Rochefort: Memoiren
Dreiundzwanzig
Zelte bedeckten das Gras von Somerset. Sie standen weit auseinander für den Fall, dass Feuer ausbrechen sollte.
Inzwischen zogen sich Trampelpfade zwischen ihnen hindurch.
Das Schwerste in meinem Beruf ist nicht, den Tod eines Partners hinzunehmen, sondern nicht zu wissen, ob er überhaupt tot ist oder nicht. Doch im Laufe der Zeit werden die Fragen seltener und häufen sich schließlich unbeantwortet irgendwo im Geiste an.
Ich trat kurz zur Seite in den Schlamm, als die Kutscher ihre Tiere mit den Wagen im Schlepptau den Hang zur Höhle von Wookey hinauftrieben. Der Pfad von der Papiermühle zum Höhleneingang war sechs Zoll hoch mit Stroh bedeckt. Das war auf meine Anweisung hin geschehen. So hoffte ich zu vermeiden, dass die Pferde ständig wegrutschten. Alle möglichen Ausrüstungsgegenstände wurden an mir vorbeigeschafft, sei es für Köche, Diener, Schauspieler oder wen auch immer.
Von meinem Standort aus konnte ich den Hang hinunter zu den Zelten blicken. Mir kam eine Erinnerung. Fast wie in den Niederlanden, dachte ich, oder genauer: wie an den ein, zwei Tagen, wenn es dort einmal nicht regnet. Das Ganze hatte in der Tat etwas von einem Feldlager, wirkte dauerhaft und provisorisch zugleich, nur dass hier keine Soldaten ihre Zelte aufgeschlagen hatten, sondern die Schauspieltruppe von Prinz Heinrich.
Drei Wochen. Genau drei Wochen und drei Tage. Die letzte Juniwoche ist angehrochen.
Ist das wirklich immer so? Immer weniger Fragen, während aus Wochen Monate und aus Monaten Jahre werden?
Cecils letzte Botschaft steckte in meinem Wams. Darin hieß es, dass die Erkundigungen des Lord Lieutenant – so weit er sie unauffällig hatte einziehen können – nichts ergeben hatten.
Noch nichts ergeben hatten, korrigierte ich mich selbst.
Von meinem erhöhten Standort aus zählte ich mindestens hundert Mann zwischen den Zelten. Ein paar von ihnen waren Schauspieler, Hundeführer, Requisiteure, Waffenschmiede und Fechtlehrer, doch bei den meisten handelte es sich um Diener. Auch sah ich ein paar Frauen, die viel zu gut gekleidet waren, als dass sie etwas anderes als Huren hätten sein können; sie warteten darauf, dass man König James Jagdgesellschaft endlich davon überzeugte, zu uns zu stoßen. Wo ist er jetzt'? Bedfordshire? Nein: Devon. Darin stimmten Cecil und Fludd überein, ohne voneinander zu wissen.
Nachdem die letzten Packpferde an mir vorbeigeführt worden waren und ich wieder auf dem Pfad gehen konnte, roch ich den gar nicht mal so unangenehmen Duft von Pferdemist und dem in der Sonne getrockneten Gras. Hoch am blassblauen Himmel sang eine Lerche. Ich weiß von niemandem, wo er ist, dachte ich. Gabriel. Der Herzog … auch wenn Cecil mir in seinen Berichten versicherte, dass ihm kein Leid widerfahren war. Und was Dariole betraf …
Laute, harte Stimmen rissen mich aus meinen Gedanken, als ich mich der Mühle näherte. Die Engländer standen in Gruppen zusammen und redeten miteinander. Allerdings waren ihre Gesichter weiter voneinander entfernt, als es in Frankreich üblich ist, und sie benutzten nur wenige Gesten, um ihre Worte zu unterstreichen. Kaltblütige Engländer in Wamsen mit hohen Kragen und mächtigen Pluderhosen, alles nach der neuesten Hofmode geschnitten. Überall herrschte reges Treiben. Männer eilten in die Mühle hinein und wieder heraus, huschten zwischen den Zelten umher und stapften zur Höhle hinauf, um diese oder jene Requisite nach oben zu bringen.
Und niemand wusste, ob wir schon heute bereit sein mussten oder erst in einem Monat. Wie lange musste ich mich hier noch festhalten lassen?
Vergiss erst einmal die Frage, wann König James hier eintrifft, ermahnte ich mich, während ich vorsichtig durchs Stroh ging. Wichtiger ist: Wann kommt der Prinz? Wäre es nicht amüsant, wenn Fludd sich verrechnet hätte und Heinrich Stuart sich als Bild von einem tugendhaften Jüngling herausstellen würde?
Als ich den Fuß auf die Mühlenbrücke setzte, eilte der Sohn des Mühlenbesitzers auf mich zu. Ned Field tat sein Bestes, um meinem Blick standzuhalten. Höflich lenkte ich seine Aufmerksamkeit nicht auf die Tatsache, dass er die Wookey Höhle bis jetzt noch nicht wieder betreten hatte, und das obwohl seine ›Hexe‹ nirgends zu finden war – ich hatte mir die Freiheit genommen, sie acht Meilen nach Norden zu bringen, wo Cecils Reitertrupp unter einem Hauptmann Spofforth sich in einer Kalksteinschlucht verborgen hielt.
Als ich zu den Höhlen hinaufgeritten war, hatte Schwester Caterina schon alles vorbereitet, um in die erste Kammer zu ziehen; ihre wichtigsten Dokumente waren in Lumpen gewickelt.
»Zieht Euch wenigstens anständig an«, hatte ich sie angewiesen und ihr die Röcke und Mieder gegeben, die ich aus London mitgebracht hatte.
Trotz der Sommerhitze zog sie sich einen Wollrock über, knöpfte ihn mit geschickten Fingern zu und schnürte das Mieder. »Du hast nur Sorge, dich für mich schämen zu müssen, habe ich nicht Recht, Valentin?«
»Genau.«
»Ostrega!«, hatte sie daraufhin gerufen, mir aber nicht erklärt, warum sie lachte.
»Ich glaube nicht an Eure Prophezeiungen«, sagte ich, als wir die Felsstufen ins Freie hinaufkletterten und ich den Kopf senken musste, um nicht an die Decke zu stoßen. »Aber falls Ihr irgendetwas von den Mühlenarbeitern gehört oder gesehen haben solltet … Wisst Ihr vielleicht, wo Mademoiselle Dariole sein könnte? Ist es möglich, dass sie sie hierher gebracht haben?«
Caterina wandte ihre klaren dunklen Augen von mir ab. Draußen fiel das Sonnenlicht auf ihr schmutziges Gesicht. »Manchmal ist es besser, nicht zu wissen, was möglich ist und was nicht, Valentin. Manchmal ist es besser, zu warten und herauszufinden, was ist.«
Frust ließ mich wettern – ja, gar flehen –, und ich schwor Eide, wie man sie vor einer frommen Frau nicht schwören sollte. Nichts davon konnte sie überzeugen. So legte ich ihr die Hand auf die schmale Schulter. »Ihr habt Eure Mathematik benutzt, Signora. Sagt mir jetzt nicht, dass Ihr es nicht getan hättet! Lebt sie wenigstens noch?«
»Das kann ich dir nicht mit Sicherheit sagen. Es ist … möglich.«
Ihr Tonfall war nicht der von jemandem, der das als uneingeschränkt gute Nachricht betrachtete.
»Möglich? Lebendig, aber gefangen? Lebendig, aber nicht mehr lange? Was? Sagt es mir!«
Sie schüttelte nur den Kopf und weigerte sich zu reden.
Ich sagte mir selbst, dass ich sie ebenso wenig für unfehlbar halten durfte wie Robert Fludd, und mit diesem Entschluss machte ich mich dann an die Vorbereitungen für das mörderische Maskenspiel.
Auf der Mühlenbrücke und während es überall um mich herum geschäftig knarrte und rumpelte, wandte ich mich praktischeren Fragen und damit dem jungen Field zu. »Ich habe ausprobiert, wie lange es dauert, von unten nach oben zu gehen. Die königlichen Herrschaften werden ihr Essen kalt bekommen, sollten sie auf die Mühlenküche angewiesen sein. Aber das ist nichts Neues bei solchen höfischen Festen. In Fontainebleau ist es genauso.«
»Sir.« Ned Field nickte und murmelte vor sich hin; so dauerte es eine Weile, bis ich die Worte verstand. »Euer Schneider sucht nach Euch, Monsieur Herault, Sir.«
Idealerweise sollten andere Menschen weder meine Größe noch mein Gesicht zuerst bemerken; beides erleichterte die Identifikation, was nicht gerade nützlich für einen Spion war. Auffällige Kleidung war da schon besser, lenkte sie doch von allem anderen ab. Ich hatte einen Schneider angeworben, der mit den Schauspielern gekommen war, und ihm (trotz seiner Proteste ob der unfertigen Kostüme) befohlen, mir einen laubgrünen Satinanzug mit goldenen Seidenbändern und Knöpfen zu schneidern sowie ein auffällig geschlitztes Wams. Eine letzte Anprobe war alles, was noch fehlte. Hatte ich dann die Federn an meinem Hut in der gleichen Farbe gefärbt, sollten Fludds Männer endgültig in mir nur noch den geckenhaften Franzmann sehen. Auch das würde nicht schaden.
»Er will mich sehen? Gut.« Ich klopfte dem jungen Field auf die Schulter und machte mich in die Richtung auf, in die er deutete. Anfragen auf dem Weg zu den Zelten speiste ich mit einem höflichen »Später« ab. Ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, immer mal wieder durchs Lager zu gehen, sodass die Männer nichts Ungewöhnliches dabei empfanden, mich zu den unmöglichsten Stunden zu sehen. Ein paar meiner Wanderungen hatten mich auch nach Süden geführt, in die Sümpfe und Marschen der Levels. Dann wieder war ich nach Wells gegangen oder nördlich um den Hügel von Wookey herum zu der Felsschlucht dahinter. Dadurch hatte ich auch Kontakt zu Hauptmann Spofforth aufnehmen können. Ein Mann, der immer überall ist, ist nirgends verdächtig.
Aber wo zum Teufel soll ich mit der Suche nach Mademoiselle Dariole anfangen?, dachte ich. Ging ich vom Unwahrscheinlichsten aus, war sie ihren Häschern vielleicht entkommen und nach Frankreich zurückgekehrt. Ich konnte es ihr wohl kaum übel nehmen, sollte sie von England und meinen Angelegenheiten die Nase voll haben. Auch war sie ungestüm genug zu glauben, die Königin hätte keinerlei Interesse an ihr. Vielleicht befand sie sich ja bereits wieder auf den Gütern der Familie de la Roncière …
Die englische Sonne strahlte heiß auf meinen Rücken. Ich wischte mir den Schweiß von der Stirn. Meine Gedanken wanderten von Maria di Medici zu meinem Herrn, dem Herzog, über den ich seit einem Monat nach Heinrichs Tod keine gesicherten Informationen mehr hatte – nur Cecils Erklärung, der englische Gesandte habe sich kurz mit ihm im Arsenal getroffen und eine Warnung weitergegeben.
Derart von einem einzigen Gönner abhängig zu sein, war ein weiterer Grund, warum mir meine Position in England missfiel, dachte ich bei mir im Gehen.
Gedankenverloren bemerkte ich den Schneider gar nicht, bis der kleine Mann mir auf den Ellbogen klopfte. Ich blieb stehen. Der Mann keuchte und lächelte.
»Ich werde Euch bezahlen, sobald alles fertig ist«, sagte ich instinktiv, wie man es meist bei Kaufleuten und Handwerkern tut. Der Name des kleinen Mannes war mir entfallen. Ich erkannte ihn hauptsächlich an dem blassroten Mal auf seiner linken Wange. »Und? Ist alles fertig?«
»Monsieur kann die Sachen morgen um diese Zeit haben. Aber deswegen bin ich nicht gekommen, Sir. Ich dachte, Ihr würdet vielleicht wissen wollen … Ein Landsmann von Euch ist gerade aufgetaucht. Er spricht Französisch wie Ihr, Sir.«
Ein Mann, der in Wookey spioniert und Französisch spricht …?
Und mit ungestümer Fröhlichkeit fügte der Schneider hinzu: »Da habe ich mich gefragt, ob Ihr ihm mich vielleicht empfehlen könntet, Sir. Seine Kleider waren nicht gerade das, was man ›höfische Mode‹ nennen würde.«
Die Medial, dachte ich sofort, zuerst mit kalter Wut, dann mit wilder Freude. Die Königin hat doch noch herausgefunden, wo ich bin, und einen Mann geschickt, um mich zu töten.
»Wo?«
Der Blick des Schneiders haftete an meinem zwölften Knopf; vermutlich tat es ihm im Nacken weh, zu keinem größeren Mann hinaufblicken zu müssen. Der harte Tonfall meiner Frage ließ ihn unwillkürlich zusammenzucken. Dann deutete er auf die Papiermühle.
»Dort unten, Sir. Ich habe gesehen, wie er sein Pferd in den Stall gebracht hat.«
Wortlos machte ich mich auf den Weg den Hang hinunter und riss im Gehen mein sächsisches Rapier aus der Scheide. Ich habe schon viel zu viel Zeit als Quartiermeister und Oberst dieses Schauspielerregiments verschwendet! Nun wollte ich meinen Zorn abkühlen, indem ich den Fehdehandschuh der Medici aufnahm … und sie wissen ließ, was sie von Valentin Rochefort zu erwarten hatte.
Schlamm und Schlimmeres spritzte mir auf die Stiefel, als ich halb rennend den gepflasterten Hof der Mühle überquerte und in den Stall stürmte.
Als ich das strahlende Sonnenlicht am Eingang hinter mir ließ, konnte ich für einen Moment nichts sehen.
Schließlich klärte sich mein Blick jedoch wieder, und ich sah einen Mann, der eine Futterkrippe mit Heu füllte – einen Mann in einem seltsamen Kostüm aus mehreren übereinander gelegten Leinenroben, gehalten von einem Stoffgürtel, und das schwarze Haar hinter dem Kopf zusammengebunden.
Es ist erst gut zwei Wochen her, seit ich ihn zum letzten Mal gesehen habe, und schon erscheint er mir wieder fremd. »Saburo?«
Seine schwarzen Augen schimmerten in dem trüben Licht. Wie immer vermochte ich ihren Blick nicht zu deuten.
Dann trat plötzlich eine schlankere Gestalt hinter dem Pferd hervor, das zu fressen begonnen hatte, und warf die Bürste beiseite, mit der sie das Tier gestriegelt hatte.
Ich erkannte sie sofort.
Dariole.
»Ich … Ich scheine Euch immer in Ställen zu treffen, Mademoiselle.« Freude überkam mich, und ich trat vor in der Absicht, sie in die Arme zu nehmen. »Messire Saburo, man muss Euch wirklich gratulieren!«
Der Samurai grunzte. Er trat zwischen mich und Dariole und warf sich seine Satteltaschen über die Schulter. Dann stapfte er energisch genug an mir vorbei, dass ich zur Seite springen musste.
Ich starrte ihm hinterher. »Saburo …?«
Plötzlich schoss ein stechender Schmerz durch meinen Schenkel.
Es war ein Gefühl, als hätte mich ein Hammer getroffen. Ich kenne diesen Schmerz …
Ich blickte nach unten.
Es dauerte einen Augenblick, bis ich erkannte, was ich sah.
Eine schwarze Stahlklinge, so breit wie mein Daumen und zwölf Zoll lang, ragte aus meiner Hose.
Aus meinem Schenkel.
Blut tropfte von dem Metall … Blut, das über den Stahl lief und von der Spitze tropfte. Nasses rotes Blut breitete sich fast unsichtbar, aber so schnell wie vergossenes Wasser aus und nässte an meinem rechten Bein durch die Hose.
Der Schmerz war so groß, dass ich noch nicht einmal schreien konnte.
Ein Rapier. Ein Schwert war mir von hinten durchs Bein gestochen worden. Oh, gütiger Gott, die Schlagader!
Blut floss und tropfte, sammelte sich vor mir und versickerte im Stroh. Ich neigte mich zur Seite, langsam, und fiel. Ich wollte es nicht. Ich wusste, welch ein Schmerz die Folge sein würde, aber ich fiel, als mein Bein kraftlos unter mir nachgab.
Die tropfende Klinge wurde mir mit einem schmatzenden Geräusch aus dem Bein gerissen.
Ich fiel mit der Schulter gegen die hölzerne Stallwand und hörte sie unter der Wucht meines Gewichtes knarren. Ich versuchte, mich umzuschauen, versuchte, nicht in mein eigenes Schwert zu fallen, das ich noch immer in Händen hielt.
Eine dunkle Silhouette trat auf mich zu, umrahmt vom Licht, das durch die Tür hereinfiel. Schmerz ließ meine Sicht verschwimmen. Ich konnte ihr Gesicht nicht sehen. Ein harter, kalter Teil in mir erkannte: Was für eine Kraft sie in Hand und Schulter hat, dass sie einem Mann die Klinge einfach so durchs Bein treiben kann! Der Rest von mir stand kurz davor, wie ein grüner Junge einfach zu erstarren. Als ich die bluttriefende Schwertspitze aus meinem Bein hatte ragen sehen, bevor ich überhaupt wirklich erkannt hatte, was los war, war mir der kalte Schweiß ausgebrochen.
Gequält schrie ich auf: »Dariole, warum?«
Licht funkelte auf ihrem Schwert, als es durch die Luft fuhr.
Ich riss mein Rapier in die Höhe und fing die Klinge mit der Parierstange ab. Das war einfach Instinkt gewesen. Das Kreischen von Metall auf Metall tat mir in den Zähnen weh. Ich schmeckte Blut. Ich hatte mir auf die Lippe gebissen, als Darioles Schwert sauber durch Wolle und Leinen gedrungen war, durch Haut und Fleisch, nur eine Handspanne unterhalb meines Gemächts.
»Dariole! Ich bin es! Rochefort!« Einen Herzschlag lang hatte ich tatsächlich gehofft, dass sie mich mit einem anderen verwechselt hatte, dass das alles nur ein Irrtum war.
Sie stieß abermals zu, diesmal nach meiner Brust.
Ich warf mich hart genug mit der Schulter gegen die Holzwand, dass der Schwung mir half, mich aufzurichten. Das Gewicht auf dem linken Bein, nahm ich so gut es ging Fechthaltung ein. Ich parierte den Stoß und schabte mir den Daumen an ihrer Parierstange auf.
Dem Tode so nah rann mir salziger Schweiß in die Augen. Ich spürte, wie sich Blut in meiner Hose sammelte. Doch da war nicht dieses Pochen wie von einer verletzten Schlagader. Ich bin also doch noch nicht ganz tot … noch.
»Was tust du da?«, rief ich, wehrte die Stöße und Hiebe ab und zog mit der anderen Hand instinktiv den Dolch. Und doch kann ich sie nicht verletzen. Die Wand in meinem Rücken hielt mich aufrecht. »Dariole! Hör auf!«
Wieder ließ das Licht die Klinge funkeln, als sie emporgerissen wurde. Ich roch Blut, mein Blut, und es schnürte mir die Kehle zu. Dariole stieß unter meiner Hand hindurch.
Stoff riss auf meinem Bauch, und aus einem wilden Reflex heraus schlug ich das Rapier mit meinem Dolch beiseite. All meine Muskeln waren angespannt, während ich darauf wartete, dass mein Bauch sich öffnete und die Gedärme hervorquollen …
Kein Schmerz.
Am unteren Rand meines Sichtfeldes sah ich die aufgeschlitzte Wolle unter meinem Gürtel; die Füllung quoll aus der zerfetzten Pluderhose.
Dariole trat einen Schritt näher. Nun sah ich ihr Gesicht in dem braun-goldenen Licht. Sie hatte die Stirn in Falten gelegt wie ein Kind beim Schulunterricht. Mir blieb keine Zeit, daran zu denken, dass ich hier um mein Leben kämpfte. Ihr Schwert flog bereits aus dem Stroh und auf meinen Unterleib zu.
Ich fing ihre Klinge mit meiner ab und zwang sie wieder nach unten. Dabei lenkte ich ihre Waffe so, dass unsere Parierstangen sich schließlich treffen mussten. So hätte ich dann den nötigen Hebel, um sie entweder zu entwaffnen oder die Klinge zu brechen …
Doch bevor es dazu kommen konnte, stieß Dariole mit dem Dolch durch meine Faustbügel und ritzte das dicke Leder meines Handschuhs, bevor sie mit aller Kraft von außen gegen mein rechtes Bein trat.
Vor lauter Schmerz konnte ich weder etwas sehen noch denken.
Der Schmerz in meinen Händen sagte mir nicht, dass ich fiel, und ich war viel zu desorientiert, als dass ich die Erde unter mir erkannt hätte. Mein Dolch war weg, mein Schwert ebenfalls. Ich schnappte nach Luft und drehte mich zur Seite, sodass ich nicht auf meinem verletzten Bein liegen musste …
»Du gottverdammter Hurensohn!«
Darioles Stimme, die Stimme von Arcadie de Montargis de la Roncière, zischte mich an, doch von wo vermochte ich nicht zu sagen. Vor mir? Hinter mir? Mit Hilfe des linken Beins kroch ich zur Wand, um wenigstens im Rücken geschützt zu sein.
Ich setzte den rechten Fuß auf den Boden, um mich in die Höhe zu drücken.
Blut quoll in meinem Stiefel, und der Schmerz schoss mir so heftig vom Knie bis in die Hüfte hinauf, dass ein Schrei aus meiner Kehle drang. Ich sackte wieder zu Boden.
»Du hast es mir nie gesagt.« Darioles flüsterte. »Du hast mir nie gesagt, dass er mich als Geisel benutzen könnte.«
Dem Klang ihrer Stimme nach zu urteilen, war sie jenseits der Wut. Ich konnte nichts sehen. Langsam erkannte ich auch warum, und so wischte ich mir rasch die Schmerzenstränen aus den Augen.
Sonnenlicht flutete in die staubigen Schatten des Mühlenstalls. Ich lag mit dem Rücken an der Wand. Inzwischen war ich dem Ausgang deutlich näher gekommen, und Dariole stand voll im Licht.
Sie stach mit dem Rapier nach meinem Gesicht. Ein Sonnenstrahl erhellte ihr Gesicht. Sie hatte die Zähne zu einem wahnsinnigen Grinsen gefletscht.
Grunzend und ohne Schwert oder Dolch schlug ich wild mit den Armen um mich und betete, dass die schwere Wolle, aus der mein Wams bestand, wenigstens einen Teil des Stoßes abfangen würde. Achtzehn Zoll ihrer Klinge, von der Spitze bis zur Kehle, trieften von dunklem Blut. Ich verkrampfte mich in dem Versuch, ihr auszuweichen. »Dariole!«
Stoff riss an meinem rechten Arm. Dort, wo ich hockte, konnte ich weder richtig sehen noch die Gefahr einschätzen oder aufstehen. Darioles Schwertspitze drang in meinen Bizeps kurz unterhalb der inzwischen verheilten Narbe von Fludds Hieb.
Ich werde hier sterben, dachte ich mit solch vollkommener Klarheit, dass ich keine Angst mehr empfand. Stattdessen fühlte ich beunruhigenderweise sogar Erleichterung. Der Todeswunsch des professionellen Duellanten: Es ist getan, es ist vorbei. Ich muss nicht mehr weiterkämpfen. Ich kann mich ausruhen.
Nein. Dem habe ich mich nie ergeben.
Darioles Schwertspitze kam vor meinen Augen zum Stillstand.
Die Sonne war weitergewandert, und so konnte ich im braunen Schatten des Stalls nur noch ihren weißen Kragen sehen; der Rest war ein dunkler Schatten. Nur auf ihrer Klinge spiegelte sich nach wie vor das Licht, als sie sie wieder senkte.
Instinktiv begann ich, im Geiste zu planen: Pack ihr Schwert, und reiß ihr den Dolch aus der Nebenhand. Tritt ihr dann die Beine weg, und ramm ihr ein Fuß Stahl in den Leib. Falls ich denn treten kann …
»Rochefort«, sagte sie.
Ich hörte einen rauen, neuen Unterton in ihrer Stimme, nur in diesem einen Wort. Ihre Haltung war zweckmäßig, keinerlei Spielereien mehr. Alles war aufs Töten ausgerichtet. Ihr Gesicht sah aus, als hätte sie seit einer Woche nicht mehr geschlafen.
Gewohnheitsmäßig taxierte ich sie mit den Instinkten eines Fechters. Ohne Schlaf mangelt es ihr an Ausdauer, aber dass sie halb verrückt ist, macht sie umso gefährlicher … Als Valentin Rochefort, als der Mann und nicht als der Duellant, wollte ich mich ihr zu Füßen werfen und mein Gesicht in den Staub drücken.
Du hast es mir nicht gesagt.
Sie hätte mir die Klinge in den Hals rammen können, und ich hätte es nicht bemerkt; das erkannte ich plötzlich.
Ich bettelte nicht.
Ich würgte heraus: »Es tut mir Leid.«
Irgendetwas in ihrem Gesicht veränderte sich. In dem braun-goldenen Licht sah ich, wie sie die Lippen zurückzog und die Zähne entblößte … wie ein Mann, der etwas nur mit dem größten Ekel aß.
Ich schwitzte und spürte, wie die Kraft meinen Körper durch die Wunde verließ. Dennoch gelang es mir im Geiste, die junge Frau von der Waffe zu trennen, deren Klinge aus schlichtem, englischen Stahl bestand, ein Schwert, wie sie es sich in jeder Schmiede hatte besorgen können … nur dass diese Waffe mich auf schmerzvollste Art töten würde, sollte ich nicht die richtigen Worte für diese Frau finden.
Ohne nachzudenken, streckte ich die Hand aus und schloss sie um die Klinge, die mich bedrohte.
Nur mein Handschuh verhinderte, dass sie mir in das weiche Fleisch zwischen Daumen und Zeigefinger schnitt, und mein Hosenbund war alles, was sich noch zwischen der Spitze und meinem Bauch befand.
»Wie habe ich jemals auch nur denken können, dass ich das will?«
Erst als ich Darioles Gesicht sah, wurde mir bewusst, dass ich laut gesprochen hatte.
In dieser Sekunde waren wir uns so nah, als würden wir einen Geist teilen. Ich sah, wie sie sich an die Fechtschule erinnerte und an den wehrlosen Monsieur Rochefort, wie er vor ihr kniete, sein Schwanz so steif wie ein Schwert. Und ich sah, wie sie mich jetzt sah: zu ihren Füßen, blutig, hilflos.
Anspannung bebte in ihrer Stimme – dieselbe Anspannung, die ihre Schultern verkrampfte, sie ihre Augen zu weit aufreißen ließ und ihr Lächeln auf beunruhigende Art strahlend machte. Sie sagte: »Du widerst mich an.«
Ich machte ein Geräusch, halb Lachen, halb Schluchzen. Ich hatte mir gewünscht, dass sie sich von Monsieur Rochefort angewidert zeigt, doch nun da sie es war, wünschte ich, es wäre anders.
»Ich widere mich selbst oft an«, erwiderte ich mit erstickter Stimme. »Dariole. Warum?«
Ihr Gesichtsausdruck ließ mich an andere Gefechte denken. Ich sah keinen Zorn in ihren Augen, keinen Hohn und auch keinen Sadismus; ja, ich sah noch nicht einmal die effiziente Freude, mit der sie am Strand in der Normandie getötet hatte. Nun war keine Zeit für ›Gnade!‹, ›Verschont mich!‹ oder ›Bitte, Mademoiselle, ich werde alles tun, was Ihr wollt!‹.
»Bitte, Mademoiselle«, sagte ich in sanftem Ton, »warum tut Ihr das?«
Sie blickte auf mich hinunter.
In dem darauffolgenden Schweigen entwich mir ein lauter Furz.
Er war laut genug, um von den Stallwänden widerzuhallen. Unwillkürlich zuckte ich zusammen. All meine Muskeln verspannten sich, während ich auf ein spöttisches Lachen wartete. Was wird sie sagen? Wie wird sie mich verspotten? Wird sie mich schier aus Verachtung töten?
Dariole lachte weder, noch bewegte sie sich. Sie schaute einfach nur weiter auf mich hinunter, das Schwert in der Hand und offenbar ein wenig ungeduldig.
Ich spürte, wie ich vor Verlegenheit errötete; mit erotischen Gefühlen hatte das diesmal jedoch nichts zu tun.
Wäre das früher passiert, Dariole hätte lauthals aufgelacht wie ein Straßenjunge. Nun sah sie mich jedoch an wie ein Erwachsener ein unbändiges Kind. Und bei mir regte sich körperlich gar nichts.
»Ich kann noch nicht einmal auf angemessene Art um Gnade flehen«, brachte ich mühsam hervor. »Mademoiselle … Ja, ich hätte Euch sagen sollen, dass Fludd Euch gefangen nehmen könnte. Es tut mir Leid.«
Wieder veränderte sich ihr Gesichtsausdruck. Mir schnürte es die Kehle zu. Ich glaubte, ihre Gesichtszüge würden sich verziehen wie die eines Kindes, kurz bevor es in Tränen ausbricht … dann: Nein, sie steht kurz davor, in lautes Lachen auszubrechen.
Sie tat keines von beidem.
Mit einer gekonnten Bewegung nahm sie ihre Klinge fort. Kein Schmerz durchfuhr meine Hand. Ich erkannte, dass sie unverletzt war. Staub wirbelte auf, als Dariole einen Schritt zurücktrat.
»›Gefangen nehmen‹«, sagte sie langsam. »Robert Fludd könnte mich gefangen nehmen …«
Ich vermochte dem Gefühl in ihrer Stimme keinen Namen zu geben.
»Steh auf«, sagte sie.
Mühsam rappelte ich mich auf und drückte dabei die Hand auf meine Wunde. Meine Waffen lagen mehrere Schritt von mir entfernt auf dem Stallboden. Den Rücken gegen die Wand gelehnt, gelang es mir tatsächlich, mich halb aufzurichten.
»Du blutest.« Das war eine sachliche Feststellung.
Ich nickte und starrte Dariole an. Der Blutverlust machte mich leicht benommen. Meine Stiefel waren bis zum Knöchel nass. Sie kann mir ihr Schwert einfach so in den Leib rammen. Ich bin entwaffnet. Ich kann nichts dagegen tun.
Dariole steckte das Rapier in die Scheide zurück, ohne die Klinge vorher zu säubern.
Das leise Klicken, als die Parierstange auf den hölzernen Abschluss der Scheide traf, ließ mich zusammenzucken wie eine alte Frau, wenn der Wind die Tür zuschlägt.
Dariole trat vor. Sie war in meiner Reichweite. Ich hätte sie schlagen können.
»Ist das …?« Es fiel mir schwer zu sprechen. »Dieser Schmerz. Ist er so, wie es war? Für Euch bei Fludd, meine ich? Er hat mir geschrieben, dass Ihr verletzt worden seid.«
Dariole presste die Lippen aufeinander.
Bevor mir klar werden konnte, was sie vorhatte, trat sie dicht an mich heran, schob ihre Schulter in meine Achsel, legte sich meinen Arm um die Schulter und richtete sich auf.
Hätte ich lachen können, ich hätte es getan. Sie war so klein, dass ich noch immer vornübergebeugt stand, obwohl sie sich zur vollen Größe aufgerichtet hatte. Ich wollte gar nicht erst darüber nachdenken, wie viel von meinem Gewicht ich tatsächlich auf sie verlagern musste. Und warum hilft sie mir jetzt?
Wortlos änderte sie ihre Haltung, drückte die Schultern gegen meine Brust und zwang mich, in Richtung Tür zu wanken. Ich gab alle Gedanken an Waffen auf, als sich die durch den Blutverlust hervorgerufene Schwäche richtig bemerkbar machte. Dann nahm ich den feinen Geruch ihres Schweißes wahr. Als wir das Sonnenlicht erreichten, sah ich, dass sie ein braunes Leinenwams trug sowie eine ebensolche Hose – eine Farbe, die ihr Gesicht bleich und ausgemergelt wirken ließ.
In der Tür blieb sie stehen und atmete tief durch. Ihre Stimme klang metallisch.
»Robert Fludd will König James tot sehen. Das reicht als Grund, um James Stuart am Leben zu erhalten. Ich will Robert Fludd tot sehen.«
Ihr Tonfall änderte sich nicht, ebenso wenig wir ihr Gesichtsausdruck. Aufmerksam musterte ich sie. Einen Übelkeit erregenden Augenblick lang war ich nicht sicher, ob das wirklich Dariole war.
Ich nickte zu dem Bein, auf das ich meine Hand drückte, um die Blutung aufzuhalten. »Und wollt Ihr mich auch tot sehen?«
»Ich weiß es nicht.«
Die unverhohlene Wahrheit ließ mich schaudern.
»Wenn Ihr … Wenn du hier bist …« Erst langsam sickerte bei mir durch, was ihre Gegenwart bedeutete. »Dariole, jetzt gibt es nichts mehr, was mich an diese verrückte Verschwörung binden würde! Was Lord Cecil betrifft, so werde ich schon einen Weg an ihm vorbei finden. Wir können hier weg.«
Dariole nickte vage in Richtung Nordwesten. »Geht nach Bristol, du und Saburo. Dort werdet ihr ein Schiff finden. Ich bleibe hier.«
»Hier …?«
Sie blickte zu mir hinauf. »Du wirst von hier verschwinden. Du hast mir schon genug Ärger eingebracht. Mach einfach nur, dass du hier wegkommst, während ich das erledige!«
Je lauter ihre Stimme wurde, desto höher wurde sie auch und geriet ins Wanken. Ich streckte die Hand aus, um mich am Türpfosten festzuhalten. »Dariole …«
Sie ließ mich los und trat von mir weg.
»Weißt du was? Das hier …« Sie riss das neue englische Rapier wieder hervor und wedelte damit im Sonnenlicht. »Das hier ist vollkommen egal. Das ist nur eine Täuschung. Es ist nie da, wenn du es … Es ist nichts! Es kann gar nichts! Wo war es denn, als ich es gebraucht hätte?«
Sie trat einen Schritt zurück und in den Hof hinein. Meine linke Seite fühlte sich plötzlich kalt an. Ich verstärkte meinen Griff um den Türpfosten, doch zu spät. Ich brach zusammen, und Blut aus meinem Bein sickerte zwischen meinen Fingern hindurch. Gleichzeitig kam der Schmerz, und der Schweiß trat mir auf die Stirn.
»Weißt du was?«, knurrte Dariole.
Sie drehte sich um, und ich glaubte schon, die verschmutzte Klinge würde mir jeden Augenblick durchs Herz fahren.
»Scheiß auf das Ding hier!«
Dariole senkte die Spitze auf das Hofpflaster und stellte den Fuß auf die Klinge.
Ich schrie. Im selben Augenblick trat sie nach unten und riss das Heft nach oben.
Das geschmiedete Metall brach mit einem Knall wie ein Pistolenschuss, nur sechs Zoll vom Ricasso entfernt.