19 Allein im Boot
Eigentlich hätte so viel gute Laune den Abschied von der Insel, bis alle an Bord waren, begleiten müssen, denn eigentlich hätten alle Inselgäste das Motorschiff vorbei an Vitte, Neuendorf nach Stralsund nehmen können, wie wir und die Freundlichs es taten; doch als die »Insel Hiddensee« anlegte und mit Signalton alle an Bord rief, teilte Hoftaller die am Bollwerk versammelte Gesellschaft, indem er für die Wuttkes und sich Tickets vorwies, die für das nächste, eine halbe Stunde später ablegende Schiff nach Schaprode auf Rügen bestimmt waren: »Muß unserem Freund unbedingt ne kleine Überraschung bereiten. Wäre schade, wenn das Ihre Pläne stören sollte. Jedenfalls gute Reise. Wir werden vom Ufer aus winken.« Er sagte das mit aufgesetztem Kinderlächeln und hatte, als Fonty und mehr noch Emmi Wuttke protestierten, weil sie »auf keinen Fall« nach Schaprode wollte, nur einen einzigen Nachsatz übrig, dem er jedoch sein Lächeln entzog: »Glaube nicht, daß man mir diesen Wunsch abschlagen darf.« Einer von vielen beschließenden Hoftaller-Sätzen, die wir aufgelistet und in besonderer Mappe bewahrt haben. Er hätte auch »Das würde mich traurig machen« sagen können oder: »Hoffe, verstanden worden zu sein.« Bedrohlicher mußte er diesmal nicht werden. Zwar klagte Erwin, für Rumlauferei auf Rügen sei sie zu schlecht auf den Beinen, und keinesfalls wolle sie auf die Eisenbahnreise mit der Familie Freundlich verzichten: »Überhaupt lasse ich mir von niemand das Schiff vorschreiben. Das is nu endlich vorbei. Jetzt haben wir Freiheit!«
Doch Fonty hatte bereits die Kröte geschluckt: »Bedaure, mich fügen zu müssen. Geht wohl nicht anders.« Wir schwiegen. Und Eckhard Freundlich, der gleichfalls im Schlucken geübt war, kommentierte die verordnete Trennung: »Aber ich bitte Sie, lieber Wuttke, mit kleinen Schikanen oder, milder, gewissen Reisebestimmungen haben wir zu leben gelernt. Welch höherer Sinn dahintersteckt, weiß niemand. Ihr Briest sagte in ähnlich unwägbarer Situation: ›Ein weites Feld, Luise‹, nicht wahr?« Als der Professor dann doch noch, schon mit Koffern beladen. gezielt sagte: »Als mein Vater seinerzeit Mexiko in Richtung Deutschland verließ, glaubte er an etwas, das er bei Tisch, aber auch öffentlich ›die gute Sache‹ nannte; er hätte mit Ihresgleichen rechnen müssen …«, war Hoftaller schon wieder mit Lachgrübchen gesegnet: »Wäre vernünftig gewesen, zumal wir uns mit Ihrem Herrn Papa bereits unter Palmen befassen mußten und deshalb in Veracruz gleichfalls an Bord gingen. Doch Spaß beiseite. Wie sieht’s in Jena aus? Einfach scheußlich, diese Evaluierungsverfahren. Könnte mich, wenn gewünscht, nützlich machen. Unsere Kontakte … Sie verstehen … Will ungern deutlicher werden … Kann aber auch anders …« Die Freundlichs mußten aufs Schiff. Wir mit ihnen. Beide Töchter verängstigt. Die Frau des Professors sagte wiederholt: »Dieses Schwein.« Als die »Insel Hiddensee« ablegte, winkte Hoftaller lange mit einem schwarzweiß gewürfelten Taschentuch. Die Wuttkes standen mit hängenden Armen. Emmi weinte ein bißchen.
Schon während der Überfahrt nach Stralsund rätselten wir, welche zwingende Überraschung in Schaprode aus dem Hut gezaubert werden könnte. Was hatte Hoftaller schon zu bieten. außer der üblichen Fürsorge? Etwa eine befristete Schottlandreise, selbstverständlich mit begleitender Aufsicht? Alles mögliche, sogar die Leitung des Archivs, ehrenhalber, fiel uns ein, doch darauf, auf dieses einst begehrte, nun dem Spott preisgegebene Vehikel aus Zwickau, wären wir nicht gekommen. Kaum waren die drei an Bord gegangen, wurde Fonty beiseite gerufen. Später sagte er: »Meine Emilie wollte partout nicht an Deck bleiben. Kein Zureden half. Hockte während der Fahrt in der verqualmten Kajüte. Hingegen war mir im Übermaß frische Luft sicher.« Beide standen im Wind auf dem Achterdeck. Wieder die schwarz-gelben Wimpel, die Reusen, auf ihnen Kormorane, Bojen entlang der Fahrrinne. Wechselnde Flugformationen übender Zugvögel. Langgestreckt lag die autofreie Insel entrückt, vom Hügelland flach bis zum Gellen, der erahnt werden konnte. Sie schwiegen nebeneinander. Erst auf Höhe von Vitte wurde Fonty »die kleine Überraschung« bekanntgemacht. Hoftaller war nicht per Reichsbahn, sondern mit dem Auto angereist. Und wie andere Inselgäste hatte er seinen Wagen auf dem Parkplatz Schaprode nahe der Schiffsanlegestelle abgestellt. Er sagte: »Mein Privatwagen wartet auf Sie. Hiermit erlaube ich mir, das Ehepaar Wuttke zu ner gemeinsamen Fahrt einzuladen. Über Rügen, den Rügendamm, durch Stralsund werden wir bald auf der Autobahn sein. Bin übrigens passionierter Automobilist, und zwar seit frühesten Dienstjahren. Fuhr nen DKW. Keine Bange. Meinen Fahrkünsten kann vertraut werden. Außerdem kommen wir so viel schneller nach Berlin als mit der bummeligen Reichsbahn.« Erst jetzt, zu spät, lehnte Fonty ab. Er lasse sich nicht kujonieren und in solch eine Kiste zwängen. Wenn er schon auf das gemeinsame Eisenbahnabteil mit den Freundlichs verzichten müsse, werde er notgedrungen mit seiner Emilie allein reisen, und zwar wie früher, als Bahnfahrten ins Riesengebirge oder nach Waren am Müritzsee noch Abenteuer gewesen seien: »Borsigs Dampflokomotiven ja, aber nicht diese fahrbaren Untersätze …« Er tauchte in Vergangenheit ab, indem er die Mühsal aller Reisen des Unsterblichen in die Sommerfrische oder in Kurbäder aufleben ließ; doch Hoftaller war selbst auf frühesten Schienenwegen mit dem Kursbuch präsent und hatte ihn sogleich mit allen Eisenbahnverbindungen zur Zeit des Vormärz am Wickel: »Ein richtiger Reisekoffer sind Sie gewesen. Immer wieder nach Leipzig oder Dresden. Dieses Hin und Her – wir sprachen bereits darüber – erinnert mich an die häufigen Dienstreisen eines gewissen Luftwaffengefreiten. Kreuz und quer durch Frankreich bis nach Lyon. Also kein Wort mehr – versprochen! – über Dresden und die aschblonde Gärtnerstochter, doch ein paar klärende Hinweise auf wiederholte Abstecher als Nutznießer des französischen Eisenbahnsystems bis zu ner Stadt, in der ne Menge passiert ist. Liegt an zwei Flüssen. War schon immer Handelsmetropole: stinkreich. Und dort gab’s ne Gastwirtstochter, die vorm und hinterm Tresen fleißig war, weshalb ein reiselustiger Soldat in diesem Bistro bald als ne Art Dauergast galt. Blieb nicht folgenlos, weil der Bruder der Schankmamsell zur Résistance gehörte. Aber auch sonst hatte, was im Frühling begann, nach ner gewissen Zeit, ich sag mal, winterliche Folgen. Denn nachdem der Soldat im Sommer schon den Rückzug antreten mußte … Und weil die verlassene, ja doch, aus rein militärischen Gründen verlassene Madeleine, der kein Bruder mehr helfen konnte … Und überall nach der Invasion, besonders aber in Lyon reiner Tisch gemacht wurde … Weshalb man der armen Madeleine die aschblonden Haare ritschratsch … Na, Fonty, dämmert’s? Fing alles ganz harmlos mit ner Ruderpartie an, bißchen außerhalb, auf nein See, in dem es, wie überhaupt in dieser fischreichen Gegend, ne Menge Frösche gab. Weiß noch mehr. Könnt Ihnen stundenlang. Hab ja lange, vielleicht zu lange geschwiegen …« Grüne und rote Bojen leiteten das Motorschiff nach Schaprode. Ein Pulk Möwen machte die Reise mit. Fonty überließ sich dem Fahrtwind und sah mit Hut und leichtem Sommershawl vergangen aus. Wie er so an der Reling stand, wäre er als Hauptdarsteller in einem Ufa-Streifen »Der Schritt vom Wege«, Regle Gustaf Gründgens, vorstellbar gewesen. So deutlich dem alten Briest angenähert, hörte er eine ganz andere Legende und schaute dabei einer Formation Kormorane, dem Haßobjekt aller Fischer, nach, die in Richtung Gellen flog und an deren Spitze ständiger Wechsel den Flugkeil bestimmte. Fonty blieb arm an Worten, aber Hoftaller ging der Stoff nicht aus. Bis das Schiff in der Enge zwischen Rügen und der vorgelagerten Insel Oehe anlegte, zeigte er sich bedrohlich besorgt: Der Umgang und langjährige Briefwechsel mit Professor Freundlich könne sich schädlich auswirken. Eine zur Zeit noch verdeckte Aktenlage werde, wenn nötig, den Wissenschaftler belasten. Fonty möge dem gesicherten Spezialwissen bitte vertrauen: »Unter veränderten Bedingungen sind gewisse Freundschaften unpassend. Wir wollen doch da nicht reingezogen werden. Oder?« Nichts war von der Rückblende des Ufa-Films geblieben. Als sie von Bord gingen, hatte Fonty für Emmi nur einen Satz übrig: »Wird besser sein, wenn wir per Auto reisen, besser für dein Bein, versteht sich.« Emmi sagte: »Und ob ich verstehe.« Als sie auf dem Parkplatz zwischen westlichen Karosserien klein und eingeengt den automobilen Ausweis der einstigen Arbeiter- und Bauern-Macht fanden, sagte Hoftaller: »Den habe ich mir kurz vor der Währungsunion gesichert, fabrikneu. Fährt noch lange. Glauben Sie mir, Fonty, Einheit hin, Einheit her, es wird nochmal schick, in Deutschland nen Trabi zu fahren.«
Die Fahrt im Zweitakter verlief ohne Panne. Auch wir vom Archiv behalfen uns damals noch mit dem verspotteten Pappkoffer auf Rädern. Emmi sagte: »Viel geredet haben die beiden nich. Mein Wuttke mußte neben ihm sitzen. War ja ziemlich eng hinten. Und dann noch mit meinem schlimmen Fuß. Aber sonst konnt ich nich klagen. Nur gleich hinterm Rügendamm, nein, erst als wir schon Autobahn fuhren und dieser Stoppelkopp, wie unsre Martha den nennt, eine von seinen Stinkdingern hat rauchen gewollt, hab ich Zoff gemacht. Da kenn ich nix. ›Im Zug hätten wir Nichtraucher gesessen!‹ hab ich geschrien und ›Raus! Will hier raus!‹ Da hat er den Stinker weggesteckt und sich schnell entschuldigt. ›Mein kleines Laster‹, hat er geflüstert. ›Wie konnt ich nur so gedankenlos sein.‹ Mein Wuttke aber kein einziges Wörtchen. Nur wenn wieder mal links oder rechts ein Autowrack lag, umgekippt oder ausgebrannt völlig, hat er gesagt: ›Das kommt von der Raserei. Müssen unbedingt alles dem Westen nachmachen. Dabei sind wir früh genug zu spät dran.‹ Bekam aber keine Antwort. Der saß wien Affe hinters Steuer geklemmt. War sauer, weil er nun ohne Zigarre … Aber zu schnell is er nich … Wie hätt er auch können mit nein Trabi. Andauernd wurden wir überholt von Mercedesse und andere Flitzer. Nee, nen bedrückten Eindruck hat mein Wuttke kein bißchen gemacht, aber reden, wie er sonst redet, konnt er nich. War irgendwie ne miese Stimmung drinnen, och wenn draußen Schönwetter war. Ich hab mir gesagt: Der hat ihn bestimmt in die Mangel genommen, weiß bloß nich, womit. Doch nich etwa mit unserm Teddy, weil der in Bonn sitzt und sowas wien Geheimnisträger is? Oder noch immer mittem Kulturbund, weil mein Wuttke da wirklich manchmal schlimme Sachen gesagt hat? Nee, nich direkt gegen die führenden Genossen, sondern um drei Ecken rum, wie er immer redet. Bad Saarow fiel mir ein, wo mal das Ferienheim vom Kulturbund, aber och so ne Art Hochschule gewesen is und wo mein Wuttke über diese Lene Nimptsch lauter unmögliche Sachen gesagt hat. Die heißt so wegen Verehrung von dem Dichter Lenau. Jedenfalls gab’s damals nen Lenau-Club, in dem sein Einundalles Mitglied gewesen ist, bevor er in diesen Herwegh-Verein reinging, der verboten war. Weshalb alle bespitzelt wurden, nich nur der Herwegh, der rechtzeitig abgehauen is. Davon hat mein Wuttke geredet und von den vielen Apotheken in Leipzig und Dresden. Und daß die Spitzelei nie aufhört, weil sie nich aufhören kann. Und daß die Spitzel unsterblich sind wie die Dichter, die sie bespitzeln. Daß aber manchmal auch Dichter richtige Spitzel sind, die deshalb doppelt unsterblich werden. Und außerdem hat er vor Publikum gesagt, daß dieser Oberspitzel, der vor hundertfuffzig Jahren den Herwegh und seinen Verein bespitzelt hat, immer noch rumläuft und rumspitzelt, natürlich mit nein ausgetauschten Namen, was aber trotzdem ein Beweis für Unsterblichkeit is. Da gab’s schon Geflüster im Saal. Ein paar haben gelacht. Aber dann hat mein Wuttke in Bad Saarow, wo wir, als Martha noch klein war, gern Ferien gemacht haben, paar Dinger losgelassen, die nich im Manuskript standen – was ich ihm ja abgetippt hatte vorher –, daß nämlich der Spitzel von anno dazumal hier im Saal irgendwo die Ohren spitzt und sich alles merkt, wie er sich früher alles gemerkt hat. ›Der vergißt nichts, der kann nichts vergessen!‹ hat er gesagt. Wann das war? Mitte Sechziger, als es mit der Kultur mal wieder eng wurde. Nachem Mauerbau jedenfalls, weil unsere Jungs schon drüben … Und Georg fertig als Pilot … Nur Friedel war noch inner Buchhandelslehre … Jedenfalls hat man das meinem Wuttke krummgenommen. Vorgeladen haben sie ihn paarmal. Hat überhaupt nich genutzt, daß er sich rausreden gewollt hat mit ›Der Klassenfeind schläft nich!‹ und ›Immer auf der Hut sein vor Westagenten‹. Hat alles nur schlimmer gemacht. Für uns keine Ferien mehr in Bad Saarow. Und reden durft er da och erst mal nich, bis es dann wieder ging. Aber vergessen haben die nix. Nee, die vergessen nie was. Deshalb glaub ich auch, daß dieser Stoppelkopp, wie unsere Martha den nennt, meinen Wuttke mal wieder unter Druck gesetzt hat, denn freiwillig wär er nie in den Trabi rein, wo er sich doch auf die Eisenbahn mit Freundlichs im Abteil so gefreut hat … Ich ja weniger, weil … Na, weil die mir irgendwie fremd sind … Und unsere Martha sagt och immer … Aber das paßt hier nich hin. Denn eigentlich sind die ganz nett gewesen, als mir das mit dem Fuß passiert ist, weil ich beim Raufklettern, als ich zum Leuchtturm wollt, unter son tückischen Wurzelstrunk … Also mit Frau Freundlich, das geht. Und die Mädels sind och ganz nett. Nur mit dem Professor kann ich nich. Konnt ich noch nie. Wenn der Mechiko und nich wie unsereins Mexiko sagt, krieg ich das Kribbeln. Aber mein Wuttke hätt sich mit seinem ›Brieffreund‹, wie er den nennt, noch stundenlang ausplaudern gewollt. ›Reichsbahn ist besser als Autobahn!‹ hat er gesagt. Jedenfalls sind wir gut nach Berlin rein, ohne daß irgendwas passiert ist. Bis vor die Haustür hat er uns mit seinem Trabi – irgendwie gelblich ist der – und hat dann, als wir schon ›Vielen Dank fürs Mitnehmen‹ oder sowas gesagt hatten, ganz ernst zu meinem Wuttke gesagt: ›Der Fall Lene Nimptsch bleibt aktuell!‹ Und dann hat er noch so paar Zweideutigkeiten über Frankreich losgelassen – ›Lyon und die Folgen!‹ –, wo mein Wuttke ja als Soldat gewesen is, aber darüber nich gern geredet hat. Och als der Stoppelkopp abgezischt war – kein Sterbenswörtchen. Dabei kann ich mir denken, daß da in Frankreich irgendwas schiefgegangen is, weil seine Feldpostbriefe damals irgendwie komisch … Erst als wir oben waren, drei Treppen hoch, und das mit Koffern und Reisetasche, und inner Post Briefe von unserer Martha drin steckten, einer aus Kopenhagen und einer von dieser dänischen Insel, genau, Mon heißt die, da war mein Wuttke wie ausgetauscht. Hat gelacht und Witze gerissen über Flitterwochen und so. Dabei hat Martha nich mal was Besonders geschrieben, nur daß das Wetter schön is und sich ihr Grundmann zuviel Arbeit, lauter Papierkram, mitgenommen hat und daß sie manchmal richtig Sehnsucht kriegt nach uns und unserer Gegend hier. Ach ja, und wie teuer Dänemark is, besonders Kopenhagen, hat sie geschrieben. Aber mein Wuttke war wie aussein Häuschen. Er hängt ja an Martha besonders und sieht wunder was in ihr, während ich … Aber das paßt hier nich hin, weil ich mir Sorgen mach … Wär ja schön, wenn sie glücklich … Genau. Nur das is wichtig. Jedenfalls ist mein Wuttke in der Küche rumgesprungen und hat immerzu gerufen: ›Jetzt hätt ich Lust zu rudern! Von mir aus im Kreis rudern. Hauptsache rudern! Haste nich auch Lust, Emilie? Wär doch was. Wir zwei beide in einem Boot. Im Tiergarten kann man welche mieten. Wie früher in Stralau. Nein, kein wildes Geschaukel. Mußt keine Angst haben. Ganz ruhig treiben lassen …‹ Und wie er nich aufhören wollt mit dem Gerede, da hat es bei mir getickt. Denn in seine Feldpostbriefe, die er zum Schluß aus Frankreich geschickt hat, da stand och immerzu was von Rudern drin, und wie schön das is, rudern, ein Gedicht sogar … Nana, hab ich mir gedacht, da is doch was faul, da steckt mehr hinter …«
Emmi Wuttke war zu keiner gemeinsamen Ruderpartie zu bewegen. Und Fonty konnte erst am Nachmittag des folgenden Tages seiner Lust nachgehen. Vorher ließ er sich im Haus der Ministerien den Genesungsurlaub bestätigen, eine Menge Papierkram. Im Personalbüro hieß es: »Das geht klar, Fonty. Warum sind Se nich länger jeblieben? Von uns aus können Se Pause machen, solang Se lustig sind. Hier is sowieso nischt mehr los. Nur Auf und Abräumen, Hausputz, besenrein, verstehn Se? Wir werden bloß noch bezahlt, damit wir uns überflüssig machen. Aber schaun Se mal vorbei, wenn Se auffem Damm sind wieder. Zu tun jibt’s jenug. Na, von wejen Einigvaterland muß alles schnell abjewickelt sein. Wird aber noch dauern, bestimmt. Jehn Se spazieren, Fonty. Keene Bange, wir halten Se auf Jehaltsliste, bis nischt mehr übrig is, und denn kommt wat Neues. Muß ja. Könn se doch nich leer stehen lassen den Kasten …« Soviel Aussicht auf Zukunft beruhigte. Als wollte er in Übung bleiben, fuhr Fonty einige Male mit dem Paternoster rauf und runter. Er wurde gegrüßt, grüßte zurück, hatte von Stockwerk zu Stockwerk den einen, den anderen Plausch: »Ein richtiger Glückspilz sind Se. Ferien auf Hiddensee! Davon hat unsereins immer nur träumen jekonnt. War ja meistens von Bonzen belegt. Was? In Neuendorf waren Se? Im Vorjarten von Franz Freeses Hotel am Meer. Jekochten Dorsch gab’s. Und? Jibt’s die Linden noch?«
Plötzlich oder weil ihn wieder die Lust aufs Rudern ankam, gab Fonty das Paternosterfahren auf. Oder sind wir es, die ihn voller Ungeduld unterwegs und endlich auf dem Wasser sehen wollen? Es stimmt, im Freien ist er uns eher zugänglich als im geschlossenen Gebäude. Ganz gegenwärtig sehen wir ihn, wie er mit jugendlichem Schritt das Portal des Kolossalbaus hinter sich läßt, in die Leipziger Straße einbiegt, mit geschultertem Wanderstock das zukünftige Bauland Potsdamer Platz überquert und unbehindert im Westen ist. Wir sehen, wie er verkehrssicher die vielbefahrene Entlastungsstraße für Sekunden zum Stillstand bringt, hören, wie er zackige, bahnbrechende Marschmusik, etwas wie »Preußens Gloria«, vor sich hin pfeift, gutgelaunt, denn nun nähert er sich dem Tiergarten, seinem seit jeher bevorzugten Gelände für Spaziergänge, sei es zur Amazone nahe dem Goldfischteich, sei es zur Rousseau-Insel und seiner alteingesessenen Lieblingsbank oder wie heute: über die Hofjägerallee hinweg, vorbei an den Bronzen Hasenhetze und Fuchsjagd, auf dem Großen Weg, nun mit schwingendem, alle zwei Schritte auf stoßendem Wanderstock, bis zum Neuen See hin, dessen Ausläufer vom Landwehrkanal, an den der Zoologische Garten grenzt, gespeist wird, und zwar durch das Wasserpumpwerk am Lützowufer. Nun biegt er zum Café am See ein, doch nicht, um unter Kastanien auf der Terrasse zu sitzen.
Wo er hinwollte, klotzte noch lange nach Kriegsende, bis er gesprengt wurde, der große Flakbunker, in dessen Betonverliesen Menschen und gestapelte Kunstwerke überlebten. Schon 1840 lag der Neue See im dritten Entwurf der gesamten Naturgartenanlage als künstlicher See vor. Lenné hatte geraten, den sumpfigen Elsbruch nicht kostspielig auszutrocknen, sondern ein Gewässer anzulegen, das später mit dem neuen Kanal verbunden sein und zu Kahnfahrten einladen sollte. Über dreißigtausend Taler kostete die Anlage samt Brücken; viel Geld für einen sparsamen, sogar als geizig verrufenen König. Und dort, wo ab Mitte des neunzehnten Jahrhunderts ein Herr Alexander Kähne verlieh, lagen, vom linken Terrassenrand zugänglich, an langem Steg gut zwei Dutzend Plastikboote gereiht, deren Ruderbänke sowie der Bodenrost allerdings hölzern waren, gleichfalls die Ruder. Für ein vormals spottbilliges Vergnügen zahlt man heute zweiundzwanzig Mark die Stunde; als Fonty jedoch beim Bootsverleih nach dem Mietpreis fragte, wurde ihm angesichts seiner knittrigen Aufmachung leichte Jacke, Leinenhose, Sommerhut und Spazierstock – geantwortet: »Fürn Zehner biste dabei, Opa!«
Er mußte als Pfand seinen Personalausweis hinterlegen. Nach weiteren Fragen, die in Berliner Manier witzig zu sein hatten -As denn Oma nich mit vonner Partie? Und wo sind die lieben Enkelchen abjeblieben?« –, sprang er mit kleinem Hüpfer ins Boot. verstaute Jacke und Stock auf der aus Kunststoff gepreßten Heckbank. setzte sich auf die hölzerne Ruderbank und tauchte, vom Bootsvermieter mit dem Ruf »Schiff ahoi!« angestoßen, zuerst den einen, dann den anderen in den Dollen liegenden Riemen ein. So gewann er nach wenigen Schlägen vom Ufer Abstand. Einer der Wasserarme reichte bis zum Terrassencafé und führte zur Seemitte und deren Inseln, die aber, wie ein Schild am Bootssteg lehrte, nicht betreten werden durften: »Vogelschutzgebiet!« Fonty war ein geübter Ruderer. Gleichmäßig zog er durch und tauchte die Blätter nie zu tief, nie zu flach ein. Als Junge schon war er auf dem Ruppiner See sozusagen zu Hause gewesen. Später hat er auf dem verschilften Dianasee gerudert, wenn er seinen Vater besuchte; das Villengrundstück Ecke Hasensprung, Königsallee neigte sich bis zum Seeufer. Für weite Ruderpartien reichte es dort nicht, doch half er beim Auslegen von Aalreusen und mußte mit anhören, wenn Max Wuttke seiner wortkargen Freundin zum wiederholten Mal das sozialdemokratische Genossenschaftswesen als Weltmodell erklärte. Fonty genoß es, auf dem Neuen See, wenn auch in einem Kunststoffboot, allein zu rudern; doch waren all seine Ruderpartien, zu denen Kahnfahrten während der Kriegsjahre, sei es auf polnischen Flußläufen und Seen, sei es im Flachwasser dänischer Inselbuchten oder auf Frankreichs stillen Gewässern gehörten, literarisch besetzt, weil ihnen romanhafte Erlebnisse vorgeschrieben standen: etwa jene Bootspartie auf der Spree bei Stralau, zu der sich, als Vorgeschichte zu »Irrungen, Wirrungen«, Lene Nimptsch überreden ließ. »Weil Lina Gansauge gern Kahn fahren wollte« und der halbwüchsige Rudolf, »der ein Bruder von Lina ist«, sich ans Steuer setzte. Dem folgte, wie wir wissen, die Geschichte mit dem Dampfschiff, das von Treptow kam und Wellen machte. Wir erinnern daran, daß Rudolf aus Angst und Dusseligkeit die Gewalt übers Steuer verlor, »so daß wir uns beständig im Kreis drehten«. Worauf Lene und Lina schrien, denn das Dampfschiff kam immer näher auf sie zu. Und sicherlich »wären wir überfahren worden, wenn nicht in eben diesem Augenblicke das andere Boot mit den zwei Herren sich unserer Not erbarmt hätte …« Mit dem Bootshaken herangezogen und festgemacht, wurden sie aus dem Strudel herausgerudert; und »nur einmal war es noch, als ob die große, vom Dampfschiff her auf uns zukommende Welle uns umwerfen wollte …« So kam es dazu, daß Fonty, als er allein mit sich auf dem Neuen See des Tiergartens ruderte, dennoch bei jedem Ruderschlag anderes Wasser unterm Kiel hatte, weil nämlich die schöntraurige Liebesgeschichte zwischen der aschblonden Plättmamsell und Weißnäherin Lene Nimptsch und dem Baron Botho von Rienäcker, der trotz seiner stattlichen sechs Fuß Länge von schwacher Natur war, beim Bootfahren begann. Und später kam es zu einer weiteren Wasserpartie, als beide ohne Frau Dörr, die bis dahin die Aufpasserin gemacht hatte, einen Ausflug aufs Land wagten. Mit dem Görlitzer Zug gelangten sie in die Nähe des Gasthofes Hankels Ablage an der Oberspree, die zum Rudern einlud. Erst nach der Kahnfahrt nahmen sie ein gemeinsames Zimmer. Doch was dort über Nacht geschah, steht nicht geschrieben. Kaum daß der Wirt Verlegenheit andeuten darf. Eine der vielen Aussparungen oder sollen wir Lücken sagen? In einem Brief an Otto Brahm aus dem Jahr 83 gesteht der Unsterbliche: »Ich kann wohl schildern, was einer Liebesgeschichte vorhergeht und auch das, was folgt, ja, für das Letztere hab ich vielleicht eine gute Begabung. die Liebesszenen selbst werden mir nie glücken …« Und uns gegenüber verteidigte Fonty das Weglassen »berühmter Schilderungen«, die er »Gipfel der Geschmacklosigkeit« nannte, mit Hinweisen auf die verräterischen Zettel von Crampas’ Hand, gerichtet an Effi: »Die sagen doch alles!« Obendrein mußten Lenes Briefe herhalten: Zwar habe Botho diese Liebesbeweise mitsamt ihrer mangelhaften Orthographie als »vernünftig und leidenschaftlich zugleich« empfunden, sie schließlich aber verbrannt, ohne Intimes oder gar Leidenschaftliches zu zitieren. Er ruderte in Ufernähe, gestreift von tiefhängenden Zweigen, dann wieder inmitten des Kunstsees und um die Vogelschutzinsel herum, wobei er anderen Booten geschickt auswich. Die Insel zog viele an, doch niemand betrat sie; alle achteten das Verbot. Fonty ruderte mit ruhigem Schlag. Auf der spiegelglatt moosgrünen Fläche warfen eine Ente, später ein Schwan mit sanfter Bugwelle keilförmig verlaufende Spuren auf. Manchmal hielt er die Ruder waagerecht überm Wasser, ließ sie abtropfen und das Boot treiben. Den Hut hatte er hinter sich abgelegt. Wir sahen ihn Haltung bewahren: ein wenig steif der gerade Rücken, etwas zuviel Pose; und doch erfreute er uns mit täuschend echtem Profil. Unbewegt saß der Greis, den Blick vom See und dessen Betrieb abgehoben. Die Sonne, wie sie nachmittäglich geneigt stand, schönte sein Haar.
Vielleicht ist den tiefhängenden Zweigen der Uferbäume und dem frühherbstlichen Septemberhimmel jener Vierzeiler zu verdanken, den Fonty während solch einer Ruderpause in Reime gebracht hat; aber erst in einem späteren Brief wurde uns dieser Gelegenheitsvers bekannt, auf daß wir ihn hier überliefern: Beim Rudern streifte mich die Trauerweide, so nah dem Ufer war ich plötzlich angerührt, sah uns zu zweit im Boot und jung, doch beide der Liebe frühem Ende zugeführt.
Dann tauchte er wieder die Riemen ein und gab sich mit mattem Schlag neue Richtung. Auf einem der Seitenarme, der nach längerem, von Biege zu Biege verzögertem Umweg wieder zur Mitte des Sees führte, ruderte er, vorbei an dichtem Gestrüpp und knorrig verwachsenen Bäumen, die mit ihrem Wurzelwerk im Wasser standen. Ein wenig unheimlich dunkelte es. Auf Ufersteinen gaben die Reste eines zerrissenen Kleides scharlachrot ein Signal. Plötzlich auf einer Bank, verschattet, ein onanierender Mann. Das stehende Wasser roch. Entengrütze. Kein Boot kam entgegen. Hinterhältige Stille … Nichts erfreute … Ohne hilfreiches Zitat … Erst als Fonty wieder ins Freie ruderte, hatte er Wasserpartien im Kielwasser, die bei günstigem Licht verliefen und auf Papier gedruckt stehen. Wir nehmen an, daß die Kahnfahrt auf der Oberspree von ihm nachgelebt wurde: Zwei Boote lagen am Steg zur Auswahl, als Lene und Botho in Hankels Ablage Quartier bezogen hatten. »Welches nehmen wir«, sagte Botho, »die Forelle – oder die Hoffnung?« Und Fonty zitierte Lenes Antwort so lauthallend, als wollte er ein Programm verkünden: »Natürlich die Forelle. Was sollen wir mit der Hoffnung?« Bei abermals eingezogenen Rudern hörte er dem Zitat nach, wischte mit dem Handrücken die Stirn, griff hinter sich, setzte den Strohhut auf, blickte unruhig zum Ufer, suchte Bänke und eine bis ans Wasser reichende Liegewiese ab, sah Paare und Vereinzelte, sah einen Jungen, der auf seinem Tischtennisschläger endlos den weißen Ball hüpfen ließ, sah türkische Großfamilien und Radfahrergruppen; doch erst als er zum Café am See zurückruderte, sah er, was die Gegenwart für ihn bereithielt: Auf dem Steg des Bootsverleihs stand jemand und winkte mit seiner Baseballkappe. Hoftaller wollte auch rudern, nein: Er wollte gerudert werden. Doch Fonty war müde. Vor Ablauf der Stunde zahlte er und erhielt seinen Ausweis zurück: »Na, Opa? Hat sich schon ausgerudert?« Hoftaller ließ nicht locker: »Ein halbes Stündchen nur. Auf meine Kosten selbstverständlich …«
»Morgen ist auch ein Tag.«
»Abgemacht.«
Da Fonty keine Wahl zu bleiben schien, hob er die
Schultern, ließ sie fallen. Wenn es denn unbedingt sein müsse, dann in der Frühe. Vormittags sei auf dem See wenig Betrieb. Zwar rudere er lieber allein, doch diese Einladung wolle er annehmen, ausnahmsweise. Sie gingen und warfen einen gepaarten Schatten.
Zu vermuten ist, daß sie auf dem Weg zum nahen Bahnhof Zoologischer Garten eher belanglos geplaudert haben. Oder sollen wir sie auf der Lichtenbergbrücke sehen, die den Landwehrkanal überwölbt? Sie nahmen den Weg Richtung Brücke, weil der Trabi am Lützowufer geparkt stand. Schon wieder war es Hoftaller, dem Fonty zu folgen hatte.
Unterwegs zum Auto gebot an der Uferpromenade eine Gedenktafel Halt, auf der zu lesen stand, daß am Abend des 15. Januar 1919 die Sozialistin Rosa Luxemburg von Offizieren und Soldaten der Garde-Kavallerie-Division an dieser Stelle erschlagen und in den Kanal geworfen worden sei; nur hundert Meter weiter, am Einfluß zum Neuen See, habe man Karl Liebknecht ermordet.
Sie standen am Geländer, in das ein denkmalähnlicher Eisenguß eingelassen war, der in Großbuchstaben den Namen der Ermordeten in Erinnerung zu halten versuchte. Als Hoftaller auf einen gleichfalls in Metall verewigten Vermerk wies, der mit dem Jahr 1987 das VEBLauchhammerwerk als Kunstgießerei angab, und er außerdem wußte, daß der Arbeiter- und Bauern-Staat diese späte Initiative gefördert habe – »Über unsere Kontakte zu Westberlin lief das« –, sagte Fonty: »Die Dienste haben schon immer ganze Arbeit geleistet. Was die Tallhovers beginnen, setzen die Hoftallers fort, und sei es, indem die Mörder von einst ihren Opfern heutzutage Denkmäler stiften. Neunzehnneunzehn, übrigens unser Geburtsjahr; jedenfalls ist mir so, als seien wir dabeigewesen.«
Dazu sagte Hoftaller nichts. Seine alten Augen waren wie ohne Wimpernschlag, das Lächeln geronnen. Auch später, als beide im Trabi saßen, fiel kein weiteres Wort.
Erst in der Kollwitzstraße, wohin sie ohne Zwischenhalt fuhren, hatte Fontys Tagundnachtschatten genug angesammelt: »Haben mal wieder recht, Wuttke.
Nichts ist vergangen. Überall hängen Versäumnisse nach. Kein Wunder, wenn Tallhovers Biograph lauter Pannen aufzählt … Zum Beispiel hätte die Luxemburg total observiert werden müssen … Kautsky auch … Neunzehnhundertzehn ist Lenin wieder mal bei ihm … Und bei der Luxemburg in der Cranachstraße … Wir hätten operativ werden, hätten zufassen müssen, rechtzeitig, dann wäre bestimmt ne ganz andre Geschichte gelaufen … Ach, Fonty, manchmal frage ich mich wie Ihr Unsterblicher: ›Wozu das alles?‹ Werde müde … Lasse nach … Ist wie ne Sinnkrise … Brauche unbedingt Hilfe … Jadoch, wir werden uns aussprechen müssen, von Mann zu Mann, am besten schon morgen, beim Rudern … Will aber nicht vorgreifen. Ruhen Sie sich aus, Wuttke. Wird bestimmt anstrengend …«