenn du es unbedingt hören willst … weniger als ein Jahr.«

Die junge Frau blinzelte noch nicht einmal.

»Und was, wenn es gelingt, dass James überlebt?«

»Dann wirst du länger leben. Aber gestatte mir ein Wort der Warnung: Du kannst nicht jedes Duell gewinnen, das du kämpfen willst. Das kann niemand.«

Dariole verschränkte wieder die Arme vor der Brust und nickte scharf in meine Richtung. »Und was ist mit ihm? Wann stirbt Messire?«

»Wenn man an Verlegenheit sterben kann«, warf ich ein, »bin ich schon seit gut einer halben Stunde tot, Mademoiselle.«

Suor Caterina erwies mir die Freundlichkeit zu lachen. Dariole funkelte mich an.

»Er hat mich nicht danach gefragt«, antwortete die alte Italienerin.

Dariole blickte zu mir. »Feigling. Aber hey, das ist ja nichts Neues, nicht wahr?«

Mir stieg das Blut in die Wangen. Ich wusste, wo dieser Spott seinen Ursprung hatte. Warum fiel mir nie eine passende Erwiderung ein?

Bedächtig wandte ich mich an Caterina: »Lasst sie mich ruhig beleidigen, wenn sie sich dann besser fühlt. Schwester, ich verspüre nicht den geringsten Wunsch, meinen Todestag zu erfahren, selbst wenn er irgendwo in Euren Papieren verzeichnet sein sollte.«

»Das wäre auch ein Paradox«, räumte Suor Caterina ein. »In dem Glauben, nicht früher sterben zu können, würdest du womöglich immer tollkühner werden. Oder du könntest glauben, so vorsichtig sein zu müssen, dass du dich irgendwann aus Langeweile erhängst.«

»Da ist mir ein wenig zu viel ›vielleicht, womöglich‹«, sagte ich grimmig und tippte auf die Papiere auf dem Tisch. »Fludd redet immer so, als gäbe es keinen Raum für Fehler, und angesichts dessen, was ich bisher erlebt habe, warum sollte ich ihm da nicht glauben?«

Caterina deutete auf Dariole. »Wegen ihr.«

Dariole hob die Brauen, stellte einen Fuß auf die Bank und schlang die Arme ums Knie.

»Was ist mit Mademoiselle Dariole, Schwester?«

Die alte Italienerin legte die Hände auf die Papiere vor sich. »Ich wünschte, ich könnte es dir verständlich machen. Noch nicht einmal alle von Maestro Brunos Studenten vermochten es zu verstehen, und sie stammten aus den besten Akademien Europas …«

»… und waren keine Straßenschläger«, vervollständigte Mademoiselle Dariole den Satz. Sie schaute mich nicht an, als sie das sagte. Ich glaube, ihr war gar nicht klar, dass sie mit diesem Satz zum ersten Mal anerkannte, dass sie und ich vom gleichen Schlag waren – jedenfalls in gewisser Hinsicht.

»Das da verstehen wir wirklich nicht.« Dariole deutete auf die Papiere. »Was ist mit mir, Signora?«

»Das hier«, Suor Caterina nahm ein Blatt zur Hand, »ist die zwingende Ereigniskette, die zu deiner Befreiung hat führen müssen. Und das hier«, sie griff nach einer anderen Seite, »Ostrega! Das ist all jenes, was geschehen musste, damit du dich selbst rettest! Du hast den Signore Samurai doch ganz allein gefunden, nicht wahr?«

»Ich habe Arbella Stuart gefunden«, korrigierte Dariole die alte Frau in gleichmütigem Tonfall.

»Ah, ja? Ah … Hier. Das ist eine winzige Möglichkeit, nicht mehr als ein Blinzeln im Auge Gottes! Und was den Rest betrifft … Die Wahrscheinlichkeit ist schier unendlich klein! Hier rettest du Signore Tanaka, sodass er in deiner Schuld steht. Hier hängt alles ganz und gar von deiner eigenen Stärke ab, und hier …«

Caterina fuhr mit dem Finger über eine Gleichung.

»… Hier stirbst du an Wundfieber. Hier leidest du anschließend unter einer tiefen Melancholie, monatelang, und hier begehst du sogar die Todsünde des Selbstmords. Und schau hier: Hier kommst du zu dem Schluss, dass du dich besser auf die Seite von Maestro Fludd schlagen solltest, da er dir ja so leicht hat wehtun können. Hier wirst du sein Schwert, wie Valentin das Schwert des Duc de Sully ist.«

Ich errötete bei diesen Worten. Keine der beiden Frauen blickte in meine Richtung.

»Für ihn arbeiten?«

»So manch ein Gewaltmensch betet die Macht förmlich an.« Caterina stocherte mit dem Finger in den Papieren herum und suchte nach den geeigneten Worten. »Es gibt Menschen, die voller Ehrfurcht vor jenen erstarren, die noch brutaler sind als sie. Gütiger Gott, du hättest tatsächlich Robertos Dienerin werden können! Und wenn das schon nicht wahrscheinlich war, denk mal über Folgendes nach, Signorina: Die Chance, dass du dich selbst befreist, war nur ein Hundertstel so groß. Und ich weiß sehr gut, dass der Londoner Meister schon Ersteres wird ausgeschlossen haben. Über die zweite Möglichkeit hat er wohl noch nicht einmal nachgedacht!«

Dariole wirkte amüsiert.

Langsam entnahm ich der aufgeregten Rede der alten Frau einen Sinn. »Ihr seid der Meinung … Ja, was eigentlich? Dass er es nicht gewusst hat? Dass er vorausgesehen hat, dass sie nicht entkommen wird?«

»Cielo! Nicht dass sie das nicht tun wird, dass es unmöglich ist, Valentin! Er hat es für unmöglich gehalten. Er hat errechnet, dass sie im Tower bleiben wird. Und nun ist sie frei!«

»Und?« Ich runzelte die Stirn.

»Und?«, echote sie. »Es ist etwas geschehen, das zu berechnen, wir uns noch nicht einmal die Mühe gemacht haben! Weder der Londoner Meister noch ich. Das ist etwas … etwas, womit Roberto nicht gerechnet hat.«

Dariole schaute mich von der Seite her an und unternahm einen zitternden, aber überzeugenden Versuch in Arroganz. »Kann mir gar nicht vorstellen warum. Ich habe damit gerechnet zu entkommen.«

Es war nicht die Verwegenheit ihrer Lüge, sondern das verwegene Prahlen, was mich schlucken ließ. Früher wäre es echt gewesen; nun sah ich es jedoch als den Versuch, sich selbst Mut zu machen.

»Saburo hat Euch bei der Flucht geholfen«, erinnerte ich sie in sanftem Ton und hatte die Befriedigung, sie auf vertraute Art das Gesicht verziehen zu sehen. Doch das waren nur noch Reste der Göre, die ich einst gekannt hatte, und das wiederum machte mich traurig. Besser das als das zerbrochene Schwert.

»Aber wieso ist das von so großer Bedeutung?«, fragte ich Caterina. »Ganz allgemein, meine ich, nicht für Mademoiselle hier.«

»Aber, Valentin!« Caterina nahm Darioles Hand. »Wer weiß, was jetzt geschehen wird? Wenn etwas so Unwahrscheinliches Realität wird, muss alles andere neu berechnet werden … und falls er das in den vergangenen Jahren nicht schon getan hat, kann er es jetzt nicht mehr nachholen. Dazu fehlt ihm die Zeit!«

Sie deutete auf Dariole.

»Valentin, wer weiß, zu was sie sonst noch imstande ist? Sie könnte jetzt all seine Pläne über den Haufen werfen … wenn wir denn wüssten, wie wir handeln sollten.«

Schweigen erfüllte die Hütte. Auch nachdem mir klar geworden war, wohin diese Logik führte, machte ich ein säuerliches Gesicht. Dariole erregte meine Aufmerksamkeit. Als könnte sie nichts dagegen tun, spielte ein Lächeln um ihre Lippen.

»Wir sollten …« Ich überlegte mir eine möglichst harmlose Formulierung. »Wir sollten das Unwahrscheinlichste tun.«

Ich blickte Caterina in die Augen. Sie strahlte. »Aber ja! Und von wem hoffen wir, dass Roberto ihn trotz all seiner Berechnungen nicht erwartet? Wer kann dich zu unwahrscheinlichen Taten verleiten? Sie!«

»Das ist … absurd.« Ich funkelte sie an. »Wenn Ihr glaubt, ich würde die Ausführung dieses Plans in die Hände einer Siebzehnjährigen in Hosen legen …«

»Sechzehn«, stotterte Dariole.

»Sechzehn?« Ich bot mich selbst als Zielscheibe für ihren Witz an in der Hoffnung, dass auf diese Weise ihr Lachen nicht wieder dem Schmerz weichen würde. Dann erkannte ich die kalte Wahrheit, und ich konnte nicht anders, als zu sagen: »Sechzehn … Ihr seid jetzt sechzehn? Und als ich Euch bei Zaton das erste Mal getroffen habe … Mademoiselle, ich bitte Euch: Sagt mir, dass Ihr da nicht erst fünfzehn wart. Bitte!«

Das Lächeln, mit dem sie zu mir aufblickte, war kein Grinsen, sondern das Lächeln einer Frau. »O ja, Messire. Fünfzehn. Gerade erst.«

»Gütiger Gott im Himmel …!«

Dariole beugte sich vor, schnappte nach Luft und glitt von der Bank zu Boden. Dort saß sie, die Arme um die Rippen geschlungen, und grölte vor Lachen.

»Seht Ihr?«, wandte ich mich flehentlich an Suor Caterina. »Das ist absurd!«

»Ja, Valentin!« Caterina packte mich am Arm. Die Finger der Nonne versuchten, sich durch mein Wams in den Unterarm zu graben, schafften es aber nicht. »Dummer Mann! Verstehst du denn nicht? Wenn du vor einer Entscheidung stehst, lass sie entscheiden. Was würde der Londoner Meister weniger erwarten als das? Ansonsten lieferst du dich einem Mann aus, der jede deiner Entscheidungen schon zehn Jahren, bevor du überhaupt vor ihnen stehst, berechnet hat!«

Langsam und atemlos richtete Dariole sich wieder auf. Ich stellte mich ihrem Blick und fragte mich, was hinter diesen strahlenden Augen vor sich ging.

In reinstem Gossenfranzösisch bemerkte sie: »Wenn ich Euch für mich scheißen lassen kann, kann ich Euch auch dazu bringen, mir die Entscheidungen zu überlassen.«

Die plötzliche Kälte, die sich in meinem Bauch ausbreitete, sowie die Hitze in meinem Schritt, die sie begleitete, waren ihr, glaube ich, bekannt – oder zumindest vermutete sie es mit bemerkenswerter Genauigkeit. Sie kennt mich viel zu gut, dachte ich grimmig.

Kurz sah ich mich selbst vor meinem geistigen Auge, wie ich vor ihr kniete und sie um ihre Zusammenarbeit anflehte.

»Aber ich werde kein Spiel daraus machen.« Dariole wechselte wieder ins Englische. »Dafür ist das viel zu wichtig, Messire. Ich will Fludd. Ich will nicht herumrennen und Dinge tun, die irgendjemand seit zehn Jahren vorausgesehen hat! Wenn ich das Unwahrscheinliche tue, dann, so glaube ich, dann haben wir vielleicht eine Chance.«

Es gefiel mir nicht, zugeben zu müssen, dass sie Recht hatte.

»Caterina«, wandte ich mich wieder an die Nonne, »ich bin ein erfahrener und kluger Mann. Der Oberste Minister Frankreichs hat mir sein Vertrauen geschenkt. Nur mir kann man zutrauen, diese Sache sicher zu Ende zu bringen. Ich könnte so weit gehen, sie um Rat zu fragen, aber … Glaubt Ihr wirklich, dass ich die Durchführung meiner Pläne in die Hände einer Frau legen würde, die …«, ich beendete meine Rede mit einer Ehrlichkeit, die ich nicht erwartet hatte, »… die Hass auf mich hegt und das aus gutem Grund?«

Caterina schwieg. Dann drehte sie sich zu Mademoiselle Dariole um und hob eine ihrer silbernen Augenbrauen.

»Er hat mir nicht gesagt, dass die Gefahr besteht, dass man mich als Geisel nehmen könnte.« Dariole klang nicht verbittert, sondern schmollend und viel jünger, als sie in Wirklichkeit war. Ich konnte nicht anders, als sie anzustarren.

Caterina schnaufte. »Und das hast du dir nicht selbst denken können? Misericordioso! Bist du denn solch eine Närrin, Mädchen?«

Zu meinem Erstaunen lief Mademoiselle Dariole knallrot an. »Er hat nie auch nur irgendwas gesagt.«

Die Italienerin warf die Hände in die Höhe und stieß ein ungeduldiges Seufzen aus.

»Du hast es gewusst!«, warf sie Dariole vor und stieß mit dem Finger nach ihr. »Er hat Frankreich wegen seines Monsieur Sully verlassen. Er kann auf diese Art gezwungen werden, und du hast es gewusst! Das steht hier, schwarz auf weiß!«

Sie schlug auf ein Blatt Papier.

»Du hattest ihn um den kleinen Finger gewickelt, und jetzt willst du mir erzählen, du hättest nicht gewusst, dass du seine Achillesferse bist? Pah!«

Ich hatte die junge Frau noch nie so rot gesehen; das faszinierte mich.

Besser zuschauen, wie das Blut ihr langsam bis in die Ohren stieg, als über die Worte der alten Italienerin nachzudenken.

Langsam stand das Mannweib auf und setzte sich wieder auf die Bank.

»Messire Rochefort fühlt sich schuldig.« Dariole fuhr mit dem Finger über die Maserung der Tischplatte. »Das tut er schon, seit er herausgefunden hat, dass ich eine Frau bin. Davor wollte er mich erschießen, Signora. Danach …«

Sie zuckte auf eine Art mit den Schultern, die Caterinas nicht unähnlich war. Ich nahm an, dass sie sich das bei den Concinis und den anderen italienischen Favoriten der Königin abgeschaut hatte. Doch irgendetwas an ihr strahlte noch immer so viel Einsamkeit aus, dass ich mir verzweifelt wünschte, eine tröstende Bemerkung machen zu können.

Aber ich habe nicht die geringste Ahnung, was ich sagen soll.

Nicht sonderlich zufrieden bemerkte Suor Caterina: »Du hast es gewusst. Aus welchem Grund auch immer. War es da nicht an dir, entsprechende Vorsichtsmaßnahmen zu treffen? Trägst du das nicht, als hättest du ein Recht darauf?«

Sie deutete auf das Rapier an Darioles Hüfte.

Dariole presste die Lippen aufeinander. Das Rot in ihrem Gesicht wurde immer dunkler. Sie warf mir einen Blick zu und blinzelte in rascher Folge.

»Na gut.« Sie straffte die Schultern. »Messire, es tut mir Leid. Es war nicht Eure Schuld. Ich habe nicht richtig nachgedacht.«

Ich konnte nichts darauf erwidern. Sie sprach mit der Galanterie eines jungen Mannes, den man bei einem Fehler ertappt hatte und der sich nun auf angenehme Art dafür entschuldigte. Aber wie stark, fragte ich mich, wird sie gerade von Caterina manipuliert? Ist mir jetzt verziehen, oder hat sich Mademoiselle Dariole einfach in eine Ecke zurückgezogen?

»Signora.« Dariole sprach schnell, als wolle sie eine Pause vermeiden. »Ihr habt das alles schon seit langem ausgearbeitet, nicht wahr? Dann sagt mir, wo Robert Fludd gerade ist. Ich will wissen, wo ich ihn finden kann.«

Caterina schaute mich an, als suche sie meine Unterstützung. »Tut mir Leid. Das kann ich nicht vorhersagen. Er benutzt Brunos Mathematik zu viel und zu häufig, als dass ich irgendetwas in Bezug auf ihn mit Sicherheit sagen könnte.«

Die Enttäuschung in Darioles Gesicht hätte beinahe komisch gewirkt, hätte der Anblick mich nicht so geschmerzt.

»Was könnt Ihr mir denn über ihn sagen?« Dariole blickte der Frau in die Augen. »Wisst Ihr, ob ich ihn finden werde oder nicht? Wisst Ihr, ob ich ihn töten werde?«

»Gütiger Gott im Himmel, was für ein Mädchen! So blutdurstig …«

Dariole trat von der Bank weg und an den Herd. Sie starrte in die graue Asche und sagte: »Lady Arbella … Sie hat einen Arzt kommen lassen, um mich zu heilen. Ich habe es gehasst. Ich habe es gehasst, dass er an und in mir herumgestochert hat, obwohl ich hinter einem Laken war, sodass ich ihn nicht sehen konnte …«

»Dariole …«, unterbrach ich sie, doch sie ignorierte mich und drehte sich wieder zu Caterina um.

»Sagt mir also nicht, dass ich Fludd nicht finden werde, denn das werde ich.«

Caterina stand auf und legte der jüngeren Frau die Hände auf die Schultern. »Bene! Du hast alle Fragen, und ich habe keine Antwort. Lass uns sehen, was wir tun können. Solch ein leidenschaftliches Feuer muss belohnt werden.«

Jemand klopfte an der Tür. Ich hob den Kopf. Thomas, der Soldat, stand im Licht, sodass ich sein Gesicht nicht sehen konnte.

»Was ist?«

»Eine Nachricht von Hauptmann Spofforth, Monsieur.«

»Und?«

»Ein Kundschafter ist gerade aus Wells zurückgekehrt«, berichtete der Soldat. »Der Hauptmann hat mir befohlen, Euch Folgendes zu sagen: Der Mann hat berichtet, dass Prinz Heinrich und sein Gefolge nur noch fünf Meilen von Wookey entfernt sind und auf das Lager dort zuhalten.«