ERSTES BUCH
1 Bei den Mauerspechten
Wir vom Archiv nannten ihn Fonty; nein, viele, die ihm über den Weg liefen. sagten: »Na, Fonty, wieder mal Post von Friedlaender? Und wie geht’s dem Fräulein Tochter? Überall wird von Metes Hochzeit gemunkelt, nicht nur auf dem Prenzlberg. Ist da was dran, Fonty?« Selbst sein Tagundnachtschatten rief: »Aber nein, Fonty! Das war Jahre vor den revolutionären Umtrieben, als Sie Ihren Tunnelbrüdern bei Funzellicht was Schottisches, ne Ballade geboten haben …« Zugegeben: es klingt albern, wie Honni oder Gorbi, dennoch muß es bei Fonty bleiben. Sogar seinen Wunsch nach dem abschließenden Ypsilon müssen wir mit einem hugenottischen Stempel beglaubigen. Seinen Papieren nach hieß er Theo Wuttke, weil aber in Neuruppin, zudem am vorletzten Tag des Jahres 1919 geboren, fand sich Stoff genug, die Mühsal einer verkrachten Existenz zu spiegeln, der erst spät Ruhm nachgesagt, dann aber ein Denkmal gestiftet wurde, das wir, mit Fontys Worten, »die sitzende Bronze« nannten. Ohne Rücksicht auf Tod und Grabstein, eher angestoßen vom ganz figürlichen Monument, vor dem er als Kind oft allein und manchmal an des Vaters Hand gestanden hatte, übte sich schon der junge Wuttke – sei es als Gymnasiast, sei es in Luftwaffenblau – so glaubhaft ein bedeutendes Nachleben ein, daß der bejahrte Wuttke, dem die Anrede »Fonty« seit Beginn seiner Vortragsreisen für den Kulturbund anhing, eine Fülle von Zitaten auf Abruf hatte; und alle waren so treffend, daß er in dieser und jener Plauderrunde als Urheber auftreten konnte.
Er sprach von »meiner sattsam bekannten Birnenballade«, von »meiner Grete Minde und ihrer Feuersbrunst«, und immer wieder kam er auf Effi als seine »Tochter der Lüfte«. Dubslav von Stechlin und die aschblonde Lene Nimptsch. die gemmengesichtige Mathilde und die zu blaß geratene Stine, nebst Witwe Pittelkow, Briest in sein er Schwäche, Schach, wie er lächerlich wurde, der Förster Opitz und die kränkelnde Cécile, sie alle waren sein Personal. Nicht etwa zwinkernd, sondern durchlebter Leiden gewiß, klagte er uns seine Fron als Apotheker zur Zeit der achtundvierziger Revolution, sodann die ihm mißliche Lage als Sekretär der Preußischen Akademie der Künste -»Bin immer noch kolossal schlapp und nervenrunter« –, um gleichwegs von jener Krise zu berichten, die ihn fast in eine Heilanstalt gebracht hatte. Er war, was er sagte, und die ihn Fonty nannten, glaubten ihm aufs Wort, solange er plauderte und die Größe wie den Niedergang des märkischen Adels in pointenscharfe Anekdoten kleidete. So hat er uns trübe Nachmittage verkürzt. Kaum saß er im Besuchersessel, legte er los. Ihm war ja alles geläufig; sogar die Irrtümer seiner Biographen, die er bei Laune »meine verdienstvollen Spurentilger« nannte, konnte er auflisten. Und als ihm sicher zu sein schien, daß er uns zum Modell wurde, rief er: »Wäre ridikül, mich als ›heiter darüberstehend‹ zu portraitieren!« Oft war er besser als wir, seine »fleißigen Fußnotensklaven«. Den bei uns lagernden Briefwechsel, etwa mit der Tochter, konnte er derart zitatsicher abperlen, daß es ihm eine Lust gewesen sein muß, diese Korrespondenz in unvergänglicher Brieflaune fortzusetzen; schrieb er doch gleich nach der Öffnung der Berliner Mauer einen Metebrief an Martha Wuttke, die ihrer angegriffenen Nerven wegen in Thale am Harz zur Kur war: »… Mama hat sich natürlich zu Tränen verstiegen, während mir solche Ereignisse, die partout groß sein wollen, herzlich wenig bedeuten. Eher setze ich aufs aparte Detail, zum Beispiel auf jene jungen Burschen, unter ihnen exotisch fremdländische, die als sogenannte Mauerpicker oder Mauerspechte den zweifelsohne begrüßenswerten Abbruch dieser kilometerlangen Errungenschaft teils als Bildersturm, teils als Kleinhandel betreiben; sie rücken dem gesamtdeutschen Kunstwerk mit Hammer und Meißel zu Leibe, auf daß jedermann – und es fehlt nicht an Kundschaft – zu seinem Souvenir kommt …« Hiermit ist gesagt, in welch zurückliegender Zeit wir Theo Wuttke, den alle Fonty nannten, aufleben lassen. Gleiches gilt für seinen Tagundnachtschatten. Ludwig Hoftaller, dessen Vorleben unter dem Titel »Tallhover« auf den westlichen Buchmarkt kam, wurde zu Beginn der vierziger Jahre des vorigen Jahrhunderts tätig, stellte aber seine Praxis nicht etwa dort ein, wo ihm sein Biograph den Schlußpunkt gesetzt hatte, sondern zog ab Mitte der fünfziger Jahre unseres Jahrhunderts weiterhin Nutzen aus seinem überdehnten Gedächtnis, angeblich der vielen unerledigten Fälle wegen, zu denen der Fall Fonty gehörte. So war es denn Hoftaller, der am Bahnhof Zoologischer Garten blechernes Ostgeld versilberte, damit er sein Objekt dank westlicher Währung einladen konnte, den siebzigsten Geburtstag zu feiern: »Da kann man nicht still drüber weg. Muß begossen werden.«
»Das wäre, als wollte man mir die vorletzte Ehre erweisen.« Fonty erinnerte seinen altgewohnten Kumpan an eine Situation, die sich durch Einladung der »Vossischen Zeitung« ergeben hatte. Ein Brief des Chefredakteurs Stephany war ins Haus gekommen. Doch schon vor hundert Jahren hatte er postwendend lustlos reagiert: »Siebzig kann jeder werden, wenn er einen leidlichen Magen hat.«
Erst als Hoftaller versprach, nicht, wie damals die »Vossin«, an die vierhundert Spitzen der Berliner Gesellschaft zu versammeln, sondern den Kreis der Feiernden klein zu halten, ihn sogar, wenn gewünscht, radikal auf das betagte Geburtstagskind und ihn, den Nothelfer in schwieriger Lage, zu beschränken, gab Fonty klein bei: »Möchte mich zwar lieber in meine Sofaecke drücken – mit demnächst siebzig darf man das –, aber wenn es denn sein muß, muß es was Besonderes sein.« Hoftaller schlug den Künstlerklub »Möwe« in der Maternstraße vor. Danach bat er seinen Gast, das beliebte Theaterrestaurant »Ganymed« am Schiffbauerdamm zu erwägen. Nichts paßte. Und auch das »Kernpinski« im Westen der Stadt war nicht nach Fontys Wünschen. »Mir schwebt«, sagte er, »etwas Schottisches vor. Nicht unbedingt mit Dudelsack, aber annähernd schottisch soll es schon sein …«
Wir, die im Archiv übriggebliebenen Fußnotensklaven, ermahnen uns, nicht vorschnell den Siebzigsten abzufeiern, sondern von jenem Spaziergang Bericht zu geben, der schon Mitte Dezember stattfand und erst nach längerem Verlauf Gelegenheit bot, den bevorstehenden Geburtstag zu bereden und dessen Feier zu planen.
An einem frostklirrenden Wintertag, dem ein wäßrig blauer Himmel über der nunmehr ungeteilten Stadt entsprach, am 17. Dezember, als in der Dynamo-Halle die bislang führende Partei tagte, um sich mit neuem Namen zu verkleiden, an einem Sonntag, der Klein und Groß auf die Beine brachte, kamen auch sie zielstrebig Ecke OttoGrotewohl-, Leipziger Straße ins Bild: lang und schmal neben breit und kurz. Der Umriß der Hüte und Mäntel aus dunklem Filz und grauem Wollgemisch verschmolz zu einer immer größer werdenden Einheit. Was sich gepaart näherte, schien unaufhaltsam zu sein. Schon waren sie am Haus der Ministerien, genauer, an dessen nördlicher Flanke vorbei. Mal gestikulierte die hochwüchsige, mal die kleinwüchsige Hälfte. Dann wieder waren beide mit Händen aus weiten Ärmeln beredt, der eine bei ausholendem Schritt, der andere im Tippelschritt. Ihre Atemstöße, die sich als weiße Wölkchen verflüchtigten. So blieben sie einander vorweg und hinterdrein, waren aber dennoch miteinander verwachsen und von einer Gestalt. Da dem Gespann kein Gleichschritt gelang, sah es aus, als bewegten sich leicht zapplige Schattenrißbildchen. Der Stummfilm lief in Richtung Potsdamer Platz, wo die als Grenze gezogene Mauer schon in Straßenbreite niedergelegt war und in jede Fahrtrichtung offenstand; doch ließ dieser Übergang, weil oft verstopft, nur verzögerten Verkehr von der einen zur anderen Stadthälfte, zwischen zwei Welten, von Berlin nach Berlin zu. Sie überquerten ein Jahrzehnte lang wüstes Niemandsland, das nun als Großfläche nach Besitzern gierte; schon gab es erste, einander übertrumpfende Projekte, schon brach Bauwut aus, schon stiegen die Bodenpreise. Fonty liebte solche Spaziergänge, zumal ihm der Westen neuerdings mit dem Tiergarten Auslauf bot. Jetzt erst kam sein Spazierstock ins Bild. Von Hoftaller, der ihm ohne Stock, aber mit praller Aktentasche anhing, war bekannt, daß er, außer der Thermosflasche und der Brotbüchse, jederzeit einen durch Knopfdruck auf Normalgröße zu entfaltenden Kleinschirm bei sich trug. In ihrem kaum mehr bewachten Zustand machte die Mauer beiderseits des Durchlasses Angebote. Nach kurzem Zögern entschieden sie sich nach rechts hin in Richtung Brandenburger Tor. Metall auf Stein: von fern her schon hatten sie das helle Picken gehört. Bei Temperaturen unter Null trägt solch ein Geräusch besonders weit. Dicht bei dicht standen oder knieten Mauerspechte. Die im Team arbeiteten, lösten einander ab. Einige trugen Handschuhe gegen die Kälte. Mit Hammer und Meißel, oft nur mit Pflasterstein und Schraubenzieher zermürbten sie den Schutzwall, dessen Westseite während der letzten Jahre seines Bestehens von anonym gebliebenen Künstlern mit lauten Farben und hart konturierendem Strich zum Kunstwerk veredelt worden war: Das geizte nicht mit Symbolen, spuckte Zitate, schrie, klagte an und war gestern noch aktuell gewesen. Hier und dort sah die Mauer schon löchrig aus und zeigte ihr Inneres vor: Moniereisen, die bald Rost ansetzen würden. Und über weite Flächen gab das kilometerlange, bis kurz vor Schluß verlängerte Wandbild in museumsreifen Fragmenten handtellergroße Placken und in winzigen Bruchstücken wilde Malerei preis: freigesetzte Phantasie und erstarrte Protestchiffren. All das sollte dem Andenken dienen. Abseits vom Gehämmer, im sozusagen zweiten Glied der von Westen her betriebenen Demontage, lief bereits das Geschäft. Auf Tücher oder Zeitungen gebreitet, lagen gewichtige Batzen und winziger Bruch. Einige Händler boten drei bis fünf Fragmente, keins größer als ein Markstück, in Klarsichtbeuteln an. Bestaunt werden konnten mit Geduld abgesprengte größere Details der Mauermalerei, etwa der Kopf eines Ungeheuers mit Stirnauge oder eine siebenfingrige Hand; Exponate, die ihren Preis hatten, und dennoch fanden sich Käufer, zumal ihnen ein datiertes Zertifikat – »Original Berliner Mauer« – mit dem Souvenir ausgehändigt wurde. Fonty, der nichts unkommentiert lassen konnte, rief: »Bruch ist besser als Ganzes!« Weil er nur Ostgeld locker hatte, schenkte ihm ein jugendlicher Händler, dem offenbar genug Gewinn zugeflossen war, drei groschengroße Absprengsel, deren Farbspuren, das eine Schwarz gegen Gelb, das andere Blau neben Rot, das dritte Stück dreierlei Grün, als kostbar zu gelten hatten: »Hier, Opa, nur für Ostkundschaft und weil Sonntag ist.«
Anfangs wollte sein Tagundnachtschatten dem zwar illegalen, doch beiderseits der Mauer geduldeten Volksvergnügen nicht zusehen, Fonty mußte ihn am Ärmel ziehen. Er zerrte seinen Kumpan regelrecht an laufenden Bildmetern vorbei Nein, das war nichts für Hoftaller. Diese Mauerkunst war nicht nach seinem Geschmack; und doch mußte er ansehen, was ihn schon immer angewidert hatte. »Chaos!« rief er. »Nichts als Chaos!« Als sie an eine Stelle der enggefügten und durch einen Wulst überhöhten Betonplatten kamen, die nach Osten Ausblick bot, weil dem abgrenzenden Bauwerk kürzlich von oben weg eine weit klaffende Lücke geschlagen worden war, blieben sie stehen und schauten durch den offenen Keil, aus dessen gezackten Rändern teils verbogene, teils abgesägte Moniereisen ragten. Sie sahen den Sicherheitsgürtel, die Hundelaufanlage, das weite Schußfeld, sahen über den Todesstreifen hinweg, sahen die Wachtürme. Von drüben gesehen, schaute Fonty ab Brusthöhe durch den erweiterten Spalt. Neben ihm war Hoftaller von den Schultern aufwärts im Bild: zwei Männer mit Hüten. Wäre aus östlichem Bedürfnis nach Sicherheit noch immer ein Grenzsoldat wachsam gewesen, hätte er von beiden ein erkennungsdienstliches Photo schießen können. Längere Zeit schwiegen sie durch den geschlagenen Keil, doch hielt jeder anders laufende Erinnerung zurück. Endlich sagte Hoftaller: »Macht mich traurig, auch wenn wir diesen Abbruch spätestens seit der ›Sputnik‹-Affäre vorausgesagt haben. Wird man eines Tages lesen können, unseren Bericht über den Zerfall staatlicher Ordnung. Wurde nicht zur Kenntnis genommen. Keiner der führenden Genossen war ansprechbar. Kenne das: die übliche Ertaubung während ner Spätphase …« Mehr flüsternd als laut setzte Hoftaller seinen dienstlichen Kummer durch die Mauerlücke frei. Plötzlich kicherte er. Ein lange zurückgehaltenes, nun bis zum Überfluß gespeichertes Kichern schüttelte ihn. Und Fonty, der sein Ohr dem Flüsternden zuneigen mußte, hörte: »Eigentlich komisch. Typischer Fall von Machtermüdung. Nichts greift mehr. Aber wissen möchte man schon, wer den Riegel aufgesperrt hat. Na, wer hat dem Genossen Schabowski den Spickzettel untergeschoben? Wer hat ihm erlaubt, ne Durchsage zu machen? Satz auf Satz rausposaunt … ›Ab heute ist …‹ Na, Fonty, wem wird das Sprüchlein ›Sesam, öffne dich‹ eingefallen sein? Wem schon? Kein Wunder, daß der Westen wie vom Schlag gerührt war, als ab 9. November Zehntausende, was sag ich, Hunderttausende rüberkamen, zu Fuß und mit ihren Trabis. Waren richtig perplex … haben Wahnsinn geschrien … Wahnsinn! Aber so ist das, wenn man jahrelang jammert: ›Die Mauer muß weg …‹ Na, Wuttke, wer hat ›Bitteschön, schluckt uns‹ gesagt? Fällt der Groschen?« Fonty, der bisher bei schräger Kopfhaltung geschwiegen hatte, wollte nicht rätseln. Eher beiläufig spielte er eine Gegenfrage aus: »Wo steckten eigentlich Sie, als damals hier alles dichtgemacht wurde, querdurch?« Vor dem in Brust- und Schulterhöhe klaffenden Spalt standen sie immer noch wie gerahmt: ein Doppelportrait. Weil sich beide gern dem Ritual eingeübter Befragungen unterwarfen, nehmen wir an, daß Fonty vorauswußte, was Hoftaller zur Litanei reihte: »Infolge der Konterrevolution … Als nur noch mit Hilfe der Sowjetmacht … Kam zu Säuberungen bald danach …« Er zählte unterlassene Sicherheitsmaßnahmen auf und sprach von Enttäuschungen. Noch immer bedauerte er Systemlücken. Untilgbar hing ihm der 17. Juni an: »Wurde strafversetzt. Saß im Staatsarchiv rum. Rutschte in ne depressive Stimmungslage. Habe deshalb den Arbeiter- und Bauern-Staat verlassen müssen. War aber keine prinzipielle Sinnkrise. Nein, Tallhover hat nicht Schluß gemacht, hat nur die Seite gewechselt., war drüben gefragt. Das hat mein Biograph leider nicht glauben wollen, hat die im Westen gängige Freiheit fehleingeschätzt, hat mich ohne Ausweg gesehen, mir ne Todessehnsucht angedichtet. als könnte unsereins Schluß machen. Für uns. Fonty, gibt’s kein Ende!« Hoftaller sprach nicht mehr im Flüsterton. Nun nicht mehr vor die klaffende und zum Bekenntnis zwingende Plattenkonstruktion gestellt, sondern wieder im Tippelschritt und am endlosen Mauerbild vorbei, gab er sich gutgelaunt: »Jetzt kann man ja offen reden: Wurde mit Kußhand genommen. Versteht sich: mein Spezialwissen! Lief drüben unter gewendetem Namen. Wurde als ›Revolat‹ geführt. Bekam mir gut, der Klimawechsel. Doch auch die andere Seite knauserte nicht mit Enttäuschungen. Meine Warnungen vor drohender Abriegelung sind für die Katz gewesen. Habe in Köln mit abgelichteten Lieferscheinen alle im Westen getätigten Großeinkäufe belegt; was man so brauchte für den Friedenswall: Zement, Moniereisen, ne Menge Stacheldraht. Gab schließlich Pullach nen warnenden Tip. Half nichts. Endlich, als es zu spät war, merkte der Agent Revolat, daß auch der Westen die Mauer wollte. War ja alles einfacher danach. Für beide Seiten. Sogar die Amis waren dafür. Mehr Sicherheit war kaum zu kriegen. Und nun dieser Abbruch!«
»Nichts steht für immer« hieß Fontys Trost. Im schräg einfallenden Nachmittagslicht schritten und tippelten sie Richtung Tor. Die schon tief stehende Sonne machte, daß sie auf das Mauerbild einen gepaarten Schatten warfen, der ihnen folgte und ihre Gesten nachäffte, sobald sie mit Händen aus weiten Mantelärmeln redeten und die neuerliche Sicherheitslücke entweder als Risiko einschätzten – »Wird man sich noch zurückwünschen eines Tages« – oder als »kolossalen Gewinn« feierten: »Ohne ist besser als mit!«
Einige Mauerspechte betrieben ihr Handwerk verbissen, wie gegen Stücklohn, ein Herr fortgeschrittenen Alters sogar mit einem batteriegespeisten Elektrobohrer. Er trug eine Schutzbrille und Ohrenklappen. Kinder sahen ihm zu. Viel Volk war unterwegs, auch türkisches. Junge Paare ließen sich vor Hintergrund photographieren, damit sie sich später, viel später würden erinnern können. Hier trafen lange getrennte Familien einander. Von fern Angereiste staunten. Japaner in Gruppen. Ein Bayer in Tracht. Heitere, aber nicht laute Stimmung. Und über allem lag dieses dem Specht nachgesagte Geräusch. Zwei berittene Westpolizisten kamen ihnen entgegen und schauten über die Sonntagsarbeit hinweg. Hoftaller gab sich einen dienstlichen Ruck, doch auf die Frage nach der Zulässigkeit des destruktiven Vorgangs sagte der eine Wachtmeister: »Zulässig isset nich, aber verboten noch wenjer.« Zum Trost schenkte Fonty seinem Tagundnachtschatten die drei groschengroßen Mauerbröcklein. Und während er noch die einseitig bunten Fragmente wie Beweisstücke im Portemonnaie sicherte, sagte Hoftaller: »Jedenfalls war ab August einundsechzig wieder was fällig. Meine alte Dienststelle klopfte an. Ließ mich nicht lange bitten. Aber das wissen Sie ja, daß ich schon immer gesamtdeutsch …« Ihr Ritual gab nichts mehr her. Schweigend liefen sie die Mauer ab. Nur als Dampf verwehte ihr Atem. Schritt nach Schritt, dann stand das Gespann im gestauten Auflauf vor dem Brandenburger Tor oder vielmehr vor dem weit ausgebuchteten, das Tor noch immer sperrenden Betonwall, auf dessen Abriß seit Wochen die Welt mit lauernden Kamerateams wartete.
Massiv, wie für ewig gebaut. Nur die Verlegenheit einiger Grenzsoldaten, die auf dem oberen Wulst der hier begehbaren Bastion mehr herumstanden als Präsenz zeigten, kündigte die auf demnächst datierte Hinfälligkeit des Bollwerks an. Wir sind sicher: Hoftaller sah das mit gemischten Gefühlen, doch Fonty hatte Freude an den Nebenhandlungen der sonntäglichen Idylle. Junge Frauen und von Müttern hochgehaltene Kinder schenkten den Soldaten Blumen. Zigaretten, Orangen, Schokoladenriegel und natürlich Bananen, jene dazumal demonstrativ beliebte Südfrucht. Und Wunder über Wunder, die kürzlich noch schußfertigen Männer in Uniform ließen sich beschenken, sogar Westsekt nahmen sie an. Und hier, in Sonntagsstimmung gebettet, umgeben von Schaulustigen, unter denen Jugendliche mehr bierselig als aggressiv »Macht das Tor auf!« brüllten, damals, zur Zeit der steilen Hoffnungen und Runden Tische, der großen Worte und kleinstriezigen Bedenken, zur Stunde der abgesägten Bonzen und schnellen ersten Geschäfte, an einem windstill klaren Dezembertag des Jahres 89, als das Wort »Einheit« mehr und mehr an Kurswert gewann, sagte Fonty plötzlich laut und von Hoftaller nicht zu dämpfen, jenes lange Gedicht mit dem Titel »Einzug« auf, das am
16. Juni 1871 im Berliner Fremden- und Anzeigenblatt pünktlich zum Anlaß gedruckt gestanden hatte und dessen Reime das siegreiche Ende des Krieges gegen Frankreich sowie die Reichsgründung und die Krönung des preußischen Königs zum Kaiser der Deutschen feierten, indem sie strophenreich alle heimkehrenden Regimenter, die Garde voran, zur Parade führten – »Mit ihnen kommen, geschlossen, gekoppelt, die Säbel in Händen, den Ruhm gedoppelt, die hellblauen Reiter von Mars la Tour, aber an Zahl die Hälfte nur …« – und durchs Brandenburger Tor, dann die Prachtstraße Unter den Linden hoch im Gleichschritt marschieren ließen: »Bunt gewürfelt Preußen, Hessen, Bayern und Baden nicht zu vergessen, Sachsen, Schwaben, Jäger, Schützen, Pickelhauben und Helme und Mützen …«
Das geschah zum wiederholten Mal, denn nach den preußischen Siegen über Dänemark und Österreich, den ersten Einheitskriegen, war es gleichfalls zur Parade und zu gereimten Einzugsgedichten gekommen, ein Huldigungseifer, den Fonty mit der ersten Strophe den Schaulustigen vor dem gesperrten Tor in Erinnerung gerufen hatte: »Und siehe da, zum dritten Mal ziehen sie ein durch das große Portal; der Kaiser vorauf, die Sonne scheint, alles lacht und alles weint …« So betont er deklamierte, hier, unter freiem Himmel, trug die Stimme des ehemaligen Kulturbundredners Theo Wuttke, den alle Fonty nannten, nicht weit genug. Nur wenige lachten, und niemand weinte vor Freude, auch blieb der Beifall spärlich, als er mit letzter Strophe die Siegesparade vor dem Denkmal des zweiten Friedrich, vorm »FritzenDenkmal«, hatte auslaufen lassen. Gleich nach dem Verhall der Verse lösten sich beide aus der Menge. Fonty schien es eilig zu haben, und Hoftaller sagte ihm hinterdrein: »Sollte das etwa Ihr Beitrag zur kommenden Einheit sein? Zackig und forsch. Hab’s noch im Ohr: ›Die Linden hinauf erdröhnt ihr Schritt, Preußen-Deutschland fühlt ihn mit …‹«
»Weiß ich, weiß ich! War bloße Lohnarbeit,
schlecht bezahlte obendrein …«
»Davon gibt’s mehr, mal stocksteif, mal schnoddrig
gereimt.«
»Leider. Aber Besseres gibt’s auch – und das bleibt!«
Inzwischen entfernten sie sich unter winterstarren Bäumen. Ihr
Gespräch über den Wert von Gebrauchslyrik verebbte schnell; wir
lassen es unkommentiert. Sie machten verschieden lange Schritte den
Sonntagspassanten entgegen, die zum Tor wollten. Ihr Ziel hieß
Siegessäule, deren krönender Engel als neuvergoldete Scheußlichkeit
in der Abendsonne prahlte. Zum Großen Stern zog es sie, mitten
durch den Tiergarten, der auf nach links abzweigenden Nebenwegen
zur Luisenbrücke, zur Amazone und in Richtung Rousseau-Insel mit
Ruhebänken lockte. Aber sie wichen nicht ab. Kaum, daß sie am
sowjetischen Ehrenmal den Schritt verlangsamten. Vom Brandenburger
Tor aus gesehen, wurden sie kleiner und kleiner. Das verschieden
hohe Paar. Schon wieder gestikulierend: der eine mit dem
Spazierstock, den er »meinen märkischen Wanderstock« nannte, der
andere mit den kurzen Fingern seiner Rechten, denn links trug er
die gebauchte Aktentasche. Der Stummfilm. Schreitend der eine,
tippelnd der andere. Vom Großen Stern aus gesehen, kamen sie gut
voran. Mantel mit Mantel zu einem Schattenriß verwebt, obgleich sie
nicht Arm in Arm gingen. Am Ende der Paradestraße verschwanden
beide für kurze Zeit, weil sie den ungebremsten Kreisverkehr um die
Siegessäule durch einen Tunnel, extra für Fußgänger gebaut,
unterlaufen mußten. Nun, da das Paar weg ist, sind wir versucht,
über Berlins Sehenswürdigkeit, die in ganzer Höhe beide Weltkriege
überstanden hat, zu lästern, doch Fonty fällt uns ins Wort; kaum
waren sie wieder aufgetaucht, bot sich vorm Sockel der hochragenden
Säule, die bis zur Spitze des siegreichen Feldzeichens
sechsundsechzig Meter mißt, Gelegenheit für Abschweifungen ins
historische Feld, entweder mit Hilfe vielstrophiger Gedichte oder
aus Erinnerung, die bis zum Sedanstag und noch weiter treppab
zurückreichte. Wie es sich anhörte, hatten sie am 2. September 1873
die Enthüllung der Siegessäule miterlebt. Damals stand die erhöhte
Borussia als Viktoria auf dem Königsplatz, dem heutigen Platz der
Republik. Kurz vor Beginn des Zweiten Weltkriegs wurde sie auf
allerhöchsten Befehl abgetragen und vom Vorfeld des
Reichstagsgebäudes an den Großen Stern versetzt.
Sehenswürdig soll ein Relief sein, das in Sichthöhe Sieg nach Sieg
die Einheitskriege feiert. Hier trägt ein lockenköpfiger Junge dem
Vater, den die Mutter zum Abschied umarmt, das Gewehr, dort haben
Landsturmmänner das Bajonett aufgepflanzt. Ein Trompeter bläst zum
Angriff. Über Gefallene geht es vorwärts. Sie schritten den Sockel
ab. Weil die Säule, samt rotschwedischem Granit, allseitigem
Metallguß und krönender Siegesgöttin, im letzten, elend verlorenen
Krieg Schaden genommen hatte, wies Hoftallers Zeigefinger überall
Löcher nach, denen nicht anzusehen war, ob Bomben- oder zum Schluß
Granatsplitter ihr Ziel gefunden hatten. Durchlöchert die Brust
eines Infanteristen. Halbierte Helme. Drei Finger nur hat die Hand.
Hier fehlt einem gußeisernen Dragonerpferd das rechte Vorderbein,
dort stürmt ein kopfloser Hauptmann voran, sei es bei Düppel, sei
es bei Gravelotte. Bekümmert zog Hoftaller Bilanz. Fünfzig und mehr
Einschüsse zählte er, den Schaden am Granitsockel nicht
mitgerechnet. Aber Fonty hatte, was Siege betraf und soweit
Preußens Geschichte zurückreichte, mehr als die Säule zu
bieten.
Er zitierte den Grafen Schwerin und dessen Fahne, den alten
Derfflinger, die Generäle Zieten und Seydlitz, obendrein alle
Schlachten von Fehrbellin über Hohenfriedberg bis Zorndorf. Schon
wollte er Preußens Siege und gelegentliche Niederlagen an die
Standarten berühmter Regimenter knüpfen und des Großen Friedrich
besungene Haudegen mit knappem Zitat vorführen – »Herr Seydlitz
bricht beim Zechen den Flaschen all den Hals, man weiß, das
Hälsebrechen verstund er allenfalls …« –, da wurde Fonty, der
bereits Atem zum Balladenton sammelte und samt Stock die Arme hob,
von hinten angestupst.
Ein Junge, den er uns später als sommersprossig geschildert hat,
sagte einen Wunsch auf: »Ob Se mia mal nen Schnürsenkel binden
könn? Kann ick nämlich nich. Bin erst fünfe.«
Fonty bückte sich, legte den Wanderstock ab und band, wie
gewünscht, den offenen Senkel des rechten Schuhs zur
Schleife.
»So«, sagte er, »die hält.«
»Na, nächstet Mal kann ick selba!« rief der Junge und rannte zu den
anderen Jungs, die rund um die Siegessäule und umrundet vom
Kreisverkehr Fußball spielten.
»Da haben Sie’s«, sagte Fonty, »nur sowas ist wichtig. Schlachten,
Siege, Sedan und Königgrätz sind null und nichtig. Alles Mumpitz
und ridikül. Deutsche Einheit, reine Spekulation! Die erste
gelungene Schnürsenkelschleife jedoch, die zählt.«
Hoftaller stand in abgelaufenen Schnallenschuhen. Er wollte sich
nicht erinnern.
Dann war die Sonne weg. Durch den Fußgängertunnel unterwanderten sie abermals den Großen Stern, gingen die Straße des 17. Juni lang und wollten ab S-Bahnhof Tiergarten die Bahn nehmen. Zwei alte Männer im Gespräch. Ihre Gesten nun eckiger. Keinen Schatten warfen sie mehr.
Und jetzt erst, nicht voreilig verfrüht, sondern knapp vierzehn Tage vor dem runden Anlaß, begann Hoftaller, seine Einladung vorzubereiten: »Wird man nicht alle
Tage, siebzig.«
»Zur Feier fehlen mir einige Zentner Überzeugung.« »Die kommt noch,
bestimmt.«
»Und woher nehmen?«
»Schlage Bahnhof Friedrichstraße vor, MitropaGaststätte. War mal
Agententreff.
Ein historischer Ort sozusagen.«
Fonty setzte ein subversiv verschlossenes Gesicht auf und machte längere Schritte.
So kurzbeinig Hoftaller war, er blieb ihm zur Seite: »Kein großer Auftrieb, versprochen. Ne kleine gemütliche Runde nur …«
»Würde trotzdem, wie gehabt, zu radaumäßig
verlaufen … Außerdem stinkt mir …«
»Soll das etwa ne Verweigerung sein?«
»Soll das heißen, ich muß?«
»Um nicht deutlicher zu werden: Glaube ja.«
»Und wenn ich nein sage …«
»Würde mich traurig machen, Wuttke. Sie wissen ja, wir können auch
anders.«
Nachdem sie das letzte Stück Weg stumm hinter sich gebracht hatten,
blieb Fonty kurz vorm S-Bahnhof stehen. Nun nicht mehr von
subversivem Ausdruck, hob er, als sollte zur Rede ausgeholt werden,
den rechten Arm, ließ ihn dann aber sinken und sprach über
Hoftaller hinweg: »Wie sagte der alte Yorck bei Laon, als die
Russen nicht anrückten? – ›Nunja, es muß auch so gehn.‹«
Dieser Ausspruch ist, wie wir vom Archiv wissen, Zitat aus einem
Brief an den märkischen Pfarrer Heinrich Jacobi, in dem ferner zu
lesen steht: »Von meinem Jubelfeste‹ schreibe ich Ihnen nicht. Die
konservativen Blätter, die mich als einen ›Abtrünnigen‹ – es ist
aber nicht so schlimm damit – einigermaßen auf dem Strich haben,
haben nur sehr wenig davon gebracht …«