29 Vom Denkmal herab gesprochen
Was, außer bloßer Laune, war hier im Spiel? Wozu diese Demütigung? Wir haben lange gerätselt, so offenkundig er auf Befehl gehandelt hat. Als Zeugen, und weil Fonty dem Archiv nahestand, litten wir mit ihm, dem Opfer verschiedenster Machenschaften und geheimer Dienste. Unser Verdacht fiel nicht nur auf Pullach und Köln; waren wir doch sicher, daß die Normannenstraße, obgleich inzwischen versiegelt, noch immer oder wiederum tätig war. Der in früherer Zeit geläufige Verdacht »Da steckt bestimmt die CIA hinter« wäre gewiß eine Nummer zu groß gewesen und hätte kaum literarische Bezüge hergegeben; was wußte man schon in Amerika, außer daß »Quitt« dort zur schlechteren Hälfte spielt, vom märkischen Adel und preußischen Ehrenkodex, vom Werk des Unsterblichen oder von dessen Familie, also von jenem gespannten Vater-Sohn-Verhältnis, das von den Wuttkes fortgelebt wurde? Jahrelang hatten sich Möglichkeiten ergeben, den Hebel erpresserisch anzusetzen. Etwa beim Sohn Georg, von dem uns Fonty ein Kinderbild skizziert hat – »Er war ein lieber Junge jedoch mit Schwermutsstempel. Als Knirps schon lief er gerne, die Hände napoleonhaft auf dem Rücken, durch Tante Pinchens Wohnstube …« -; doch nach durch Todesfall verkürzter Laufbahn schied der Fliegerhauptmann aus. Bei Friedel, den der Vater uns gegenüber einen »Gesinnungstrampel und Wahrheitshuber« nannte, war, außer pietistischen Traktaten, nichts zu holen gewesen. Blieb, wenn man von Martha – »Diesem Pechmatz!« -und ihrer eher banalen Kaderakte absah, nur der mittlere Sohn Teddy übrig, der, weil doppelt belastbar, unter Verdacht stand und – nach Belieben herbeizitiert – vor dem Denkmal anwesend war: einerseits als Ministerialrat auf Informantenliste, andererseits als Intendanturrat, der, anstelle des Vaters, dem Bildhauer Wiese Modell gesessen hatte. Wir sagten uns schließlich: Keine der üblichen Schikanen, vielmehr das Doppel der Söhne, Theo und Teddy, hat Fonty, über die Findlinge hinweg, treppauf gezwungen; und nur als Vermutung blieb die Frage übrig: Könnte es sein, daß Hoftaller sein Objekt aus verehrender Zuneigung so prominent erhöht sehen wollte?
Also erstieg Fonty das Denkmal. »Ridikül ist das!« rief er und machte sich dennoch lächerlich. Vorsichtig, ohne ein Pflänzchen zu zertreten, setzte er Schritt nach Schritt über die Märzbecher und Krokusse hinweg, dann bemühte er sich auf einen der efeuberankten Findlinge, war schon auf dem nächsthöheren, nahm schließlich beherzt die drei steingehauenen Stufen und stand nun unschlüssig vor der Steinbank, deren Sitzfläche mit einem Doppelprofil abschloß. Zierlich, nein, infam verkleinert sah er neben der überlebensgroß seßhaften Bronze aus. Doch in welcher Proportion auch immer: Fonty hatte, auf Befehl, sein Denkmal erstiegen. »Setzen! Jetzt hinsetzen!« rief Hoftaller von unten. Er zielte mit der Zigarre. »Reicht denn das nicht? Diese Klettertour!«
»Genau in die Lücke dazwischen
setzen!«
»Komme mir albern vor …«
»Los doch!«
Also stellte Fonty seinen weit kürzeren Wanderstock
neben dem in Bronze gegossenen ab.
»Nun den Hut, den Hut runter!«
Also stülpte er seinen Hut, der beim Klettern ein wenig
verrutscht war, auf den um mehrere Nummern größeren Abguß. Mit Mühe erklomm er die ihm zu hohe Steinbank, schaffte es endlich.
»Na also!«
Einige Zeit verging, bis er unbequem auf dem metallenen, zwar flach, aber doch faltig aufliegenden Mantelsaum des Dichters der Mark saß. Komisch sah das aus, wie seine zu kurz wirkenden Beine baumelten.
»Nun das rechte Bein übers linke!«
Also kopierte er den Überschlag und wartete weitere
Befehle ab.
»Der Hut hängt schief. Geraderücken! Jetzt den Stock
weniger schräg. Genau! Und nun noch den Shawl vom
Hals und über die Lehne. Jadoch! Wir schaffen das schon. Sieht
prima aus.«
Dann wurde er angewiesen, mit
übereinandergeschlagenen Beinen ein bißchen nach links
zu rutschen, noch ein bißchen.
»Gut so, Fonty. Das macht sich.«
Aber wohin mit den Händen? Er wagte es nicht, sich auf
dem ehernen Knie des Dichters abzustützen oder nach
dessen auf steinerner Lehne abgelegten Shawl zu greifen,
weil das nicht ins Bild paßte. Schließlich nahm er, ohne
weiteren Befehl abzuwarten, die vorgegebene Haltung ein. Ungefähr glich er sich an, wenn auch ohne Bleistift und Notizbuch. Hoftaller schien zufrieden.
Welch eine Anmaßung! jetzt hätten wir »ridikül« rufen können. Doch auch Fonty spürte das Überlebensgroße, nun, da er Arm an Arm saß. Neben ihm dominierte das Original. Zwar mangelte es nicht an Ähnlichkeit, doch wirkte die verkleinerte Ausgabe wie ein geschrumpftes Modell.
Hoftaller, der unten breitbeinig mit Zigarre stand, wies ihn nun an, die gleiche Blickrichtung einzunehmen. »Nicht einfach in die Ferne, in Richtung Bahnhof gucken!« rief er.
Jetzt schauten beide dorthin, wo einst auf einer Station, die Paulinenauer Bahnhof hieß, die Eisenbahnzüge von Berlin herkamen, nach Berlin abfuhren. Damit hätte die Vorstellung ein Ende finden können, wenn nicht an diesem zuerst verregneten, dann sonnigen Märztag der Zufall mitgespielt hätte.
Aus der Tiefe der Parkanlage kam Publikum. Ein schon älteres Paar, er deutlich betagter als sie, näherte sich dem Denkmal. Sie mager, hochgewachsen und von gotischem Reiz, er bullig gedrungen. Ein wenig vorgestrig sahen sie aus. So betont er mit Baskenmütze und in gebeugter Haltung den Pfeife rauchenden Künstler auf Motivsuche abgab, war sie es doch, die den Photoapparat in Anschlag brachte. Eine Idee, die uns hätte kommen sollen, wurde von einem Paar realisiert, das, ohne Rücksicht auf die gestellte Szene, nun in unseren Bericht einbricht: Störend und doch wie selbstverständlich kamen sie dem erzählten Verlauf dazwischen, sozusagen ein Intermezzo lang. Sie knipste, er gab Anweisungen. Sein Interesse an Details war verräterisch. So mürrisch er über die leicht schiefsitzende Brille hinweg dreinblickte, schien er dennoch bei Laune zu sein: »Toller Guß! Siehste, sitzt auf Granit. Beißt sich kolossal, hätte unser Freund da oben gesagt. Jetzt von vorne. Bißchen mehr Abstand. Paß auf die Entfernung auf.« Da sie zu ihm Vadding, er zu ihr Mudding sagte, schienen beide von der Küste zu kommen, aus Vorpommern etwa. Sie hatte Mühe beim Photographieren, weil ihr die langen und obendrein gekräuselten Haare immer wieder die Optik verhängten. Er brummelte unterm hängenden Schnauz: »Das kommt, weil du keinen Hut tragen willst, nicht mal ne Mütze. Nun im Halbprofil, ja, von hier aus.« Fonty saß wie in Erz gegossen; auch Hoftaller stand samt Zigarre versteinert. Das Paar jedoch wollte weder den Tagundnachtschatten im Vorfeld des Denkmals noch das als Double erhöht sitzende Objekt wahrnehmen. Beide waren ihnen Luft. Und zum Beweis rief der Pfeifenraucher: »Guck mal, neben unserem Freund ist viel Platz. Möchte wetten, der war heut in Friesack und will gleich weiter in Richtung Rheinsberg laufen. So, nur noch die Inschriften, das reicht dann.« Einen halben Film wird sie Bildchen nach Bildchen abgeknipst haben. Ihm ging immer wieder die Pfeife aus. »Paß auf mit der Asche«, sagte sie. Dann verschwanden sie endlich in Richtung Stadt: ein ungleiches Paar, das einen ganz anderen Roman lebte. Wir aber haben noch lange über Fiktion und Wirklichkeit nachdenken müssen, und Fonty, der beispielhaft stillgehalten hatte, wird sich seinen Teil gedacht haben; auch er neigte dazu, was ihm nicht paßte, zu übersehen und tatsächliche Lücken mit den Kindern seiner Laune aufzufüllen.
Als beide wieder für sich waren, taten sie so, als sei nichts geschehen. Aus Hoftallers Sicht zeigten die Bronze und Fonty unverrückt ihr jeweiliges Halbprofil. Sosehr der Größenunterschied irritierte, wurde dennoch offensichtlich, daß es dem Bildhauer und Professor Max Wiese gelungen war, eine gewisse Ähnlichkeit, sei es mit dem Unsterblichen, sei es mit Fonty, zuerst in Modellierton anzulegen, dann im Gipsguß zu stilisieren und schließlich durch Ziselierarbeit am Bronzeguß zu steigern; womit bewiesen war, daß der modellsitzende Sohn und Kriegsintendanturrat als familiärer Nothelfer gute Dienste geleistet hatte. Überzeugend die scharfkantige Nase, das unterm Schnauzbart zurückweichende Kinn, die durch fehlenden Haarwuchs besonders hoch wirkende Stirn und der den Augen von vielen Zeitgenossen nachgesagte, mal kühn, mal forschend genannte Blick. Wenn auch die Frisur der Bronze, im Vergleich mit Fontys über die Ohren fusselnden und auf den Mantelkragen kriechenden Strähnen, als zwei zu ordentlich gekämmte Wellen in den Nacken des Dichters fiel, war zumindest, was die flauschigen Koteletten betraf, dieses haarige Detail getroffen. Weil aber der Guß den noch nicht sechzigjährigen Wanderer wiedergab, der bis dahin keine Romane geschrieben und »Vor dem Sturm«, kaum begonnen, wieder beiseite gelegt hatte, wirkte Fonty neben der Bronze greisenhaft vergeistigt, sozusagen mit »Effi Briest« im Kopf und nach längerer Nervenschwäche. Nichts Robustes, keine Forsche ging von ihm aus, eher seine nun deutlich von nervösen Zuckungen begleitete Zerbrechlichkeit. Auch schwamm sein Blick, so daß wir das häßliche Wort »Triefaugen« nicht vermeiden können. »Das reicht, Fonty!« rief Hoftaller. »Fabelhaft, wie Sie diese Touristen ignoriert haben. Sind wie ne Landplage. Müssen alles photographieren, doch genau hingucken, das schaffen die nie.« Dann winkte er ihn mit der Zigarre herab. Aber der alte Mann blieb sitzen. Wie angewachsen saß er und rührte sich nicht. Mehrmals dazu aufgefordert, nun endlich vom Denkmal zu lassen und treppab zu steigen, klebte er dennoch an der Bronze. Wir hielten den Atem an. Er verweigerte sich. Kein noch so scharfer Befehl holte ihn vom Sockel. Fonty ließ sich nicht kommandieren, war seßhaft. Und dann sprach er vom Denkmal herab.
Anfangs enttäuschend. Wir hätten mehr oder anderes erwartet, etwa einen Erguß über die Unsterblichkeit, gewürzt durch Schillers ewigen Lorbeerzustand und gespickt mit Sottisen den Götzen von Weimar betreffend. Und wenn nichts Boshaftes über andere, so wäre doch vom Denkmal herab als Übersicht ein Panorama des Gesamtwerks zu erwarten gewesen. Wir hätten uns mit einer leidenschaftlichen Deklaration des Menschenrechts auf Zweideutigkeit zufriedengegeben. Oder mit etwas aus dem »Stechlin«, wenn der Alte, anstatt einer Tischrede anläßlich der Hochzeit von Woldemar und Armgard, so vor sich hin plaudert: Jetzt hat man statt des wirklichen Menschen den sogenannten Übermenschen etabliert; eigentlich gibt es aber bloß noch Untermenschen, und mitunter sind es gerade die, die man durchaus zu einem ›Über‹ machen will …« Jadoch! Hätte er nicht aufstehen und stehend den preußischen Adel endgültig verfluchen, den vierten Stand hochleben, sich selbst und den Unsterblichen einschmelzen und durch wortwörtlichen Guß aufs neue in Positur bringen können? Wir hofften daneben. Selbst seinen Tagundnachtschatten mag er enttäuscht haben. Nichts Theatralisches geschah, und wäre ihm auch nur so etwas wie eine Pantomime gelungen. Denn immerhin war, was Fonty betraf, mit Clownerien zu rechnen. Er hätte sich chaplinesk auf den Schoß der sitzenden Bronze lüpfen, den Wanderer umarmen, abküssen können, dabei mit den Beinen strampelnd. Ihm wäre eine Zirkusnummer zuzutrauen gewesen; und als in Angst und Verzücken versetztes Publikum hätten wir ihn gerne akrobatisch und rittlings auf den ehernen Schultern des Wanderers gesehen. Nichts wurde in Szene gesetzt. Ohne mimische Überhöhung, mit eher beleidigtem Unterton ließ sich Fonty zuerst einmal über die neben ihm sitzende Bronze aus. Nörgelnd nahm er Anstoß an der ohnehin bekannten Tatsache, daß nicht der Unsterbliche, sondern dessen Sohn, nein, keineswegs der Buchhändler und Verleger Friedel, vielmehr der Intendantur-Assessor, dann Intendanturrat, später Vortragender Rat, Korpsintendant, schließlich Wirklicher Geheimer Kriegsrat dem Bildhauer Modell gesessen habe und das gleichfalls und mit Eselsgeduld für das marmorne Denkmal im Tiergarten. Das sehe man doch. Ganz ungeistig witzlos sei die Ausstrahlung der Bronze. Alles wirke bieder und ledern. Der ganze Kerl stecke im Leihkostüm.
»Ein kostümierter Krautjunker!« rief Fonty, nun sichtlich erregt. Doch so empört er war, blieb er dennoch sitzen: »Dazu ein ewiger Prinzipienreiter. Frömmelte obendrein, mein Herr Sohn, dem selbst ein schnellgereimter Prolog für das Fest der französischen Kolonie zuviel Mühe war. Alles blieb bei mir hängen. Aber er jammerte, es habe ihm an wahrer Vaterliebe gefehlt. Als ob unsereins auf Rosen gebettet gewesen wäre. Im Gegenteil! Mein alter Herr hat sich den Teufel um seinen Filius gekümmert. Wie hätte er auch sollen oder können. War selber eine sprichwörtlich verkrachte Existenz. Der eine wie der andere. Doch beide am Ende bei ihrer Schweinemast oder Karnickelzucht zufrieden mit sich, wenn auch voller Verachtung für Neuruppin, dieses Garnisonsnest, diese Philisterzuchtanstalt und deutschnationale Brutstätte der braunen Pest. Der alte Wuttke hat nie verwunden, daß sie ihm hier, gleich gegenüber, wo noch der Schornstein von Oehmigke & Riemschneider steht, nur weil er Sozi war, gekündigt haben. Immer wieder arbeitslos danach! Und die Ehe im Eimer. Und als er nach dem Krieg hier wieder, samt Ortsverein, Sozi sein wollte, haben ihn die Kommunisten wie einen räudigen Hund behandelt, so daß ihm nichts als Flucht in den Westen blieb. Neuruppin! Ein verschinkelter Exerzierplatz! Und doch fing hier alles an. Die ersten Quartanergedichte. Und als dann feststand: Dichter bin ich, Schriftsteller will ich werden, hat der Alte nur gelacht: ›Mach mal!‹ Hat ja recht gehabt mit seinem Spott: ›Ein Tintensklave mehr!‹« Das alles im Sitzen herausgepreßt. Doch dann rutschte Fonty von der Steinbank und wollte nicht mehr auf dem kalten, feucht beschlagenen Faltenwurf der Bronze kleben. Er stellte sich vor den bekrittelten Abguß. Nun, da er sich ausgekollert hatte, stand er zu freier Rede bereit. Vor ihm die märzliche Parkanlage und unten, sozusagen zu seinen Füßen, lauerte Hoftaller, sein auf kleinsten Nenner geschrumpftes Publikum.
Doch auch wir waren gespannt und erwarteten den großen Entwurf, wurden aber, kaum hatte er mit ersten Worten das Thema benannt, abermals enttäuscht. Er zapfte einen Aufsatz an, der 1891 mit dem Titel »Die gesellschaftliche Stellung der Schriftsteller« unter dem Decknamen »Torquato« im »Magazin für Literatur« veröffentlicht worden war und auf wenigen Seiten die ganze Misere der schreibenden Zunft, besonders der deutschen preisgegeben hatte; vor hundert Jahren ein Skandal, doch heute? Fonty war der Meinung, es habe sich hierzulande – er sagte: »im Prinzip« -nichts geändert. Deshalb sprach er vom Denkmal herab wie aus aktuellem Anlaß über die »catilinarischen Existenzen«, wobei er, zum besseren Verständnis und offensichtlich ein größeres Publikum imaginierend, den römischen Verschwörer Catilina als Vorläufer der Literatur zu sich aufs Podest holte und dann streng nach unten wies, wo er den Gegenspieler, »die observierende Antimacht, das Prinzip Tallhover« ausmachte. ›Jadoch!« rief er. »Was wären wir ohne Zensur, ohne Aufsicht? Sie, mein auffällig unauffälliger Herr, sind schlechterdings unser gutes Gewissen!« Nachdem er diese besondere Form der Arbeitsteilung als zünftig akzeptiert hatte, kam er auf den miesen Ruf der gesamten Zunft zu sprechen. Noch immer einführend in sein Thema, zitierte er aus einem Brief an Friedrich Stephany: »Furcht ist da, aber nicht Respekt. Und der letzte Steueroffiziant gilt im offiziellen Preußen mehr als wir, die wir einfach ›catilinarische Existenzen‹ sind.« Jetzt stand er nicht mehr, sondern ging vor der sitzenden Bronze auf und ab, als hätte er die rotchinesische Teppichbrücke seiner Studierstube unter den Füßen. Und aus diesem Auf und Ab begann Fonty, die miserable Stellung der Schriftsteller zu entwickeln: »Die mit Literatur handeln, werden reich, die sie machen, hungern entweder oder schlagen sich durch. Aus diesem Geldelend resultiert dann das Schlimmere: der Tintensklave wird geboren. Die für ›Freiheit‹ arbeiten, stehen in Unfreiheit und sind oft trauriger dran als mittelalterliche Hörige.« Dann kam er auf die großen Namen der »Schriftsteller-Aristokratie«, war aber, nachdem er sie kunterbunt von Gustav Freytag bis Erwin Strittmatter, vom jungen Hauptmann bis zum späten Brecht aufgezählt hatte, der festen Meinung, »daß auch Glück und Erfolge die Sache nicht erheblich bessern«. Nach längerem Lamento -»Respekt ist etwas, das kaum vorkommt, immer Blâme. Das ganze Metier hat einen Knacks weg« – ließ er eine Einschränkung zu: »Am besten gestellt ist der Schriftsteller, wenn er gefürchtet wird …« Und nun führte er mit festem Blick auf Hoftaller, der mit inzwischen kalter Zigarre zu ihm aufschaute, diese Furcht vor der Literatur auf den »gewissen DetektivCharakter des Metiers« zurück. Einerseits feierte er die staatssichernde Angst vorm »klärenden, aufklärenden, den Kaiser nackt nennenden Wort«, und andererseits war ihm das »Elend der Aufklärung« beklagenswert. Er stürzte den unten lauernden Hoftaller in ein Wechselbad extremer Befindlichkeiten, indem er der Zensur als einer »nichtswürdigen und zugleich belebenden Institution« Dauer und, mehr noch, »die mindere Form der Unsterblichkeit« versprach. Dann aber machte er plötzlich und offenbar gutgelaunt -er rieb sich die Hände einen Vorschlag zur Verbesserung der Zustände, den er jedoch bald relativierte: »Vor ungefähr hundert Jahren konnte noch naiv und treuherzig gesagt werden: ›Der Staat allein kann hier Wandel schaffen, wenn er das Ungeheure tut und eines schönen Tages ausspricht: Diese meine ungeratenen Söhne sind nicht so ungeraten, als wofür ihr sie anseht. Auch sie stehen meinem Herzen nahe, sie bedeuten etwas, sie sind etwas …‹ Doch heutzutage, nachdem der Arbeiter- und Bauern-Staat so väterlich zu seinen Schriftstellern gesprochen, sie an die breite Brust genommen, schier erdrückt und doch fürsorglich gepflegt, mit Wohltaten gepäppelt, gleich einem hegenden Förster in Schonungen geschützt und sie allesamt unter die immer wache Aufsicht seiner den Staat sichernden Organe gestellt hat, so daß den vorher mißachteten Schriftstellern solche Aufmerksamkeit als Respekt zuteil wurde, sehen wir jetzt mit Entsetzen, daß es dennoch bei der Misere geblieben ist. Selbst der aufsässigsten Feder darf unterstellt werden, sie habe sich der Hofschreiberei verdingt. Dem mutigsten Appell liest man bestellten Protest ab. Und trat gelegentlich die Wahrheit auf, gilt ihr Auftritt heutzutage als ›zuvor genehmigt‹. Es gab ja schon früh warnende Vorzeichen. Wer hat dem armen Herwegh die Audienz vor König Friedrich Wilhelm eingefädelt? ›Ich liebe eine gesinnungsvolle Opposition!‹ hat seine Majestät geflötet und alsbald den gelackmeierten Dichter aus Preußen ausweisen lassen …« Fonty hatte seinen Ton gefunden. Jetzt wieder standhaft, rief er mit anklagender Geste, deren Fingerzeig abwärts wies: »Das war doch Ihr Werk, Tallhover! Sie haben das gedeichselt. Sie und Ihresgleichen haben allzeit für Transport gesorgt. Wer hat den armen Loest in Bautzen hinter Gitter gebracht? Wer hat die Besten, den bis zuletzt störrischen Johnson voran, aus dem Land gegrault? Wem verdankt Ihr Biograph die Folgen solch intensiver Pflegschaft? Wer hat unser sozialistisches Vaterland wie eine geschlossene Anstalt gesichert und den Schriftstellern obendrein, sobald sie aufmuckten, den Kantschen Zynismus als kategorischen Imperativ getrichtert? Sie waren das, vielgestalt Sie! In immer größerer Erfolgsauflage: Sie, Sie und Sie. Dabei allzeit lesefreudig, denn eure von mir unbestrittene Liebe zur Literatur erschöpfte sich in der von euch wortklaubend besorgten Zensur. So nah standen wir eurem Herzen, daß dessen Pochen uns den Schlaf nahm. Eure Fürsorge hieß Beschattung. Rund um die Uhr habt ihr Schatten geworfen. Tagundnachtschatten seid ihr. In Armeestärke fiel Schatten auf uns. Dem ganzen Land als Schattenspender verordnet. Doch insbesondere uns wart und seid ihr danebengestellt. Deshalb sollte der Aufsatz von dazumal nunmehr ›Die gesellschaftliche Stellung beschatteter Schriftsteller‹ heißen, denn seitdem hat sich einiges verändert, doch nichts im Prinzip.« Nur einen Augenblick lang hörte Fonty seinen letzten Worten nach, dann stieg er über die steingehauenen Stufen und die märkischen Findlinge vom Denkmal herab, schonte Krokusse und Märzbecher und vergaß vor seinem Abstieg nicht, Hut, Shawl und Stock mitzunehmen, die er, wie befohlen, auf dem Bronzehut und seitlich des ehernen Wanderstabs abgelegt oder beiseite gestellt hatte. Langsam, mit Bedacht griff er nach seinen Utensilien und stieg dann ab. Unten empfing Hoftaller einen zitternden Greis. So heftig auf des Staates unsterbliche Fürsorge angesprochen, umarmte er den Wankenden. Eine kurze Ewigkeit hielt er ihn in Umarmung. Und weil die Sonne noch immer auf ihrer Seite war, warfen sie einen kompakten Schatten. Dann half Hoftaller dem erschöpften Redner zu einer Bank, die nicht steingehauen, sondern als normale Parkbank vor kahlem Gebüsch stand. Sitzend verging Fonty nach einer Weile das Zittern.
War damit alles gesagt? Blieben nachträglich Reste? Wir vom Archiv wollen der eigenwilligen Auslegung des unter Pseudonym veröffentlichten Artikels über »Die gesellschaftliche Stellung der Schriftsteller« nicht prinzipiell widersprechen, doch müssen wir, da uns Fußnoten versagt sind, die allzu gerafft wiedergegebene Rede nun doch im Detail ergänzen. Vom Denkmal herab hat der Redner seinen Vorschlag, dem »Aschenbrödeltum« der Literatur durch »Verstaatlichung« abzuhelfen, sogleich eine Warnung nachgeliefert: »Vielleicht ist das Mittel schlimmer als der gegenwärtige Zustand.« Und hätte ihn nicht ein Schwächezustand vom Denkmalpodest geholt, wäre Fonty gewiß zum Abschluß der letzte Satz des Artikels vom 26. Dezember 1891 eingefallen. Nach dessen Wortlaut wird geraten, zum Wohle der Schriftsteller von jeglicher Staatsfürsorge abzusehen. Und danach steht geschrieben: »Das bessere Mittel heißt: größere Achtung vor uns selber.« Ein wohlmeinender Rat; doch kann es sein, daß Fonty in jenen Tagen der Wendezeit wenig Anlaß für Selbstachtung sah. In West wie Ost stellten Schriftsteller andere Schriftsteller an den Pranger. Um nicht beschuldigt zu werden, beschuldigten sie. Wer gestern noch hochgefeiert war, sah sich heute in den Staub geworfen. Gesagtes ließ sich mit Nichtgesagtem verrechnen. Eine Heilige wurde zur Staatshure erklärt, und jenem einst vor Schmerz schluchzenden Sänger glückte nur noch des Selbstgerechten Geschrei. Kleingeister spielten sich richterlich auf Ein jeglicher stand unter Verdacht. Und da Himmelsrichtungen weiterhin die politische Richtung vorgaben, sollte östliche Literatur nur noch nach westlichem Schrottwert gehandelt werden. Nein, das war keine Zeit für »größere Achtung vor uns selber«. Fonty muß das gespürt haben, als er zitternd an Hoftaller hing, angewiesen auf dessen Umarmung.
Nachdem er die Schwäche auf der Parkbank überwunden hatte, entfernten sie sich in gewohnter Eintracht. Dieses Bild kannten wir schon: ein Gespann besonderer Art, das im Weggehen kleiner und kleiner wurde, bis es verschwunden war. Dann wollte es der Zufall oder die Laune höherer Regie, daß noch einmal jenes touristische Paar, er mit Pfeife, sie mit Photoapparat, vor dem Denkmal aufkreuzte, als sei noch nicht alles geknipst. »Irgendwas fehlt!« rief er. Doch sie sagte: »Seh ich nicht. Du bildest dir wieder was ein.«
Danach hat sie doch noch abphotographiert, was da war, wobei ihr abermals das Lockenhaar vor die Optik fiel und er ziemlich mürrisch das Denkmal von allen Seiten nach dem absuchte, was fehlte. Dann gingen sie. Bevor nun auch wir uns davonmachten, blieb Zeit, einen Blick auf das gegenüberliegende Fabrikgelände mit Schornstein zu werfen. Tot und leer verriet das Backsteingemäuer nicht, daß dort bald nach dem Ersten Weltkrieg Theo Wuttkes Vater als Lithograph Arbeit gefunden hatte. Wie die berühmte Firma Gustav Kühn druckte Oehmigke & Riemschneider über hundert Jahre lang die beliebten Neuruppiner Bilderbögen direkt vom Stein; heutzutage sind diese Drucke Sammlerobjekte. Doch nicht deshalb sagte Fonty, als beide wieder im Trabi saßen und in Richtung Berlin rollten, mehr zu sich selbst als zu Hoftaller: »Solche Produktion müßte man wiederbeleben. Könnte mit Hilfe der Treuhand geschehen. An Stoff mangelt es wahrlich nicht. Ob Glühlampenwerke oder Textilverarbeitung, überall wird dichtgemacht. Überall gehen Existenzen den Bach runter. Typische Bilderbogengeschichten …« Und dann soll er noch gesagt haben: »Aber sonst war in Neuruppin nicht viel los.«