10 Warum am Ringfinger gezerrt wurde
Die Ehe war schwierig, die eine, die andere, doch beide hielten. Jene mit Emilie, geborene Rouanet, deren leiblicher Vater Bosse, deren Adoptivvater Kummer hieß, dauerte achtundvierzig Jahre, und der Bund mit der geborenen Emmi Balunek, die, dank des Stiefvaters Namen, als Bürofräulein Emmi Hering hieß, blieb gleichfalls krisenfest, trotz brüchiger Nähte. Fonty neigte dazu, über die zweite zu klagen, wenn die erste gemeint war, und doch lobte er in Briefen wie bei Archivbesuchen die mit Emilie ausgelebte Ehe als ein »alles in allem strapazierfähiges Bündnis«, das ihm und Emmi beispielhaft vorgeschrieben bleibe: »Wir sind zu verzwirnt, um auseinander zu können …« Im Grunde hing er an beiden Frauen, denn das gelegentliche Zetern der hugenottischen Emilie und der oberschlesischen Emmi war ihm zwar schrille, doch lebendige Musik. In einem Brief an Martha Wuttke, den er später, Wochen nach seiner Erkrankung, geschrieben hat, lesen wir: »Mama verfällt leicht in ein gewisses Irrereden, und wenn man ihr einen Kranz einflicht, so ist Ophelia oder ohne Kranz die Lady Macbeth fertig; zwei Stunden später futtert sie dann eine Schinkensemmel …« Und mit Zitaten dieser Art berief Fonty beide Ehen. Je länger sie dauerten, um so häufiger stand ihm aus doppelter Sicht, mal als Schrecknis, dann wieder als sauer verdiente Belobigung, die Goldene Hochzeit vor Augen. Selbst wenn er Ende der siebziger Jahre sein Eheleben als »unseren Dreißigjährigen Krieg« überschaut und mit wenigen Freunden abgefeiert hatte, hoffte er dennoch nicht auf Friedensschluß; auch bei den Wuttkes hing oft der Haussegen schief.
Sobald uns die historische Emilie auf Photos streng zugeknöpft entgegentritt, entspricht ihre steife Würde den Möglichkeiten damaliger Atelierphotographen, denen Momentaufnahmen nicht glücken wollten; aber Emmi wurde uns lebhafter und dergestalt leibhaftig bekannt, daß wir sie mit Schnappschüssen vorstellen könnten. Sie war eine gemütvoll leidende Person, die zur Fülle neigte – nein, sie war dick. Wenn die photographierte Emilie matronenhaft stattlich auftrat, kam uns Emmi, sobald wir die Wuttkes besuchten, überbordend entgegen: mal aufgekratzt, dann wieder als Trauerkloß. Meistens erlebten wir sie in kurzärmeliger Kittelschürze und in ausgetretenen Schlorren. Kaum hatten wir im dritten Stock geklingelt, stand sie in der Wohnungstür mit vor der Brust verschränkten Unterarmen: eine fleischige Bastion, die geduldig überredet werden wollte, was nicht schwerfiel, denn Emmi Wuttke sprach gerne mit uns über Unpäßlichkeiten, denen stets der Jammer über ihres Mannes kaum faßliche Existenz beigemischt war. Ob sie über Blasen- oder Atembeschwerden klagte, verläßlich beschloß sie ihren neuesten Leidensbericht mit dem Satz: »Aber mein Wuttke macht alles immer noch schlimmer.« Und doch wurde mit dem Gejammer der alten Frau die junge Emmi Hering wachgerufen. Laut leidend blühte sie auf. Das Bürofräulein muß hübsch, zumindest anziehend gewesen sein. Wir stellten uns ihr früh ergrautes, später leider blauschwarz gefärbtes Haar in naturwüchsiger Bräune vor; »kastanienbraun«, wie uns Fonty versichert hat. Wenn Erwin lachte, lachte in ihr versteckt noch immer ein junges Mädchen. Jedenfalls war zu ahnen, warum sich der Soldat Theo Wuttke im Frühling 194o in die knapp achtzehnjährige »flotte Tippse« verlieben konnte; und zwar Knall auf Fall. Wie wir wissen, geschah es im Paternoster. Später saßen sie, von Kurzurlaub zu Kurzurlaub, im frühlingshaften oder herbstlichen Tiergarten, bestimmt auf einer Bank der Rousseau-Insel gegenüber, und hinter ihnen blühte der Holunder oder war reif. Der Soldat erzählte Anekdoten aus dem besetzten Frankreich. Der Soldat lud das Mädchen zum Rudern ein. Auf dem großen Kunstsee nahe dem Zoogelände ruderten sie abwechselnd. Und schon bald, das hieß nach nächster Dienstreise, verlobten sie sich. Tante Pinchen, bei der Emmi wohnte, hatte nichts dagegen, wenn der junge und überdies unterhaltsame Soldat in der Weißenburger Straße, die schon wenige Jahre später Kollwitzstraße heißen sollte, ein und aus ging. Der Soldat brachte Geschenke mit: normannischen Apfelschnaps, Würste aus Lyon, Schafskäse aus den Cevennen, sogar Parfum und Brüsseler Spitzen. Der Soldat kam immer wieder, während von vielen Nachbarssöhnen nur noch die letzte Meldung nach Hause kam. Und als der Soldat Theo Wuttke im Spätsommer 45 als entlassener Kriegsgefangener heimkehrte, war er nur andeutungsweise erstaunt, als ihm seine Verlobte zur Begrüßung den Erstgeborenen in den Arm legte. Das Kind zahnte bereits; und bald lief der kleine Georg in der nur mäßig beschädigten Dreieinhalbzimmerwohnung, von der Tante Pinchen der jungen Familie eineinhalb Zimmer abgegeben hatte. Sie haben sogleich geheiratet. Der Soldat wurde Junglehrer. Und als im Jahr darauf, weil zum Hunger die große Kälte kam, Tante Pinchen starb, konnte ihnen das Wohnungsamt keinen Untermieter zwangsweise einquartieren, denn Emmi ging bereits im fünften Monat mit Theodor schwanger. Sie wollte noch mehr Kinder. Nach einer Fehlgeburt gelang ihnen der jüngste Sohn Friedrich, der Friedel gerufen wurde, wie alle Nachbarskinder im Haus und auf der Straße den zweitgeborenen Sohn Teddy, den erstgeborenen Schorsch riefen. Erst drei Jahre später, als der einstige Soldat nicht mehr Lehrer, sondern als Vortragsreisender unterwegs war, kam Martha und wurde vom Vater gleich nach der Geburt als Mete liebkost und später sogar in Briefen Mete genannt. Doch nicht die vielen Geburten haben Emmi fettleibig werden lassen. Auch war sie kein Vielfraß oder unmäßig auf Süßes versessen. Einzig Fonty soll schuld an ihrem Kummerspeck gewesen sein. Als wir es wagten, Zweifel zu äußern, lief ihr das Faß über: »Na, weil immer alles ganz unsicher mit ihm war. Weil er nachem Krieg, als er Lehrer konnt werden und nachem Schnellkurs gleich Anstellung für Deutsch und Geschichte fand, paar Jahre später schon, hier, inne Grundschule Senefelder, alles hingeschmissen hat, weil ’ ihm das stank, hat er gesagt: ›Dieser pädagogische Krempel.‹ Und weil danach auch nichts Richtiges aus ihm geworden is. Weil er immer nur ›freiberuflich‹ was sein wollte. Und weil er von Anfang an diesen Tick gehabt hat. Na, Sie wissen schon, was ich mein. Deshalb sind auch die Jungs weggeblieben alle drei. Unser Georg war ja schon siebzehn, aber Teddy und Friedel mal grad erst vierzehn und zwölf, richtige Kinder noch, als die bei seiner Schwester Lise alles ganz superdoll fanden in Hamburg. Na ja, gesorgt hat sie für die drei, da kann man nich meckern. Schule, Studium. Muß ganz schön was gekostet haben. Jedenfalls sind alle drei was geworden drüben. Und wenn unserm Georg nich, als er schon Fliegerhauptmann war, das mit dem Blinddarm passiert wär … Aber hier wurd es immer schlimmer für mich, weil ich meine Arbeit verlor und wir nich mal auf Besuch rüber durften, weil die Jungs … Republikflucht hieß das … Und weil denn die Krankheiten kamen, weil mein Gewicht und weil ich seitdem was an der Blase hab und weil mein Atem nich nur beim Treppensteigen … Das war schon schlimm genug. Aber mein Wuttke hat alles immer noch schlimmer gemacht. Na, weil nichts wurde aus ihm, kein Lehrer nich, beim Kulturbund rein gar nichts und im HdM … Nur Aktenbote ist er geworden …« Für die Last dieser umfänglichen Schuldzuweisung spricht, daß Fonty, sobald ihn Emmis Klagen aus dem Haus trieben, die Wünsche der historischen Emilie und geborenen Rouanet-Kummer herbeizitiert hat, wobei er auf eine Skizze zurückgriff, die unter der Überschrift »Wie sich meine Frau einen Beamten denkt« die mißliche Lage im Hausstand des Unsterblichen nach Punkten von eins bis zehn aufgezählt hat. Zum Beispiel hieß es: »Ein Beamter lebt lange. Solange er lebt, hat er ein auskömmliches Gehalt. Ist er krank, so wird er vertreten. Badereisen sind garantiert. Und Fehler sind gleichgültig, solange nach außen hin die eigene und des Standes Unfehlbarkeit gewahrt bleibt …« Ähnlich hätte Emmi Wuttke, wenngleich in anderer Tonlage, die Sicherheiten einer festen Anstellung weit oberhalb der Position eines Aktenboten aufzählen können. Auf ihr Drängen hin ist übrigens für Martha das Klavier angeschafft worden: »Wir hatten och ein Piano in unserer Villa in Oppeln …« Immer wieder hat sie ihrem Mann die hingeschmissene Pädagogik vorgehalten: »Mußte mein Wuttke denn, als er noch Lehrer war, zu allem, was damals politisch lief, unbedingt seinen Senf dazugeben?« Und nach der aufs Spiel gesetzten Karriere
- »Bestimmt wär mein Wuttke Schuldirektor geworden« – kamen alle verpaßten Gelegenheiten auf den Tisch, die sich ab Ende der sechziger und bis Mitte der siebziger Jahre ergeben hatten, als dem verdienten Kulturbundreisenden ein Posten als Kreissekretär angeboten wurde. »Aber mein Wuttke sagte jedesmal: Liegt mir nicht sowas. Immer am Schreibtisch sitzen und Berichte schreiben. Außerdem wollt er nich nach Pasewalk oder noch weiter weg, nach Sachsen runter womöglich. Doch als die Genossen ihm sogar Potsdam und Neuruppin, was ja ganz nah liegt, angeboten und richtig gedrängelt haben, hat er sich wieder alles politisch verdorben. Na, erstens hätt er in die Partei reingemußt, wollt aber nich, und achtundsechzig soll er auf Vortragsreise wegen dem Einmarsch der sozialistischen Bruderländer gestänkert haben. Aber sechsundsiebzig, als ihm der Kulturbundsekretär noch einmal auffem Tablett serviert wurde, hat er in aller Öffentlichkeit gesagt: ›Sänger muß man singen lassen.‹ Und dann noch eins draufgesetzt: ›Biermann hier ist besser als Biermann drüben.‹ Und hat dann alles hingeschmissen, ›den ganzen Kulturkrempel‹, hat er gesagt. So ist mein Wuttke nun mal. Muß immer alles noch schlimmer machen, so schlimm, daß er dann überhaupt nicht mehr reden gedurft hat, denn bei der Selbstkritik vorm Kulturbund, als die Genossen ihm eigentlich haben helfen gewollt, ist er dem Parteikollektiv ziemlich hochnäsig gekommen: ›Kreissekretär‹, hat er gesagt, ›ist nicht meine Sache. Bin nicht befähigt für eine solche Stellung, vielleicht für etwas Dienstliches überhaupt nicht. Nur noch freiberuflich will ich, als freier Mann reden …‹ Das reichte den Genossen natürlich. Und nur, weil er wieder mal Fürsprache gefunden hat, fragen Sie nich, von wem, ist mein Wuttke grad noch als Aktenbote untergekommen.«
Wir vom Archiv können Emmis Zitat als Zeugnis bescheiden auftrumpfenden Hochmuts bestätigen, denn gleichlautend hat der Unsterbliche seinen Posten als ständiger Sekretär der Preußischen Akademie der Künste niedergelegt. Drei Monate lang gehäufte Mißlichkeiten, Pannen und zänkisch ausgetragene Intrigen reichten aus, um die Kündigung des gut dotierten Amtes im Sommer 1876 zu begründen. Sogleich nach Ostern hatte er, auf Wunsch seiner Frau und weil Freunde ihn drängten – auch weil der Kaiser diese Berufung gebilligt hatte –, den Dienst angetreten. Später schrieb er: »War so ziemlich meine schlechteste Lebenszeit.
Nichts als Ärger, Kränkungen. Als es damit vorbei war, war ich bescheiden genug, die Schuld in mir selbst zu suchen. Ich denke jetzt aber anders darüber …« Und Emilie? Sie hat ihren amtsuntauglichen Mann, der sogleich nach dem Rücktritt wie befreit aufatmete und seinen ersten Roman »Vor dem Sturm« zügig zu Ende geschrieben hat und fortan, gänzlich unbeamtet, nur noch freier Schriftsteller sein wollte, weder die Kündigung bei der Kreuzzeitung noch dieses Hinschmeißen von Amt und Würde verziehen; wie Emmi Wuttke nicht aufhören konnte, ihrem Mann vorzuwerfen, er habe sich absichtlich um Kopf und Kragen geredet und sich politisch aufgespielt, nur um an den langweiligen Kulturbundsitzungen und der bloßen Schreibtischhockerei vorbeizukommen. Dabei sei ihm, wie immer schon, die Familie schnuppe und seine spezielle Freiheit heilig gewesen: »Na, dies ewige Rumzigeunern auf Vortragsreise. Aber damit war sowieso Schluß. Grad zum Aktenschleppen war er noch gut. Geschämt haben wir uns. Und Martha hat hinterher geweint, als sie Vater im HdM besucht hat, wo er immer schwerbeladen die Korridore lang von Zimmer zu Zimmer und mit dem ollen Paternoster rauf und runter mußte …« Soviel stimmt: Nie wieder durfte Fonty mit Standardvorträgen unterwegs sein, die er zum Ruhme des Unsterblichen zwischen Ostsee und Erzgebirge, Elbe und Oder gehalten hat. Doch schon der Vortragsreisende, der immerhin ausreichend für die Familie gesorgt hat, ist Emmi fragwürdig gewesen. Er mache sich vorm Publikum zum Gespött, warf sie ihm vor: »Die reißen Witze über dich, Fontywitze!«
Wir hätten widersprechen können; so schlimm war es nicht. Gewiß, man lächelte, wenn in einem seiner Vorträge alle Romane aus pflanzenkundlicher Sicht durchjätet wurden und, gleich nach dem Heliotrop, den Immortellen signalhafte Bedeutung zuwuchs; man vergnügte sich hinter vorgehaltener Hand, wenn seiner verblüffend genauen Zitierkunst ironische Anspielungen auf die sozialistische Gegenwart gelangen, etwa indem er Parteifunktionäre und Reisekader als typisch preußische Geheimräte und Reserveleutnants auftreten ließ; kopfschüttelnd, weil damals noch verblendet, hörten wir seine Thesen, nach denen die Zukunft des »vierten Standes« im Arbeiter- und Bauern-Staat zwar aufgehoben sei, doch weiterhin ungesichert bleibe; aber ausgelacht oder gar zynisch bewitzelt haben wir Fonty nie. Eher war es so, daß uns seine besessen vorgetragene Heiterkeit verlegen gemacht hat. Nie wußten wir genau, ob wir Zuschauer oder Komparsen einer Komödie waren, deren Autor gedoubelt zu sein schien. Fonty spielte mit uns, und weil dieses Spiel in oft trister Zeit Spaß machte, spielten wir selbst dann mit, wenn sein Vortrag über die reaktionäre Kreuzzeitung mit dem Titel »Wie man zum Wohle Preußens die eigene Meinung vermeidet« mehr als gewagt war, denn jedes Zitat ließ sich auf das Zentralorgan der Einheitspartei ummünzen, ohne daß Fonty Wortwörtliches aus dem staatstragenden Langweiler »Neues Deutschland« vorgetragen hätte. Nein, offene Provokation war nicht seine Sache und gleichfalls nicht Sache seiner dankbaren Zuhörer. Er zog Publikum an, indem er vieldeutig blieb, nur in Nebensätzen die Zeit schwinden und voraneilen ließ oder die »weißen Schimmel des sozialistischen Realismus« wie ein Zirkusdirektor durch die Manege trieb. Er machte sich mit dem Werk des Unsterblichen mehr plaudernd denn dozierend gemein, er bot Anlaß zum Lächeln und wurde uns dennoch nie lächerlich. Emmi Wuttke aber mußte diese Angleichung mit Sorge sehen. Je älter er wurde, um so detailgetreuer glich er dem Vorbild. Sie wagte das Fremdwort: »Er personifiziert sich schon wieder«; denn nie konnte sie sicher sein, beim Gespräch am Küchentisch ihren Wuttke zu hören, so geflissentlich Fonty seinerseits des Unsterblichen Hang unterdrückte, mit französischen Einschiebseln zu brillieren. Hinzu kam, daß Emmi immer häufiger Anstoß an seinem Äußeren nahm. Es stimmt schon: Er sah wie abgekupfert aus und hätte in Kino- und Fernsehfilmen, die übrigens in beiden Staaten produziert wurden, literarische Hauptfiguren darstellen können, so täuschend hatte er sich dem alten Briest, dem alten Stechlin und schließlich der weit älteren Originalvorlage genähert. Kein Wunder, daß Emmi klagte: »So redet doch mein Wuttke nich. ›Mit mir ist nich mehr viel los, Buschen‹, hat er neulich zu mir gesagt. Und wie er rumläuft. Immer den ollen Shawl rumgewürgt und mit Krückstock. Dazu die Haarflusen bis innen Nacken rein. Und dieser Hut! Is ja möglich, daß ihm der steht. Aber was heißt das, Bismarckhut? Is er nich. Nich Bismarck noch sonst wer. Is man bloß mein Wuttke, ein popliger Aktenbote, über den sich die Leute schieflachen.« Wir wissen von Fonty, daß er sogar die alltäglichen Abneigungen seiner Frau, ihren Ärger über Hut und »bismarckbraunen Überzieher« rückgewendet erinnert hat: »Meine Emilie sieht in mir einen vollkommenen Proletarier, der in einer Art Verkleidung herumgeht, und dann erwartet sie wieder eine Haltung von mir, als wäre ich aus einer unnatürlichen Kreuzung von Cato mit Goethe hervorgegangen …« Emmis Mängelliste war länger. Schon seine Vorträge waren ihr als »verquatschtes Zeug« zu zweideutig witzig gewesen. Sie könne das schließlich beurteilen, versicherte sie uns, denn ihr habe das schwer leserliche Bleistiftgekritzel jahrelang zur Abschrift vorgelegen: »Schon im Krieg seine ellenlangen Berichte aussem besetzten Frankreich. Die waren sogar lustig manchmal, über Kasinoabende in Schlössern und Luxushotels. Und nachem Krieg seine Vorträge alle. Fein säuberlich auf meiner alten Erika abgetippt alles. Gab ja nichts Neues. Hab mir viel später erst ne moderne von Robotron geleistet. Über Beziehungen. War ja Mangelware. Die hab ich heut noch. Dafür war ich gut. War immer nur seine Tippse. Aber gefallen, richtig gefallen hat mir das nich mehr, sein Gerede. Viel zu unwissenschaftlich, fand auch Martha, die ja jedes Buch von seinem Einundalles gelesen hat. Lauter Übertreibungen. ›Was soll das nu wieder?‹ hab ich oft genug zu meinem Wuttke gesagt. Weiß noch, muß Anfang Siebziger gewesen sein, als mal wieder ne Reinschrift fällig war. Wer soll das kapieren: ›Die Umschreibung sexueller Vorgänge als Feuersbrunst.‹ – ›Laß man, Emilie‹, hat er gesagt, ›das sind Feinheiten, die nicht dein Fall sind. Ich kenne das schon, und es schadet auch nicht viel. Ein Roman wie ’Unwiederbringlich’ verlangt ein freies Gemüt …‹ – ›Nein, Wuttke!‹ hab ich gesagt. ›Du spinnst dir wieder was Abartiges zusammen. Das ist dein Feuertick. Richtig Angst kann man kriegen, wenn man das liest: ’Liebesbrunst gleich Feuersbrunst’. Aber die Leute lachen darüber nur …‹« Ähnlich kritisch sah die geborene Emilie Rouanet-Kummer ihres Mannes literarische Produkte. Dem jungen Dramatiker Gerhart Hauptmann, zu dessen Theatererfolg der Unsterbliche mit vehementer Belobigung des Erstlings »Vor Sonnenaufgang« beigetragen hatte, soll sie inmitten Berliner Gesellschaft gestanden haben: »Er hält sich für einen Schriftsteller. Na, da glaub ich nicht dran. Dafür reicht es wohl nicht …« Aber auch sie hat jahrzehntelang alle bleistiftgefüllten Manuskriptblätter leserlich abgeschrieben, und ihr Urteil – »Emilie meint, ich schriebe bei Nicht-Stoff in der Regel besser als bei viel Stoff …« – fand sogar Gehör. Es muß wohl Liebe gewesen sein, die Emilie und Emmi ein Leben lang anhänglich bleiben ließ. Und beide Frauen haben ihr mangelndes Verständnis durch Fürsorge wettgemacht, wobei sie mit ihrer Besorgnis oft laut klagend Teilnahme suchten.
Emmi Wuttke ist sogar zu uns ins Archiv gekommen, um das eine oder andere Vortragsmanuskript ihres Mannes, wie sie sagte, »streng wissenschaftlich« überprüfen zu lassen. Davon durfte Fonty natürlich nichts wissen. Sie vertraute uns. Wir durften sie nicht enttäuschen. Wenn Emmi kam, saß sie ein wenig verlegen auf unserem Besuchersessel und blätterte abwartend in einem Bildband, der Photos von märkischen Landschaften und Sehenswürdigkeiten zu bieten hatte. Sie sah traurig aus in ihrer körperlichen Fülle. Doch selbst dann, wenn wir sie beruhigen konnten, weil noch der kühn verstiegenste Vortrag Fontys sich als zitatsicher und stichhaltig bis ins verborgenste Quellenmaterial erwies, war Sorge um Wuttke Ausdruck ihrer Leidensmiene. Übrigens sind zweifelhafte, auch uns irritierende Details durch spätere Manuskriptfunde bestätigt worden. Aus zufällig entdeckten Briefen, darunter einige an Mathilde von Rohr, hat er vorahnend zitiert. Selbst aus verschollenen Tagebüchern gab er uns triftige Hinweise. Im Zweifelsfall war Fonty das bessere, weil lückenlose Archiv. Und was er nicht wußte oder verdrängt hatte, das konnte Hoftaller ergänzen; dessen Besuche waren allerdings peinlich. Wenn Emmi Wuttke uns verließ, war trotz günstigen Gutachtens nichts geschehen, das ihre Stimmung hätte aufheitern können. Fonty wußte zu klagen, daß er »oft wochenlang unter ihm angetragener Mißlaune bei bösem Gesicht« hat leiden müssen. Sie konnte unausstehlich sein. Wie Emilie sah sich Emmi als »zurückgesetzte Kreuzträgerin«, und beide glaubten sich zu Besserem, für ein Leben in Glück und Wohlstand geboren. Nur soviel stimmt: Oft war es knapp, doch Hunger haben die eine, die andere Familie nicht leiden müssen. Sparsam mußte man sein und sogar die Manuskriptblätter doppelseitig benutzen; doch notfalls fand sich immer jemand, der aushalf, Freund Lepel oder die Merckels. Und später, als es ganz schlimm stand, weil die »Nervenpleite« die Wuttkes heimgesucht hatte, war – wie vormals Tallhover – als Hausfreund Hoftaller zur Stelle.
Sogleich ließ er Fonty krankschreiben. Er sorgte dafür, daß im Haus der Ministerien vom »beunruhigenden Zustand« des in allen Stockwerken beliebten Aktenboten die Rede war. Überall, genauer gesagt, im Ostteil der Stadt sprach sich die Nachricht von der Erkrankung herum. So hörten auch wir davon, wenngleich Potsdam weitab liegt. Hoftaller riet zum Besuch in allerdings kleiner Delegation nur. Zuallererst fiel auf, daß Fonty, den wir fiebrig unruhig erlebten, häufig mit dem Ringfinger seiner linken Hand spielte, nein, nicht eigentlich spielte, er zog bei geschlossenen Augen am Ehering. Dann lag er wieder apathisch in der engen Kammer, die mit Schreibtisch und überbordenden Bücherregalen als »Vaters Studierstube« galt. Sein Bett, in dem er nun am Ehering zerrte, stand seit Jahren hier. Weil ursächlich schuldig gesprochen, hatte Theo Wuttke, gleich nach der Flucht der Söhne in den Westen, das elterliche Schlafzimmer räumen müssen; nur noch für Emmi war das Ehebett breit. Die kleine Martha zog in das Zimmer der Jungs. Und in Georgs altertümlichem Bettgestell, dessen Pfosten mit Messingkugeln bestückt waren und das die Studierstube noch enger machte, lag seitdem Fonty, nun mit Nervenfieber, und versuchte so unablässig seinen Ringfinger zu entlasten, daß man nicht hinsehen mochte. Später wurden wir von Emmi Wuttke auf eine Tasse Kaffee in die sogenannte »Gute Stube« gebeten, in der Marthas seit ihren Mädchenjahren verstummtes Klavier stand, auf dem sie mit Stücken von Chopin und Schumann »gut draufgewesen« sein will. Mit dem Sofa, zwei Medaillonsesseln, einem zierlichen Schreibsekretär, auf dem, ganz unpassend, Emmis elektrische Schreibmaschine stand, und mit einem weißlackierten Pfeilerspiegel samt eingelegter Goldleiste möbliert, hätte das Wohnzimmer den Poggenpuhls – »arme adlige Majorin mit drei Töchtern« – als Salon dienen können; und wir vom Archiv nannten die gute Stube auch »Fontys Poggenpuhlschen Salon«, zumal gerahmte Stahlstiche an den Wänden hingen, die Preußens Geschichte mit militärischen Szenen bebilderten, unter ihnen, direkt überm Sofa, das Gemetzel von Großgörschen, bei dem der Rittmeister von Poggenpuhl zu Ruhm gekommen war. Oft genug, - hatten wir Fontys abgewandeltes Selbstzitat gehört: »So wohnen wir und geben der Welt den Beweis, daß man auch in ganz kleinen Verhältnissen, wenn man nur die rechte Gesinnung und dann freilich auch die nötige Geschicklichkeit mitbringe, zufrieden und beinahe standesgemäß leben könne …« Und nun lag er im Fieber und zerrte am Ehering, während wir aus Meißner Porzellan Kaffee tranken. Eigentlich hatten die beiden Frauen den Kranken im Salon betten wollen, doch bestand Fonty mit letzter Kraft auf dem Bett in seiner Studierstube. Sie pflegten ihn zu zweit, bis Martha gleichfalls krank wurde; wie die uns brieflich überlieferte Mete neigte sie dazu, ihres Vaters häufige Unpäßlichkeiten, seine sommerlichen Depressionen und nun sein Nervenfieber so mitfühlend zu erleiden, daß Emmi bald zwischen der väterlichen Kammer und dem Zimmer der Tochter hin und her eilte: Beide Krankenlager, zwischen denen die Küche lag, hielten die schwergewichtige und immerfort seufzende Frau in Trab. Redete hier aus immer neuen Fieberschüben ihr Wuttke »lauter krauses Zeug«, weinte dort die Tochter vor sich hin und wollte die bevorstehende Hochzeit absagen oder zumindest aufschieben: »Bin noch nicht soweit. Kann das nicht, ganz ohne Perspektive leben …« Kein Wunden daß sich Emmi, die mit uns im Poggenpuhlschen Salon am Kaffeetisch saß, als mit »doppeltem Kreuz beladen« verstand. Ihr Leben war ihr ein Opfergang. Entsprechend häufig kam sie, zwischen Kurzbesuchen bei den Kranken, auf ihr oberschlesisches Herkommen zurück. Das Elternhaus geriet ihr zu einer Villa mit sieben Zimmern. Wintergarten und Park, der Stiefvater zu einem vermögenden Getreidehändler und die Mutter zur hochmusikalischen Pastorentochter, die sich leider »als junges Ding« von einem Klavierlehrer habe verführen lassen. Wir hörten, daß Emmi Hering nach Abschluß ihrer Ausbildung als kaufmännische Büroangestellte den väterlichen Getreidehandel hätte übernehmen sollen. »Wenn nich der Krieg dazwischengekommen wär …« Sie fühlte sich vom Schicksal betrogen. Der Krieg hatte ihr nicht nur den karriereuntauglichen Theo Wuttke beschert, sondern auch gegen Ende die Eltern genommen; und von Verlusten sprach sie besonders gerne: »Können Sie glauben: Richtige Schicksalsschläge waren das. Zuerst ging in Oppeln alles futsch. Dann sind Papa und Mutti nach Breslau, was ja die Hölle war als Festung im Endkampf und so. Sind beide nich rausgekommen. Nichts is geblieben. Alles futsch. Die schöne Villa. Und hinterm Park vier Getreidesilos. Und drei Gespanne hatten wir für die Fuhren. Alles Kaltblüter. Und Mutti spielte jeden Tag Klavier, auffem Flügel natürlich, wie unsere Martha früher, als sie noch geübt hat jeden Tag, bis mein Wuttke gesagt hat: Das reicht. Ich war ja schon in Berlin, als der Krieg losging. Nein, bei uns haben sich die polnischen Arbeiter nich beklagen gemußt, später och nich, als wir zum Reich kamen. Und daß ich, weil ich auffem Lyzeum nich richtig mitkam, in die Bürolehre ging, war Papas Wunsch, weil in Berlin seine Schwester, Tante Pinchen, mit ihrem Ernst-August wohnte. Von wegen Schuhmachermeister, besoffen war der meistens schon gegen Mittag. Na, hat ja keiner gedacht, daß es so ausgeht. Immer mehr Bomben. Doch inner Reichsluftfahrt, wo ich gleich nacher Lehre Anstellung fand, war es ziemlich sicher im Keller. Da hab ich och meinen Wuttke getroffen, nee, nich im Keller, im Paternoster. War komisch. Richtig schüchtern war der, jedenfalls anfangs. Na klar, war Liebe auf ersten Blick, da fragt man nich viel. Und als es dann aus war und wir nischt mehr hatten, grad noch das Dach überm Kopf, da kam er zurück. Abgerissen und ausgehungert. Hat sich aber trotzdem bißchen gefreut über das Kind. War immer noch Liebe, och jetzt noch. Denn was wir durchgemacht haben die schlimmen Jahre lang, das haben wir gemeinsam, sowas verbindet. Aber erst mal, als er aussein Krieg kam, hat er sich hinlegen gemußt. Tante Pinchen hat ihn gepflegt, weil ich meist im Tiergarten mit dem Bollerwagen auf Holzsuche … War schlimm mit ihm. Nicht nur die Schwäche. Sowas wie jetzt hat er gehabt: richtiges Nervenfieber. Hat lang gedauert. Ich mußt ja auf Arbeit, zuerst Trümmer wegräumen, dann als Tippse beim Wohnungsamt. Mit der Reichsluftfahrt, wo ich bis zuletzt war, war es ja nu vorbei, aber die Wohnung hatten wir bald ganz für uns, weil sechsundvierzig in dem schlimmen Winter Tante Pinchen starb und ich wieder schwanger … Nach vorne raus warn da anfangs keine Fensterscheiben mehr, nur Pappe. Und undicht vom Dach war es och. Und in dem schlimmen Winter nischt zu heizen. Aber immerhin war es ne Bleibe, weshalb wir nich nachem Westen rübergemacht haben, wo erst in Hannover, dann in Hamburg die einzige Schwester von meinem Wuttke – ja, die hieß Lise Neiffert, ihr Mann is in Rußland geblieben – ne kleine Papierwarenhandlung betrieben hat. War ne kinderlose Ehe. Deshalb hat sie mir och nich die Jungs zurückgeschickt, als alle drei bei ihr auf Besuch warn und denn dablieben, weil hier die Mauer kam, und alles war dicht hinterher. Aber eins muß man ihr lassen, Lise hat gesorgt für die Jungs: Teddy is Beamter in Bonn, Ministerialrat … Friedel hat ne Buchhandelslehre gemacht und nennt sich in Wuppertal nu Verlagsleiter … Und unser Georg wär heute, wenn das mit dem Blinddarm nich passiert wär, bestimmt Major, wo er doch schon Anfang siebzig Starfighters ausgebildet hat und wir deshalb … Gott, was haben wir nich alles versucht: Briefe und Telegramme. Ich wollte rüber und die Jungs zurückholen, durft aber nich. All die schlimmen Jahre lang durft ich nich. Aber als das passierte, wurde mein Wuttke krank, auf der Stelle. Wieder mal Nervenfieber … Kein Arzt konnt helfen … Wurde schlimmer und schlimmer … Na ja, das kennen wir schon …«
Jedesmal wenn sich Fontys Lage zuspitzte, was zumeist vor dem Hintergrund einer politischen Krise der Fall war, wurde er krank oder rettete sich in Krankheit, wie Emmi Wuttke behauptete. So muß es gewesen sein, als er 51, gleich nach dem fünften Plenum des ZK, seine Stellung als Grundschullehrer verlor: wegen negativfeindlicher Äußerungen zur damals verordneten FormalismusDebatte; ähnlich reagierte er bald nach dem Arbeiteraufstand, als ihm sein Vortrag über die achtundvierziger Revolution, samt Titel »Gegen Demokraten helfen nur Soldaten«, zusammengestrichen wurde. »Vier Wochen lang war er uns bettlägerig«, sagte Emmi. »Und kaum war die Mauer da und die Jungs drüben im Westen, hat er sich wieder langgelegt. Wieder vier Wochen. Und immer waren die Nerven kaputt.« Gleichfalls nervenfiebrig legte er sich zu Bett, als er sich mit überspitzten politischen Nebenbemerkungen um die Position eines Kreissekretärs gebracht und dann den »Kulturkrempel« ganz und gar hingeschmissen hatte. Und wie er den Wechsel vom Vortragsreisenden zum Aktenboten bettlägerig überbrückt hat, so warf ihn nach jüngster Krise nicht nur die verpatzte Schottlandreise aufs Krankenlager, sondern auch der Zerfall des Arbeiter- und Bauern-Staates, an dem er hing, den er sich altpreußischer gewünscht hatte, dem er aber dennoch angehörte und dessen Geschichte vierzig Jahre lang seine Geschichte gewesen war, mitsamt gedoppeltem Vormärz, wiederholten Karlsbader Beschlüssen und anhaltenden Abhängigkeiten. Jedenfalls mischte sich all das in seinen Fieberphantasien. Mal lag er unruhig, dann wieder apathisch. Schubweise redete er vor sich hin oder verfiel atemlosem Schweigen; wie tot sah er aus. Emmi Wuttke konnte damit umgehen. Als sie uns nach dem Kaffeetrinken noch einmal ins Krankenzimmer ließ, sagte sie: »Na klar! Das war zuviel auf einmal. Erst heißt es, bald ist Schluß mit Aktenbote, weil nämlich die Einheit kommt und der Laden dichtgemacht wird sofort, und dann will er weg, einfach verduften, aber das klappt nich. Und nu liegt er lang und fummelt immer am Ring rum, aber kriegt den nich runter vom Finger. So is mein Wuttke nun mal, muß alles immer noch schlimmer machen …«
Während der Rückfahrt nach Potsdam erinnerte sich meine Kollegin an ein Briefzitat, nach dessen Wortlaut die historische Emilie im Jahr 1892 die schwere Erkrankung des Unsterblichen – laut Diagnose Gehirnanämie – beschwört und dem Sohn Friedrich berichtet: »Es ist nicht zu beschreiben, wie schwer es ist, mit dem armen Kranken zu leben, die Tage sowohl wie die Nächte. Wir erwarten den Arzt, der immer dringlicher von einer Nervenheilanstalt spricht. Papa, der erst damit einverstanden schien, zeigt jetzt ein rechtes Grauen, so daß ich nur in äußerster Not meine Einwilligung geben würde …«
Die Familie befürchtete geistige Umnachtung; wie Emmi Wuttke zu ihrer gleichfalls depressiv daniederliegenden Tochter gesagt hat: »Ihr endigt beide noch mal inner Klapsmühle, wenn ihr so weitermacht.« Und ähnliche Warnungen sprach Dr. Zöberlein aus, den man nach heftigen, von Schüttelfrost begleiteten Fieberanfällen aus der nahen Poliklinik gerufen hatte. Als Hausarzt waren Zöberlein die reizbaren Nerven des Kranken seit Jahren vertraut. Anfangs meinte er, die Krise mit stärkeren Medikamenten eindämmen zu können. Doch als Fonty aus nachgelebtem Haß auf alles, was nach Apotheke roch, jegliche Medizin verweigerte, riet er zur Überweisung in eine der Nervenkrankheit entsprechende Abteilung der Charité. Noch lieber wäre ihm das Forschungszentrum Buch gewesen, dessen Anstalt »sogar im Westen hohen wissenschaftlichen Ruf genießt«. Doch kaum war von »Anstalt« die Rede, rief Emmi: »Da kriegt ihr meinen Wuttke nich hin. Nur über meine Leiche!« Und wie nach vorgeschriebener Rolle reagierte Fonty auf den ärztlichen Rat: Beim nächsten Besuch sahen wir ihn zwischen Fieberschüben abgrundtief niedergeschlagen. Selbst am Ringfinger wollte er nicht mehr zerren; und was seinem von elendigen Müdigkeiten, gastritischen Störungen und dem Nervenfieber geplagten Vorgänger immerhin gelungen war, lange Abschiedsbriefe zu schreiben, schaffte er nicht. Der Unsterbliche hatte vom Krankenlager aus seinem Brieffreund Friedlaender geklagt: »Man ist eben das gelbe Blatt am Baum um die Zeit, wo der Spätherbst einsetzt. Die Gesamtstimmung ist freudlos und macht einen jede Stunde von der Mißlichkeit der Sache überzeugt. Unbegreiflich, daß wir das Wertlose für so wertvoll halten und uns sträuben gegen das Abschiednehmen von Tand und Flitter …« Dr. Zöberlein sagte, nun müsse die Selbstheilkraft helfen. Aus der Nachbarschaft kam Hilfe für Emmi. Inge Scherwinski, die als alleinerziehende Mutter dreier Gören zumindest am Vormittag Zeit fand, sprang ein. Als Martha Wuttkes Jugendfreundin aus gemeinsamen FDJ-Jahren kannte sie deren Anfälligkeiten. Ihre Diagnose hieß: »Dat is Migräne, da kann man nischt machen jegen, nur abwarten und bißken jut zureden.«
Also saß sie für ganze und halbe Stunden in Marthas abgedunkeltem Zimmer und plapperte von früher, von Ernteeinsätzen und Sommerlagern. Und da Inge Scherwinski gerne ihr feines Stimmchen zum Vortrag brachte, sang oder summte sie Martha mit Liedern in den Schlaf, die einst wachrütteln und den Aufbau des Sozialismus hatten fördern sollen. Emmi legte ihrem Mann weiterhin kalte Kompressen auf. Diesmal war sie besorgter als bei verjährten Hinfälligkeiten, selbst wenn sie nicht viel auf Fontys Fieberreden gab, die keine Zeitordnung kannten. War es soeben noch die verpatzte Schottlandreise, die ihn über Hochmoore oder von Schloßruine zu Schloßruine trieb, verärgerte ihn plötzlich und mitten im Satzgefälle eine mißglückte Sommerfrische im Riesengebirge, wo die Familie keinen Schlaf finden konnte: »Mete nicht wegen ihrer nervösen Angstzustände, die meinen nicht unähnlich sind, Emilie nicht wegen der ewigen Stürme …« Doch am ausgiebigsten sprach sich während der Fieberschübe die große Schreibkrise des Unsterblichen aus: das Innehalten inmitten der Arbeit an »Effi Briest«. Mit Frau und Tochter hatte er sich nach Zillerthal bei Schmiedeberg zurückgezogen, um dort stadtmüde, bereits angeschlagen, doch folgsam auf Rat des Familienarztes Dr. Delhaes »andere Luft« zu suchen. Vergeblich saß er über den letzten Kapiteln, zweifelte an jedem Wort, zweifelte an sich. Jemand riet, sich in Breslau einer neuen Methode, dem Elektroschock, anzuvertrauen. Auch diese Strapaze brachte nichts außer Kosten. Verzweiflung, die noch beim fiebrigen Fonty nachklang: »So nehme ich Abschied von Effi; es kommt nicht wieder, das letzte Aufflackern, was bleibt, ist ein zu weites Feld …« Man beschloß die Rückkehr nach Berlin, wo der Rat weiterer Ärzte eingeholt werden sollte. Schließlich ist es Dr. Delhaes gewesen., der, bei Verzicht auf jegliches Apothekenprodukt, den Fieberkranken wieder auf die Beine gebracht hat, indem er die an den Leiden der unglücklichen Effi entzündete Nervenkrise einfach wegredete: »Sind ja gar nicht krank! Ihnen fehlt nur die gewohnte Arbeit! Und wenn Sie sagen: ›Ich hab ein Brett vorm Kopf, die Puste ist mir ausgegangen, mit der Romanschreiberei ist es vorbei‹, nun, dann sage ich Ihnen: Wenn Sie wieder gesund werden wollen, dann schreiben Sie eben was anderes, zum Beispiel Ihre Lebenserinnerungen. Fangen Sie gleich morgen mit der Kinderzeit an!« Das half, wie wir wissen. Während der Niederschrift des Buches »Meine Kinderjahre« genas der Unsterbliche; und bald danach war »Effi Briest« fertig. Fonty jedoch wurde nicht durch ärztlichen Rat aus dem Bett gescheucht, auch Frau und Tochter konnten sein Fieber nicht vertreiben; als schließlich Emmi erschöpft nach Bettruhe verlangte, war es Hoftaller, dem die gesundmachende Idee kam.