21 Beim Rudern geplaudert
Die vielen Mädchen: Magdalena, Lene, Madeleine. Eigentlich sind wir überfragt, denn nur zur Weißnäherin mit Plätteisen, die zu Buche schlug, gibt das Archiv etwas her; was Dresden und die Folgen betrifft, müssen wir auf Lücken verweisen: Die Familie, Mete voran, hat alle Spuren, falls es sie gab, umsichtig getilgt. Man wollte den Unsterblichen schlackenlos überliefern. Außer dem Brief an Bernhard Lepel, in dem über »zu große Lendenkraft« und Alimente im wiederholten Fall geklagt wird, zudem Dresden als Tatort ausgewiesen ist, liegt nichts vor. Und im Fall Lyon und die Folgen waren wir ganz und gar ohne Kenntnis. Aber Theo Wuttke schleppte eine Gewissenslast, sonst hätte Hoftaller ihn nicht so andauernd am Wickel haben können; und weil er als Fonty zu uns gehörte, mehr noch, der lebendigste Beweis unserer papierenen Materie war, fiel dem Archiv eine Aufgabe zu, die nicht durch Stubenhockerei bewältigt werden konnte. Wir mußten ins Grüne. Gleich Hoftaller war uns Außendienst vorgeschrieben. Wie Spanner hockten wir im Gebüsch oder hinter glatthäutigen Buchenstämmen versteckt. Man löste sich ab. Man gab das Belauschte weiter: Notate für später. Am nächsten Vormittag sollte ich zuständig sein. Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die angekündigte Begegnung mit der französischen Enkeltochter uns mehr als den Großvater überrascht hat; dessen Gesicht gab, als er von der allerneuesten Madeleine hörte, wenig zu erkennen. Allenfalls durfte, nach erstem Erschrecken, leichte Vorfreude vermutet werden. Schließlich waren seine Söhne ohne Nachkommen, und von Martha und ihrem späten Grundmann konnten kaum Kinder erwartet werden. Es gab keine kleinen Wuttkes. Nun aber kam Nachricht aus einem fernen, doch nicht fremden Land. Zuerst wird Fonty ein Kribbeln verspürt haben, dann hat es ihn überflutet. Zu uns sagte er: »Anfangs wurde mir eng ums Herz, bald aber sprang, wie im Märchen, der eiserne Ring.« Also hat er sich Madeleine vor Augen gestellt. Beim Hin und Her auf der chinesischen Teppichbrücke wird sie ihm in wechselnder Gestalt – die halbe Nacht lang – faßlich geworden sein; oder er sah sie am Küchentisch in der Frühe dort sitzend, wo ihm nichtsahnend Emmi gegenübersaß, die aber vielleicht doch merkte, daß ihr Wuttke den besonderen Blick hatte: »Der sieht manchmal Sachen, die gar nich da sind.« Denkbar, daß er sie aus gemischter Sehnsucht herbeirief und mal inselblond, mal aschblond auf sich zukommen sah, doch immer in Kleidern von altmodischem Schnitt und schlichtem Faltenwurf, keine Rüschen, nichts, was er als »aufgedonnert« hätte bekritteln müssen.
Vielleicht hat er vor seiner imaginierten Enkeltochter die große Abbitte geprobt und inwendig Sätze für eine weitausholende Beichte gereiht, beginnend beim sündigen Elbflorenz und des Unsterblichen frühen Fehltritten, dabei um Nachsicht bittend, weil die Wirrnisse einer auf mangelnde Freiheit gestimmten Zeit zu Irrwegen nicht nur auf politischem Feld verführt hätten. Es wäre ihm möglich gewesen, im Hundertjahressprung vom Leipziger Herwegh-Club und dessen aufrührerischen Deklamationen auf das Rumoren in den Offizierskasinos der französischen Etappe, mithin auf seinen Briefwechsel mit preußischen Adelsspitzen, den von Witzleben, Yorck, Schulenburg, also auf das mißglückte Attentat zu kommen. Dabei wären ihm in Nebensätzen absichtsvoll lyrische Anspielungen auf Ruderpartien unterlaufen: Soeben noch hätten sacht fließende Nebenarme der Elbe, dann aber ein stiller See nahe Ambérieux das Boot der Liebenden tragen dürfen. Fonty konnte das. Ihm sind die Jahrhunderte durchlässig gewesen. Nach seiner inneren Geographie floß die Spree in die Rhône. Und mit Hilfe der ihm allzeit dienstbaren Zeitschleuse hätte er wiederholt aschblondes Haar durch Frühlingslüfte beleben und einstiges Liebesgeflüster von Ruderblättern abtropfen lassen können. Bestimmt wäre ihm ein Vierzeller gelungen: Es war die Liebe, die uns schlug, ob Mußlauf oder glatter See das Schifflein trug … Oder es hätten Zitate verdoppelten Sinn gemacht, Herztöne und ihr Echo, Irrungen, Wirrungen abermals. Nicht etwa leichthin und einschmeichelnd wäre ihm eine Jahrhundertbeichte gelungen, eher stockend, als wollte er um Vertrauen werben; denn, ach, wie genügsam, selbstlos, nie klagend, immer heiteren und nur andeutungsweise wehmütigen Sinns haben sich beide, Magdalena Strehlenow und Madeleine Blondin, die Gärtners-, die Gastwirtstochter dem Apothekergehilfen, dem Obergefreiten hingegeben und sich dem Unsterblichen oder dessen Wiedergänger anvertraut, auf daß sich die eine modellhaft überliefern, die andere dem Modell angleichen konnte; sagte doch Lene Nimptsch lächelnd und ernst zugleich: »Glaube mir, daß ich dich habe, diese Stunde habe, das ist mein Glück. Was daraus wird, das kümmert mich nicht.« Und Madeleine Blondin hat alles wortwörtlich genommen. Weiterhin der Begegnung mit der Enkeltochter vorauseilend, hätte Fonty alle Folgen der Bootspartie auf seine Kappe nehmen und um Nachsicht bitten können. Weil er aber ohne Kenntnis der bedrückenden Einzelheiten, die dem französischen Etappenglück folgten, die Zeit überwölbt hatte, wäre er im Verlauf seiner Abbitte ins Stottern geraten. Was wußte er schon, außer daß Alimente fällig wurden, vom Dresdner Fall; und das andere Unglück hatte er ganz und gar unwissend überlebt.
Nur Hoftaller, vormals Tallhover, kannte die in Lyon ausgetragenen Folgen, er war und blieb auf Fährte. Ihm galt kein Vorgang als beendet, keine Aktenlage als abgeschlossen. Und wo sich Fonty ahnungslos gab, war sein Tagundnachtschatten mit Fakten zur Stelle. Mit seinem Wissen hätte er in unserem Archiv einige Lücken schließen können, verstand er sich doch als ergänzende Sammlernatur und als Freund geschriebener Wörter, deren hier übermalte, dort retuschierte Hintergründe selbst unter dickster Firnisschicht Auskunft gaben; auf alles Wortwörtliche – ob gedruckt oder gesprochen – war Hoftaller versessen. Oft reichte ein Halbsatz nur, zum Beispiel des so schönen wie schwachen Baron Botho hingeplauderte Erkenntnis, daß seine Lene »eigentlich eine kleine Demokratin« sei, um den damaligen Tallhover und – im Nachvollzug – Hoftaller auf spurensichernden Trab zu bringen. Wir können bezeugen, daß dem Objekt Fonty bei passender Gelegenheit – sei es im Paternoster, sei es beim Wassertreten auf Hiddensee – einige Tatsachen verklickert worden sind, die sein Tagundnachtschatten »Fakt« nannte: »Fakt ist, daß das Vorbild der literarischen Lene Nimptsch ne zähere Demokratin als ihr flatterhafter und rasch den Stil wie die Gesinnung wechselnder Liebhaber gewesen ist. Bis ins hohe Alter – Magdalena Strehlenow starb 1904 – blieb sie den achtundvierziger Ideen anhänglich. Fakt ist, daß sie zur Zeit der Sozialistengesetze wegen Umgehung des Verbots geschlossener Versammlungen viermal arrestiert werden mußte. Sie ließ aber nicht locker. War als Rednerin nicht nur in Sachsen gefragt. Galt als mit Clara Zetkin bekannt, wenn nicht befreundet. Starb ohne christlichen Beistand. Und Fakt ist, daß ihre Tochter Mathilde auch ne Rote gewesen ist, gemäßigter zwar, tendierte zu Bernstein, widersprach als typische Revisionistin auf dem Erfurter Parteitag dem revolutionären Flügel, war deshalb besonders gefährlich. Und selbst noch, als ihre Ehe mit nein verbummelten Studenten …« Das alles und mehr Fakten hatte Hoftaller schon auf Hiddensee parat, aber erst nach der Ruderpartie auf dem Tiergartensee kam er vom sächsischen aufs französische Detail. Sie saßen unter den Kastanien des Biergartens. Fonty wies auf den reifen Fruchtsegen, die geborstenen Schalen, sagte: »Bald fallen die ersten«, wollte dann aber mehr über den verbummelten Studenten und die revisionistische Mathilde hören, doch Hoftaller war nicht abzulenken: »Darüber reden wir später, vielleicht. Heute wollen wir uns auf den Besuch aus Frankreich vorbereiten. Wirklich, ne niedliche Person. Habe nicht zuviel versprochen. Ihr Deutsch ist vorzüglich. Redet wie gedruckt. Keine Bange, Fonty, Sie werden Ihr Etappenfranzösisch kaum bemühen müssen. Wird Ihnen Freude machen, Ihre Enkeltochter, von mir aus heimliche Freude. Schon morgen, Wuttke, wird Ihnen das Herz hüpfen …«
Wir hätten das mit größerem Abstand genießen sollen; doch gleich aus welcher Entfernung gesehen: Nathalie Aubron, die aber auf den Vornamen ihrer Großmutter hörte, war wirklich reizend. Klein bis zierlich, mal lebhaft burschikos, dann wieder still, ganz Ohr, dabei ungekünstelt naiv und dennoch von jener mitteilsamen Klugheit, die zum Gespräch einlud und die Fonty sogleich als einladend für eine Ruderpartie empfand; selbst wir vom Archiv hätten gerne mit Madeleine in einem Kahn gesessen, so gewinnend, nein anziehend überbrückte sie alle Distanz. Als Fonty ein wenig verfrüht zum Bootsverleih kam, nutzte er die Zeit, um seinen leichten Sommershawl, den er sonst achtlos trug, gefälliger zu drapieren: Das Schottenmuster sollte zur Geltung kommen. Dann ging er auf und ab und sprach im Gehen halblaut vor sich hin, als wollte er Begrüßungssätze erproben, zum Beispiel diesen: »Spät sehen wir uns, doch nicht zu spät.« Oder: »Darf ich unsere überraschende Begegnung als ein Herbstgeschenk werten?« Oder: »Mademoiselle, daß Sie sich wie Ihre liebenswürdige Großmutter Madeleine nennen, ruft in mir schöne, aber auch schmerzliche Erinnerungen wach.« Doch als dann plötzlich Hoftaller vor ihm stand und neben dem Vermittler des familiären Treffens »La petite« als eine augenblicklich alle Vorängste besiegende Person, die überdies mit hellem »Bonjour Monsieur!« und drei wie selbstverständlichen Wangenküssen keine zurechtgelegten Begrüßungssätze zuließ, fiel Fonty nur ein, wiederholt »Da bist du ja, Kind« zu sagen. Dann suchte er ihr Gesicht ab und sie seines. Bald war Hoftaller überflüssig. Zwar stand er noch eine Weile herum, und wir genossen seine Verlegenheit, doch ging er wie auf Befehl, nachdem ihn Fontys Enkeltochter höflich, aber bestimmt verabschiedet hatte: »Ich bin Ihnen sehr verbunden, Monsieur Offtaler, daß Sie mir den Weg zu meinem Großvater eröffnet haben. Gleichfalls empfinde ich Ihre Diskretion als lobenswert: In Montpellier ist man ahnungslos. Das ist gut so. Mama, die noch immer ein wenig bekümmert ist, sollte geschont werden. Man muß ja nicht alles – wie sagt man – an die große Glocke hängen, nicht wahr? Doch nun möchte ich Sie um Verständnis bitten, Monsieur. Herr Wuttke und ich haben einander sehr viel zu erzählen.« Wir glauben, daß Hoftaller gerne ging. Er wußte ohnehin genug. Indem er ging, hinterließ er keine Lücke; und Fonty, den wir uns nur schwer ohne Tagundnachtschatten vorstellen konnten, war glücklich, mit seiner Enkeltochter allein zu sein.
Als hätte es keine andere Wahl gegeben. etwa einen Spaziergang durch den Tiergarten zur Rousseau-Insel, lud er mit stummer Geste zur Ruderpartie ein. Und Madeleine, die als erste ins Boot sprang, bot ihm beim Einsteigen ihre kleine, kindlich anmutende Hand. Mit einer Kavaliersgeste. dabei ein wenig schauspielernd, bedankte er sich. Madeleine saß schon auf der Ruderbank, als sie schulmädchenhaft um Erlaubnis nachfragte: »Bitte, Monsieur, darf ich rudern? Ich kann das ganz gut.« Ein schönes Bild, vom Ufer aus gemalt. Bei lockerer Bewölkung wechselte das Licht. Farbtupfer, Schattenspiele, wässerige Übergänge, wie aquarelliert. Ab und zu rillte ein Windstoß die Wasserfläche, dann wieder Spiegelungen. Erste Blätter fielen verfärbt. Libellen über Entengrütze. Schon öffnete sich der See. Zu zweit im traumhaft gleitenden Kahn, dem, wie bestellt, ein Schwanenpaar begegnete. Und immer neue Bildausschnitte erlaubte das Ufergebüsch. Außer den gemalten Motiven war zu sehen, daß Madeleine nicht aschblond war, sondern wirbelig kastanienbraun; der kurzgehaltene Schopf hob sich vom fusselnden Weißhaar Fontys, der seinen Hut neben sich gelegt hatte, einprägsam ab, besonders wenn das Boot durch Lichtkringel glitt. Ihr kleingeblümtes Kleid, ein geräumiger Hänger, in dem sich die knäbische Figur verbarg, gab ein überwiegend blaues Signal. Nur wenn sie die Ruder durchzog, traten, kaum angedeutet, die Brüste hervor. Sie ruderte ärmellos, die Knie eng beieinander, als sei ihr diese sportliche Haltung antrainiert worden. Die mageren Arme kräftig und muskulös. Ihre im Profil spitze, ich sagte zu meinem Kollegen: ein wenig vorwitzige Nase. Nun ruderte sie in weitem Bogen das Seeufer ab. Anfangs versuchte Fonty, sein eher schütteres Französisch zu bemühen. Weil Madeleine flüssig, mehr noch, überkorrekt und wie nach einem altmodischen Regelbuch Deutsch sprach, könnte der Großvater seine Enkeltochter zuallererst nach der Herkunft dieser sicheren und sogar den Konjunktiv pflegenden Kenntnisse gefragt haben, denn gleich nach dem Anrudern hatte sie gesagt: »Wüßte ich nicht, daß alles tatsächlich und am hellichten Tag geschieht, müßte ich glauben, mir träume etwas sehr Wunderbares.« Madeleines Antwort holte weit aus: Der vor wenigen Jahren verstorbenen Großmutter traurige Liebe, die alles Deutsche eingeschlossen habe, sodann das Verbot der Mutter, zu Hause oder gar bei Tisch irgend etwas Deutsches, und sei es nur einen VW oder eine Schwarzwälder Kuckucksuhr, zu erwähnen, ferner der versammelte und nicht enden wollende Widerstand gegen die einstige Besatzungsmacht, aber auch das Geheimnis um den verschollenen Liebhaber der Großmutter, den viele als Lump und niemand als antifaschistischen Helden erinnert hätten, all das und besonders die verkapselte Liebe der Großmutter habe sie dazu gebracht, als Kind schon, zuerst aus Trotz, dann aus Neigung diese schwierige und oft der Logik ferne Sprache zu erlernen, sie schließlich zu studieren und – seit dem Tod der Großmutter – die deutsche Literatur des neunzehnten Jahrhunderts zum Gegenstand ihres Studiums zu machen. »Monsieur können mir glauben, das war gewiß kein Kinderspiel.« Und dann begann Madeleine, während sie aufs Ufer zuruderte, eine Idylle auszumalen: In einem einsamen, kaum noch bewohnten Dorf in den Cevennen, wo die Großmutter noch vor Kriegsende und der Geburt ihres Kindes gezwungenermaßen habe leben müssen, sei ihr, dem anhänglichen Enkelkind, als Erbe ein Haus, gemauert aus Feldsteinen, zwar klein, doch voller Bücher, zugefallen, unter ihnen einige aus dem Besitz des entschwundenen Großvaters, von dem kein Photo, kein Brief, nicht einmal eine Postkarte gezeugt hätte. Und in dem Cevennenhäuschen mit den dicken Mauern und dem tiefen Fluchtkeller – »Monsieur müssen wissen, daß dort bis weit ins achtzehnte Jahrhundert die Hugenotten Zuflucht suchten« – habe sie während Ferienzeiten – »Und zwar mit grand-mère gemeinsam« -viele Erzählungen von Storm, Keller und Raabe lesen dürfen, aber auch »Irrungen, Wirrungen«, das Lieblingsbuch der Großmutter, zu studieren begonnen. So früh sei sie auf den Unsterblichen gekommen: »Keine sechzehn war ich, als mich grand-mère mit Lene und Botho bekannt gemacht hat.« Jetzt noch könne sie den Anfang der schöntraurigen, aber auch ein bißchen dummen Geschichte hersagen: »An dem Schnittpunkte von Kurfürstendamm und Kurfürstenstraße, schräg gegenüber dem ›Zoologischen‹, befand sich in der Mitte der siebziger Jahre noch eine große, feldeinwärts sich erstreckende Gärtnerei …« Noch immer ruderte Madeleine ihren Großvater in Ufernähe. Deutlich sah man die Muskeln ihrer Ober- und Unterarme. Sie ruderte mit Ausdauer. Bei eng geschlossenen Knien hielt sie den Rücken gerade. Unter spitzem Nasenwinkel lächelte ihr kleiner Mund beim Sprechen, während ihre Augen, die im schmalen Gesicht groß wirkten, ernst blieben, dunkel von soviel Klugheit und früh gesammeltem Wissen; ein immer aufmerksamer, von Heimlichkeiten am Rande des Sees – auf Uferwegen, hinter Holundergebüsch – nicht abzulenkender Blick, der uns dennoch nicht ausließ, sagte sie doch: »Attention, Monsieur! Hier hat alles Ohren, sogar die Natur. Vielleicht spricht man deshalb in Deutschland gerne von lauschigen Plätzchen.« Fonty, der seiner Enkeltochter ausgehungert und wie nach langer Fastenzeit zuhörte, stellte nur selten vorsichtige, nach Einzelheiten tastende Fragen: Ob in der Stadtmitte von Lyon noch immer der Bahnhof Perrache in Betrieb sei? Er habe von rasend schnellen Zügen gelesen, mit denen man in zwei Stunden schon Paris erreiche. Ob es im Vorort Limonest noch immer das Café de la Paix gebe, in dem einst Monsieur Blondin hinter der Theke gestanden und ihm, dem gottverlassenen Soldaten, einen und noch einen Pastis eingegossen habe?
Und dann erst, ängstlich verzögert, wollte er wissen, welche Schrecken das Kriegsende, bei aller Siegesfreude, mit sich gebracht habe, ob Madeleine Blondin in jenem einsamen Cevennendorf mit ihrem Kind ganz allein gewesen sei und weshalb das Kind – »Man sagte mir, meine Tochter heißt Cécile« – nicht später die Mutter zu sich nach Montpellier genommen und so deren Verbannung beendet habe. Die Enkeltochter versicherte, daß Lyons Bahnhof noch immer in günstiger Lage in Betrieb sei. Kummer und Ärger mit den Behörden, schließlich Krankheit gab sie als Grund an für den Verkauf des Café de la Paix in der Vorstadt. Schon Anfang der fünfziger Jahre wurde der verwitwete Gastwirt zu Grabe getragen. Gleich nachdem »La Terreur« als »épuration« inmitten Siegesfreude gewütet habe, sei die schwangere Großmutter kahlgeschoren in die Cevennen geflüchtet, heimlich nachts. Das einsame Haus dort habe leer gestanden und des Vaters Familie gehört. Und dort sei sie niedergekommen; nur eine alte Frau, die auf Kräutersuche war, habe ihr beigestanden. »Aber nein, Monsieur Wuttke«, rief Madeleine, »nie hat grand-mère sich wieder mit einem Mann eingelassen, so sehr verletzt ist sie gewesen. Und doch hat sie immer ganz liebevoll von einem Soldaten gesprochen, den sie als ein wenig schwärmerisch und absolut unmilitärisch in Erinnerung hatte und dem sie nichts Böses nachsagen wollte, obgleich er ihr, nach nur kurzem Glück, soviel Leid gebracht hatte. Mais non! Sie wollte von dort nicht weg. Da half kein Zureden. Maman, die ja schon mit siebzehn zuerst nach Aix und dann nach Montpellier gegangen ist, und auch mein Vater, Monsieur Aubron, haben sie immer wieder eingeladen: ›Viens, Maman! Wir bauen extra für dich den Dachboden aus!‹ Aber sie wollte nicht, wollte nicht unter Menschen sein. Und so blieb sie in dem Steinhaus, dessen Fenster so schmal wie Schießscharten sind. Ich bin sicher, Monsieur Wuttke, daß Ihnen grand-mère’s Festung gefallen würde. Alles ist voll Geheimnis dort. Steinkäuze gibt es. Auf dem Hügel hinterm Haus stehen dunkle Zypressen gereiht. Man sieht sie aus der Ferne schon. Exactement! Ein alter Hugenottenfriedhof. Und hinter dem Hügel weitere Hügel, die blau und blauer werden. Steineichen, Kastanienwälder. Wir könnten in die Pilze gehen oder Ausflüge machen nach Saint-Ambroix, Alès und noch weiter, bis in die Ardèche. Dafür habe ich sogar grand-mère gewinnen können. Mit meinem ›deuxchevaux‹ sind wir bis nach Barjac und weiter zu den Höhlen gefahren, von denen eine sogar ›Grotte des Huguenotes‹ heißt, weil sich dort die Reformierten vor der katholischen Miliz, den gefürchteten Dragonaden, versteckt haben sollen. Schrecklich waren die. ›Gestiefelte Missionare‹ hat man die Dragoner genannt. O ja! ›La Terreur‹ hat in Frankreich eine lange Geschichte …« Dann hörten wir nichts mehr. Madeleine ruderte das Boot in jenen Seitenarm des Neuen Sees, der gleich einem toten Gewässer modrig roch und in dessen einer Uferbiege das zerrissene scharlachrote Kleid auf Steine gebreitet lag. Aber Fonty hat uns gegenüber später beteuert, irgend jemand müsse den mordverdächtigen Fetzen weggeräumt haben, nichts Schreckliches habe die Stimmung eintrüben können, und gar nicht unheimlich sei seiner Enkeltochter der dunkle Wasserarm gewesen. Ich kann das bestätigen: Kaum war das Boot wieder in Sichtweite, sahen wir La petite gefragt und ungefragt plaudern. Noch lange hat sie ihrem Großvater die einsamen Cevennen, das festungsähnliche Haus der Madeleine Blondin, den Zypressenhain, aber auch das Elend hugenottischer Galeerensklaven ausgemalt und ihm erzählt, wie eine alternde Frau ihre nur kurz gelebte Liebe als Herzstück in Büchern suchte, die in einer Sprache hinterlassen waren, die fremd blieb, auch wenn sie erlernt wurde, zuerst mühsam allein, dann später, viel später mit dem heranwachsenden Enkelkind, das während Ferienaufenthalten rasch lernte und ihr, als die Augen in den letzten Jahren nachließen, sogar beim Schein der Lampe vorlesen konnte: immer wieder der armen Effi traurige Geschichte; mit welchen Worten die blasse Stine ihren Verzicht begründete; aber auch, wie entschlossen Lene Nimptsch ihrem Herzen befahl zu schweigen … Im Gegensatz zu ihrer Großmutter, die überall – und sei es zwischen den Zeilen Trost suchte und fand, war Madeleine Aubron eine kritische Leserin. Als sie ihren Großvater aus dem düsteren Seitenarm wieder auf die glänzende Fläche des Neuen Sees ruderte und abermals in Ufernähe kam, bat sie ihn, ihr zu erklären, weshalb der Unsterbliche, den sie nie beim Namen nannte, aber als »unser Autor« in Besitz nahm oder als »Monsieur X« mystifizierte, in seinen Romanen zulasse, daß immer wieder Standesbewußtsein die Liebe abtöten dürfe, und weshalb die Ordnung so traurige Siege der Vernunft verbuchen dürfe. »Bien sûr!« rief sie. »Sie werden mir jetzt die Gesetze einer ständischen Gesellschaft als zwar dünkelhaft, aber rechtens erklären und sich, wie unser Monsieur X, wenn auch bedauernd und voller mitleidendem Gefühl für die unglücklich Liebenden, an die standesgemäße Ordnung halten; doch mich hat diese resignative Tendenz oft sehr ärgerlich gemacht: Incroyable! Schon als Kind war ich, wenn mir grand-mère aus ihrem Lieblingsbuch vorgelesen hat, wütend, daß dieser langweilige Baron Botho die plapprige dumme Käthe, nur weil sie adlig war, zur Frau genommen hat und nicht seine Lene. Und dann hat er auch noch die Briefe, sogar alle getrockneten Blümchen, die noch von Hankels Ablage erzählen konnten und mit Lenes Haar gebunden waren, im Kamin verbrannt, damit nichts übrigblieb. Grand-mère hat immer gelacht, wenn ich wütend war auf unseren Autor. Doch einmal hat sie gesagt: ›Wie gut, daß mir Théodore keine Briefe geschrieben hat. Pas un mot! Man hätte sie gefunden, als man mich holte. Und geschrien haben sie: ’La pute à boches!’ Und bestimmt hätten sie seine Briefe verbrannt, wie sie mich am liebsten verbrannt hätten. Aber kahlgeschoren durch Lyon laufen war schlimmer als ein Scheiterhaufen.‹ Wenn grand-mère so etwas sagte, war sie ein wenig bitter. Sonst aber hat sie von Ihnen sehr lieb gesprochen und immer gelächelt dabei. Einmal, als ich den Sommer über die Ferien bei ihr verbrachte, sagte sie, als wir am Abend auf der Steinbank vorm Haus saßen: ›Bien sûr, mein Théodore war ein Verführer und obendrein ein Schwärmer. Er konnte von diesem Schriftsteller französisch-reformierter Herkunft, der sein Gott war, so einfühlsam sprechen, als wollte er ihn in jeder Phase seines Lebens nachleben. Oft wußte ich nicht, wer zu mir sprach, wenn er von sich, zum Beispiel aus seiner Kindheit, erzählte. Immer hat ihm der andere über die Schulter geschaut, so daß er mir, so blühend jung er war, oft wie aus anderer Zeit und uralt vorkam. Vielleicht waren deshalb seine Radiosendungen, die er heimlich mit uns gemacht hat, so erfolgreich. Die Résistance verdankt ihm viel, o ja. Mein Bruder, der die Deutschen wirklich gehaßt hat, war ganz verliebt in Théodore. Jung waren beide und ich noch jünger. Wie Kinder, so albern. Und doch haben wir sehr ernst für dieses Partisanenradio gearbeitet. Das war schön, wir drei in einem Boot. Eines hieß ’La Truite’, aber wir nannten jedes Boot ’Bateau-ivre’. Wir mußten ja, der Sicherheit wegen, häufig den See wechseln, was leichtfiel, weil überall stille Teiche zu finden waren. Und wo immer wir im Boot saßen, hat Théodore mit seiner leisen, aber ganz deutlichen Stimme aus Büchern gelesen. Und JeanPhilippe hat alles mit seinem Apparat aufgenommen. Ich durfte rudern. Ach, war das lustig – bis alles verraten wurde und sie unseren Jean-Philippe und die anderen auch, die heimlich das Radio machten, im Gefängnis Mont-Luc gefoltert und zu Tode geschunden haben. Nur Théodore kam davon, glücklicherweise … Doch mir hat später keiner glauben wollen, daß ich dazugehört habe, niemand, nicht meine Schwestern, sogar mein Vater nicht. Die Hure von einem boche war ich, die collaboratrice horizontale!‹ Das und noch mehr hat mir grand-mère gesagt. Sowas tut weh, nicht wahr? Doch nicht nur deshalb bin ich gekommen, Monsieur Wuttke! Oder darf ich zu Ihnen grand-père, nein, Großpapa sagen?« Sie durfte. Und jetzt kam Fonty zu Wort. Doch da seine Enkeltochter die Mitte des Sees anruderte, während er sprach, blieben wir zurück und in wachsender Distanz. Mehrmals ruderte sie den Kahn um die Vogelschutzinsel, war aus dem Blick, wieder da, abermals hinter Bäumen und Gebüsch und brachte sich und ihren Großpapa aufs Neue ins Bild. Dann sahen wir vom Ufer aus, wie Madeleine Aubron die Riemen einzog. Noch immer sprach Fonty mit sparsamen Gesten. Im sacht treibenden Boot hörte sie ihm zu. Wir ahnten ihren kleinen lächelnden Mund, die ernsten altklugen Augen. Nach langem Zuhören stand sie von der Ruderbank auf, ging, nein schwebte in ihrem blauen Hänger zum Heck, wo Fonty saß, nun ein wenig gebeugt. Sie umarmte ihn. Die Enkeltochter ging auf die Knie und umarmte den sitzenden Großvater. Ich hätte ein Photo machen sollen und noch ein weiteres Photo, doch Schnappschüsse waren nicht unsere Methode; obgleich wir sahen, wie Fonty am Ende seines langen und von behutsamen Gesten begleiteten Berichts umarmt und ihm danach von Madeleine eine winzige Schachtel überreicht wurde, gibt es kein Zeugnis von diesem feierlichen Moment, in dem der ehemalige Obergefreite und Kriegsberichterstatter Theo Wuttke, um Jahrzehnte verspätet, ganz inoffiziell und nach familiärer Zeremonie, einen französischen Orden bekam.
Er wird seiner Enkeltochter erzählt haben, was Hoftaller bestätigt hat: Fonty gehörte zur Résistance, nein, nur zeitweilig war er auf selten des französischen Widerstands oder genauer: Der Obergefreite Theo Wuttke ließ sich ab Frühjahr 44 von einer kleinen, isoliert aktiven Partisanengruppe benutzen. Nicht, daß er im Untergrund mit Sprengsätzen Munitionszüge oder Brücken in die Luft gejagt hätte., aber einen Partisanensender, der dreieinhalb Monate lang in Betrieb blieb, hat er mit halbstündigen Vorlesungen bedient, die für die Soldaten der Besatzungsmacht bestimmt waren. Er las insbesondere aus den Büchern des Unsterblichen, nicht nur aus den Romanen, auch aus dem schmalen Bändchen »Kriegsgefangen, Erlebtes 1870«, in dessen Kapiteln er seine Liebe zu Frankreich mit seiner Kritik am französischen Chauvinismus ins Gleichgewicht gebracht hat. Diese vormittäglichen Rundfunksendungen, die auf plumpe Propaganda verzichteten, sollen erfolgreich gewesen sein, besonders ab Beginn der Invasion. Es hieß: Des vorlesenden Soldaten Stimme brilliere in Dialogpassagen, gebe Nebensätzen ironische Bedeutung, pflege den mal knappen, mal ausschweifenden Plauderton, könne wohltönend weich, aber auch von preußischer, alles aufs Kurze bringender Schärfe sein. Und da der Soldat seine Lesungen – etwa aus »Schach von Wuthenow« – mit Kurznachrichten von der Invasionsfront unterbrach oder vom Attentat im Führerhauptquartier Wolfsschanze ohne Tendenz, eher sachlich berichtete, wobei er die Kämpfe um Caen mit dem normannischen Herkommen der erfolgreichen Attentäterin Charlotte Corday und den am mißglückten Attentat beteiligten Adel geschickt mit Preußens ruhmreicher Geschichte verquickte, gelang es ihm, den Kampfgeist der bereits angeschlagenen Wehrmacht durch beiseite gesprochene Nachdenklichkeiten zu schwächen, jedenfalls im Besatzungsbereich Lyon.
Uns hat Hoftaller versichert, daß man dieses Verdienst erst nach langen Recherchen einem anfangs namenlosen deutschen Soldaten zugesprochen habe. Dabei hätte seine Dienststelle behilflich werden und endlich den gesuchten Luftwaffen-Obergefreiten ausfindig machen können. Doch erst ab Mitte der achtziger Jahre wäre man auf französischer Seite bereit gewesen, den Namen Theo Wuttke in Erwägung zu ziehen. Es war wohl Hoftaller persönlich, der sein Objekt namentlich anerkannt sehen wollte; dank seiner Firma verfügte er über Kontakte zur Kommunistischen Partei Frankreichs. Und seit vier Jahren schon stand er mit Madeleine Aubron in Verbindung, teils über vermittelnde Personen, teils direkt, anläßlich einer Dienstreise, die uns von beiden als Ortstermin mit dem Datum Mal 87 bestätigt wurde. Als der Arbeiter- und Bauern-Staat sein vierzigjähriges Jubiläum begehen wollte und ihm seinen weiteren Bestand abstützende Feierlichkeiten als Planziel sicher waren, sollte Theo Wuttke im Rahmen des Festprogramms offiziell geehrt werden; doch als es soweit war, kamen in Frankreich Bedenken auf, weil sich bereits das Ende des zur Selbstfeier bereiten Staates abzeichnete. Nur so können wir uns die Übergabe des winzigen Kästchens erklären, die bei einer vormittäglichen Bootsfahrt stattfand, als die knieende Enkeltochter den sitzenden Großvater dekorierte und ihm sogar eine Urkunde übergab, die allerdings nur durch Madeleines Handschrift und von keinem Behördenstempel beglaubigt war. Jedenfalls trug Fonty seitdem am linken Revers seiner Jacke bei besonderer Gelegenheit ein kleinfingernagelgroßes Ordensband. Wenn wir ihn nach der Bedeutung des signalroten Tupfens fragten, schwieg er vielsagend oder redete sich auf den Maler Corot heraus, in dessen grünen Bildern stets und raffiniert versteckt ein Blutstropfen zu finden sei; allenfalls sagte er: »Die Compagnons de la Résistance glaubten, meine Vortragskunst auszeichnen zu müssen. Doch diese Fähigkeit wurde schon früh im Tunnel über der Spree gelobt, etwa von Merckel, als ich mit balladeskem Ton den Tower in Brand steckte und die versammelten Tunnelbrüder von der in Versen angezettelten Feuersbrunst nicht genug hören konnten. ›Da capo‹, riefen sie; wenngleich das Feuer, wie wir wissen, dem Tower nichts anhaben konnte …«
Was noch alles im Boot erzählt, berichtet oder nur leichthin zwischen Heck und Ruderbank geplaudert wurde, hörten wir nicht. Nur einmal, als Madeleine ihren Großvater wieder in Ufernähe ruderte, schnappten wir Wortfetzen auf, die auf »Irrungen, Wirrungen« schließen ließen. Von einer Kutschfahrt durch die Hasenheide zum Friedhof und von Immortellen auf dem Grab der alten Frau Nimptsch war die Rede. Später parodierte Madeleine die dumme Käthe: »Ach, das ist zu komisch … der Laubfrosch!« Und Fonty rief den Schlußsatz des Romans: »Gideon ist besser als Botho!« Seine Stimme trug auf dem Wasser. La petite wiederholte diese Behauptung, woraufhin Großvater und Enkeltochter zweistimmig lachten und sich Madeleines eigentlich kleiner Mund zu clownesker Größe weitete. Dann riefen sie abwechselnd oder gleichzeitig: »Gideon ist besser als Botho!« Mal klang das lustig, mal verzweifelt, schließlich sogar höhnisch. Immer wieder, als müsse ein Urteil gefällt oder das Schicksal als unabwendbar beschworen werden, riefen beide und bildeten mit den Händen Trichter: »Gideon ist besser als Botho!« Bald kam von anderen Booten und von der ans Ufer grenzenden Liegewiese Antwort: »Wer is besser? Stimmt watt nich, Opa?« Wir begriffen sofort den weittragenden Doppelsinn dieser abschließenden Wertschätzung. Madeleine Blondin hatte sich zwar geweigert, wie Lene Nimptsch eine zweite Wahl zu treffen, vielmehr ist sie mit ihrer abgekapselten Liebe in den Cevennen einsam geblieben; doch ihre Tochter Cécile flüchtete, kaum war sie knapp siebzehnjährig der Mutter aus bergiger Einöde entlaufen, nach Montpellier und in die Ehe mit einem Automechaniker namens Gilles Aubron, der, beträchtlich älter als sie, dem Cevennenkind Halt gab und ihm proletarische Prinzipientreue versprach. Später, mit eigener Werkstatt, kam sogar ein wenig Wohlstand zusammen. Als das einzige Kind dieser offenbar glücklichen Ehe davon seinem Großvater beim Rudern erzählte und ihm ein streng behütetes Familienleben bis hin zu Tischsitten und Sparvorschriften ausgemalt wurde, hörten wir ihn eher halblaut als weithallend sagen: ›Jaja. Selbst ein Gilles ist wohl besser als ein Théodore.« Danach wechselten sie den Platz. Ganz schnell ging das, leichtfüßig. Sobald sich Fonty wie ein gelernter Ruderer in die Riemen legte, rief Madeleine: »Bravo, Großpapa!« Mit hochgezogenen Knien, die sie umklammert hielt, hockte sie auf der Heckbank und zeigte uns ihren spitzen Nasenwinkel. Der rudernde Greis mochte inwendig an einem Vierzeiler arbeiten, der später in einem Brief an seine Tochter Martha in Reinschrift stand: Wir haben uns in einem Boot gefunden, das schon auf frühem Wasser leichte Liebe trug. Nun zählen wir die nachgelaßnen Wunden, das Herzeleid – und was uns sonst noch schlug.
Erst als der Großvater alle Reime beieinander hatte und ihm, wie er sagte, »nach einem Cognac zum Kaffee war«, ruderte er seine Enkeltochter, die, wie sie sagte, »ein richtiges Bier zischen« wollte, in Richtung Anlegesteg und Terrassen-Café, wo ich schon unter Kastanien saß, bei einer Selters und, abgewendet, mit Notizen beschäftigt. La petite trank noch ein zweites Bier.