7 Vorm Doppelgrab
Bis dahin ist es noch weit. Zwar mußte keine Sondergenehmigung mehr beantragt werden, um den seiner Lage wegen schwer zugänglichen Friedhof betreten zu dürfen, doch bis sich Fonty zum Besuch der Grabstelle entschloß, verging der Mai und wurde es Juni, hatte der Tiergarten Vorrang, saß er auf seiner Lieblingsbank, gefielen ihm Plauderstündchen mit Lebenden und Toten und redete ihm ein Wasservogel Reiserouten auf vorgeschriebenen Wegen ein. Warum nicht nach Frankreich? Hätte nicht die Gascogne Ziel sein können? Wir vom Archiv, denen die Schwankungen seines Fernwehs bis ins Wetterwendische in tausend Briefen belegt sind, mußten uns diese Fragen stellen. Warum mit allen Abtauchgedanken nach London und weiter weg über den Grenzfluß Tweed? Was zog ihn in schottische Hochmoore, auf Macbeths Hexenheide? Gaben seine von der Tiergartenbank aus laufenden Fluchtgedanken nur diese entlegene, vom Clanwesen abgesteckte Region frei? Hätte der Unterricht beim Haubentaucher nicht in eine aufgeklärtere Richtung weisen können? Wir blieben geteilter Meinung. Immerhin standen den gedruckten Erinnerungen an zwei Aufenthalte in England und dem damals noch ungedruckten Londoner Tagebuch andere, tiefer wurzelnde Bindungen entgegen: Die doppelt hugenottische Herkunft hätte ihn, der ja alles nachlebte, bestimmen müssen. Und selbst wenn man den familiären Hintergrund wegließe, wären sein Wälzer über den Deutsch-Französischen Krieg und das Büchlein über die Gefangenschaft genauso zwingend gewesen wie die Schottlandreise mit Bernhard von Lepel, wenngleich das Kriegsbuch weder bei Militärhistorikern noch beim Kaiser anerkennende Worte gefunden hat; und was die Erinnerungen an die Internierung in Frankreich betraf, hatte der Sohn George, der 70/71 als Hauptmann im Feld stand, sogar fehlenden Franzosenhaß angemahnt; in einem nörgelnden Brief beklagte er des Vaters Mangel an vaterländischen Gedanken. Dennoch, gerade weil er nahe den Kriegsschauplätzen, obzwar nie in Kämpfe verwickelt, in Gefangenschaft geraten war, sprach alles für Frankreich. Man hatte ihn, nach Zwischenstationen, auf der Insel Oléron interniert. Man hätte ihn standrechtlich erschießen können, was nach Kriegsrecht billig gewesen wäre. Jedenfalls haben ihm preußische Offiziere versichert, daß er im umgekehrten Fall, was heißen sollte, als Franzose in deutscher Hand, nicht mit Gnade hätte rechnen können; auch als harmlose, »nur schreibende Person« wäre er füsiliert worden. Außer einiger Dankbarkeit – schon nach zwei Monaten fand die Internierung des Unsterblichen ein Ende – hätte Fonty im Verlauf seiner nachgeordneten Existenz weitere Bindungen an Frankreich finden können. Wie wir wissen, war er bereits im übernächsten Krieg dort abermals als Berichterstatter tätig. Dem Gefreiten Wuttke ging in vier Jahren Etappendienst die Tinte nicht aus, so fleißig und rückbezüglich ist er sich vom Atlantikwall bis in die Cevennen hinein auf der Spur gewesen; und wir vom Archiv hätten dieses Material sammeln müssen, denn alle vom Reichsluftfahrtministerium freigegebenen Texte waren reich an Zitaten und schillernden Querverweisen – nicht nur die Kriegsbücher haben ihm Stichworte geliefert. Gleichfalls versäumten wir, uns über Lyon und jene angeblich folgenreiche Liebesaffäre kundig zu machen, die später wundersam aufleben und Fonty einholen sollte. Hoftaller ist zum Zeitpunkt nur mutmaßlicher Reiseziele oft mit Andeutungen »operativ« gewesen, und als er uns wieder einmal aufsuchte, um das Archiv durch bloße Anwesenheit zu irritieren, sagte er: »Ob Dresden oder Lyon, dem Apothekergehilfen entspricht der Luftwaffengefreite. Man könnte sogar von nein gewissen Schulterschluß sprechen, denn beide haben sich leichtsinniger betragen, als zu verantworten war. Aber ich merke schon: Hier ist man schnell dabei, alles mit Jugend zu entschuldigen.« Fontys nun häufig wiederholte Sentenz »Ich stehe auf dem Punkte, mich demnächst dünne zu machen« war, wie viele seiner Punktumsätze, ein Zitat mehr. Noch durften wir folgern, daß seine Sehnsucht in Richtung Cevennen ging, er hätte in den Schluchten der Ardèche untertauchen können; doch blieb er insgeheim auf England und die schottischen Hochmoore fixiert. Nichts konnte ihn vom Sprung über den Kanal abbringen. Er trug seinen Fluchtgedanken zum Arbeitsplatz, schwieg aber, wo immer er tätig war, ob im Paternoster oder beim Aufpolstern des Sofas. Die Lektion des Haubentauchers wurde als Geheimsache gehütet. Schweigsam erlebten ihn Frau und Tochter zu Haus. Als wir später im dritten Stock des Mietshauses in der Kollwitzstraße klingelten, sagten uns beide: »Wenn mein Wuttke mit mir redet, redet er nie über seine Sachen und so …« – »Ist doch nix Neues! Im Prinzip ist Vater immer schon unruhig gewesen. Und weil er nie Reisekader war, denkt er sich Reisen aus, mal hierhin, mal dahin.« Selbst Hoftaller, der lange vor uns Fontys nach auswärts gerichtete Absichten erahnt hatte, fand keinen Ansatz für ein abtastendes Verhör, so oft beide unterwegs waren; das Thema jener Tage - der bevorstehende große Geldumtausch – brachte nicht nur unser verzwirntes Gespann, sondern landesweit alle auf Trab.
Sie nannten ihre gemeinsamen Spaziergänge »Einkaufsbummel«. Kurz vor Herrschaftsbeginn des neuen Geldes war überall Ausverkauf angesagt. Produkte aus volkseigenen Betrieben gingen zu Schleuderpreisen vom Ladentisch. Am Tag des verheißenen Geldwunders sollten die Regale in allen HO- und Konsumläden, in jeder Kaufhalle leer sein, damit, anstelle der dürftigen und unansehnlich verpackten Ware, der Westen Platz für sein Angebot fände. Hoffnungen spitzten sich zu: Endlich werde lang entbehrter Konsum stattfinden können. Endlich dürfe der Kunde König sein. Doch so heiß ersehnt die neue Währung war, so bänglich sahen viele ihrer Härte entgegen. Noch blieb Zeit, sich billig mit unverderblichen Vorräten einzudecken. Außer Fonty und Hoftaller waren nicht nur vieltausend Ostberliner Aufkäufer mit Taschen und Beuteln unterwegs; auch Westberlin half, den Ramsch abzuräumen. Allen saß das alte Geld locker. Jeder griff zu. Und überall leerten sich die Regale.
Am Alexanderplatz kam Fonty billig zu einigen Packen Schreibpapier – garantiert holzfrei – und zu zwei Dutzend Bleistiften. In einem Spirituosengeschäft nahe dem RosaLuxemburg-Platz kaufte er günstig sieben Flaschen Weinbrand, die das Etikett der im Arbeiter- und BauernStaat für Qualität bekannten Brennerei VEB Wilthen trugen; deren Produkte waren während der zurückliegenden Jahre nur selten vorrätig gewesen. Außerdem bekam er zu Ausverkaufspreisen Haushaltsartikel für Frau und Tochter. Martha Wuttke, Mete genannt, wollte demnächst heiraten. Und weil ihr zukünftiger Mann aus dem Westen kam und als gutgestellt, wenn nicht vermögend galt, sollte sie nicht als arme Ostmaus, kenntlich durch magere Aussteuer, nach Münster in Westfalen ziehen. Dort betrieb der zukünftige Bräutigam Heinz-Martin Grundmann mit Kompagnon eine Baufirma, die schon seit Jahren in Ostblockländern tätig war, besonders erfolgreich in Bulgarien. Also kaufte Fonty ziemlich wahllos Bettwäsche, eine Suppenterrine »echt Meißner Porzellan«, Tischdecken, sogar ein Sortiment Nähgarn ein und überdies einen Mixquirl, hergestellt vom VEB Robotron. Gleichfalls sorgte er für seine Emmi mit Frottierhandtüchern und Toilettenseife; so unzureichend die Produktion der großen Textil-Kombinate früher gewesen war. Jetzt, gegen Schluß, bewiesen sie sich als lieferfähig. Schwer beladen kam Fonty nach Hause. Hoftaller half beim Schleppen. Dessen Schlußeinkäufe zielten auf anderes. Hier muß nachgetragen werden, daß der Tagundnachtschatten gelegentlich rauchte, nein, mit Sinn für Qualität ein Zigarrenraucher war. Das heißt, wir müssen uns Hoftaller bei Anlässen, von denen schon berichtet wurde, mit dickem Lungentorpedo und weißer, erst im letzten Moment lässig abgeklopfter Asche vorstellen. Ob längs der von pickenden Spechten besetzten Mauer oder nach dem Geburtstagsimbiß bei McDonald’s, überall, wo er mit Fonty unterwegs gewesen oder eingekehrt war, im Kreis der Talente vom Prenzlauer Berg oder auf einer Tiergartenbank, sogar im Haus der Ministerien hatte er seine immer kürzer werdenden Zigarren geraucht, sei es im Heizungskeller, sei es auf dem anfangs durchgesessenen, dann aufgepolsterten Sofa, das im Dachgeschoß stand und Platz für Raucher und Nichtraucher bot. All die Jahre im Staatsdienst bis hin zur angekündigten Währungsunion konnte sich Hoftaller aus hölzernen Kisten kubanischer Herkunft bedienen. Er wußte Quellen dieser exquisiten Ware aus dem sozialistischen Bruderland. Sogar in Mangelzeiten blieb er versorgt, und wann herrschte kein Mangel? Außer kubanischen Produkten rauchte er ab Mitte der achtziger Jahre Handgewickelte aus Nicaragua, die von besonderer Länge waren. Nie hat ihn jemand mit einer Brasil gesehen.
Wie schon Tallhover von seinem Biographen als Zigarilloraucher beschrieben wird, so können wir Hoftaller als Zigarrenraucher bestätigen: Wiederholt ist er mit Castros Markenzeichen ins Archiv gekommen, demonstrativ paffend, als wollte er uns die internationale Reichweite seiner Beziehungen beweisen. Soviel Qualm wäre dafür nicht nötig gewesen. Wir vermuteten ohnehin Dienstreisen, die ihn, wenn nicht ins kapitalistische, dann ins befreundete Ausland, warum nicht nach Kuba geführt hatten. Als sich einer unserer Kollegen im Gespräch mit ihm als gelegentlicher Konsument von Handgewickelten zu erkennen gab, spielte Hoftaller den Großzügigen; und selbstverständlich wagte es unser Kollege nicht, die Rarität auszuschlagen. Nun aber war die Zeit der Privilegien vorbei. Anlaß zur Sorge bestand. Demnächst sollte es mit den feinduftenden Kisten zu Ende gehen. Durch radikalen Währungsschnitt drohte eine Zulieferung gekappt zu werden, die vom freien Markt des Westens durch Handelsboykott verbannt war; kein Wunder, daß Hoftaller dieser Gefahr zuvorkommen wollte. Begleitet von Fonty, der seine Einkäufe Waschpulver und Sonnenblumenöl – hinter sich hatte, suchte er nahe dem Bahnhof Lichtenberg in der Weitlingstraße ein Tabakwarengeschäft auf, um dort letzte Bestände zu sichern. Fonty sprach später von einem Panikkauf. Als Nichtraucher stand er wie abwesend und mußte doch sehen, wie mit einem Bündel Ostgeld - er sagte: »Zwei satte Monatsgehälter« – der offenbar privat geführte Laden leergekauft wurde. Außer Rauchwaren gehörten Zeitungen, nun aus Gesamtberlin, zum Angebot. Hoftallers Ausbeute bestand aus drei Kisten »Romeo y Julieta« und zwei Kisten voller überlanger Zigarren der Marke ›Joya de Nicaragua«. Fonty kaufte die ihm seit Jahren gewohnte »Wochenpost« und den Westberliner »Tagesspiegel«. Während der Raucher zahlte und dabei ein feierliches Gesicht schnitt, las der Nichtraucher unter der Überschrift »Das neue Geld kommt über Nacht« die Ankündigung vom Ende der Ausverkaufswährung. Als Datum stand der 1. Juli fest. Ab Montag, dem 2., sollte nur noch die harte Mark Geltung haben. Zwar hatte der östliche Finanzminister, ein Sozialdemokrat namens Romberg, ängstlich Bedenken geäußert, doch dann tapfer den Staatsvertrag unterschrieben. Indem Fonty Einzelheiten überflog, machte er sich mit gestaffelten Umtauschsätzen vertraut. Schließlich mußte das dem Haubentaucher abgeguckte Prinzip finanziert werden. Er rechnete sich insgeheim sein Sparkassenguthaben aus und kam zu einem Ergebnis, das Hoffnung machte: Bis zum 1. Juli – Tag X genannt – blieb noch gut eine Woche Zeit.
Draußen war alles wieder normal. Die Weitlingstraße grau in grau, zwei alte Männer als Pflastertreter. Sie plauderten über ihre Einkäufe, bis sie im Innern des Bahnhofs vor einem Imbiß- und Getränkestand unschlüssig zögerten. Über Berlin-Lichtenberg lief Fernverkehr, zum Beispiel von Leipzig nach Stralsund und weiter nach Saßnitz auf Rügen, von wo aus die Fähre nach Schweden ging. Seiner Zigarrenvorräte sicher, lud Hoftaller zu Bockwurst und Bier ein. Er gab sich gutgelaunt und behauptete, glücklich zu sein. Sie standen an einem Tisch, dessen Platte von Mostrich- und Ketchupschlieren marmoriert war. Des frühsommerlichen Wetters wegen trugen beide weder Hut noch Mantel; allerdings hatte sich Hoftaller mit einer Neuanschaffung bedeckt: Die Kappe mit durchsichtigem Schirm war von amerikanischem Zuschnitt, desgleichen ein auf breiten Streifen geblümtes Hemd. Annähernd westlich gekleidet, gab er zu verstehen, daß es jetzt darauf ankommen werde, die Zeichen der neuen Zeit zu begreifen. Doch Theo Wuttke wollte Fonty sein: Auch sommers trug er den historischen Shawl doppelt um den Hals geschlungen; zudem zog es in der Bahnhofshalle.
Kaum war seine Bockwurst weg, holte Hoftaller wie zum Monolog aus. Das heißt, noch bevor er sich an einen Auf trag Tallhovers erinnerte, der einem verplombten Spezialzug von Zürich nach Saßnitz und dessen Mitreisenden galt, unter ihnen ein gewisser Lenin, der auf Wunsch der kaiserlichen Reichsregierung die Revolution nach Rußland bringen und so den Feind an der Ostfront schwächen sollte, griff er in seine Einkaufstüte und öffnete eine der Zigarrenkisten. Laut Tallhovers Biograph durchquerte der Sonderzug von Zürich über Gottmadingen kommend mit Zwischenhalt in Mannheim, Frankfurt und Berlin das Deutsche Reich. Das war im März 17. Umständlich und geheimniskrämerisch sperrte Hoftaller im Innern der Tüte die Kiste auf, kam endlich wieder hoch und stand nun kleinwüchsig mit einer Romeo y Julieta am Stehtisch. »Allerdings«, sagte er, »ist der Sonderzug nicht von hier aus, sondern vom Stettiner Bahnhof nach Saßnitz abgedampft.« Die Länge der Zigarre in Hoftallers Gesicht entsprach dem Schirm der Baseballkappe. »Jedenfalls fing alles, was hinterher kam, mit Lenins Durchreise an.« Das sagte er, als die Zigarre, kennerisch angezündet, schon zog und während Fonty immer noch von seiner Bockwurst abbiß, Häppchen nach Häppchen und jedes Häppchen in Mostrich getunkt. Und jetzt redete Hoftaller in den kurz innehaltenden, dann mit der Zugluft abziehenden Zigarrenrauch hinein: »Das kommt davon. Was jetzt passiert, hat immer noch mit damals zu tun: Lenin und die Folgen. Behaupte trotzdem: Ab 1. Juli sieht die Welt anders aus. Klar, unsere Produkte werden danach nur noch zum Wegschmeißen und unsere Betriebe das sein, was der Westen seit Monaten sagt: Schrott. Von Rostock bis KarlMarx-Stadt: ne einzige Schrotthalde. Doch dafür sind dann überall die Regale voll. Und zwar im Handumdrehen. Lauter Westzeug, prima verpackt. Und genauso schnell wird das Hartgeld, das wir ruckzuck eins zu eins und den dicken Rest später halbiert kriegen, wieder im Westen sein, wo es ja herkommt. ›Ein Schnäppchen machen‹ heißt das bei denen. Und mit der harten Mark kommen ne Menge Aufkäufer. Sind übrigens schon da, um sich Greifbares auszugucken. Na, Fonty, diese Sorte kennen Sie doch. Sind alle vom Stamme Nimm, Ihre Treibels und Konsorten. Die machen bei uns ihren Schnitt. Für all diese Raffkes ist das hier Niemandsland. Die sehen nur Baugrund. Hier ein Stück, da ein Stück raus. Filetstücke nennen die das. Am Potsdamer Platz schnibbeln sie jetzt schon rum. Nicht nur die Japse. Klar doch: Mercedes voran!« Inzwischen hatte Fonty seine Bockwurst erledigt. Sorgfältig wischte er sich mit der Papierserviette. Die im Bahnhof Lichtenberg herrschende Zugluft wühlte in seinen dünnen weißgrauen Haarsträhnen. Ohne Hut wirkte er älter. Nur seine Stimme blieb jung: »Kolossal ideologisches Gewäsch, was Sie da reden. Ausbeuterklasse, kennen wir doch diese Sprüche. Kapitalisten wollen uns plattmachen, oft gehört, nie geglaubt. Das sind nur Sie, Hoftaller, der hier mit dicker Zigarre den Teufel an die Wand schwatzt. Und alles, weil Sie und Ihre Genossen nichts mehr zu melden haben. Ist ja auch schlimm, was? Die Festung Normannenstraße gestürmt. Die Aktenschränke versiegelt. Das Staatswesen pleite. Und Ihr papierner Fleiß, all die jahrzehntelangen Schofelinskischaften der Firma Horch, Guck und Greif sind für die Katz gewesen. Da wird zwar noch ein bißchen geschnüffelt. Und was der Reißwolf nicht schafft, muß sonstwo und sei’s in einem abgewetzten Sofa verstaut werden, aber richtig operativ ist das nicht mehr, eher Zeitvertreib. Na ja, war behilflich dabei, sogar gerne. Bin ja froh, wenn das Giftzeug verschwindet. Doch nun ist Schluß damit, endgültig! Was ich im verflossenen November auf dem Alex gesagt habe, als da Hunderttausende standen, das gilt immer noch: ›Eine neue Zeit bricht an! Ich glaube, eine bessere und glücklichere! Und wenn nicht eine glücklichere, so doch mindestens eine Zeit mit mehr Sauerstoff in der Luft, eine Zeit, in der wir besser atmen können. Und je freier man atmet, je mehr lebt man!« Hoftaller deutete mit kurzfingrigen Händen Beifall an: Seine Zigarre gab Rauchsignale. »Kenn ich, Fonty. Originalton Pfarrer Lorenzen. ›Demokratische Weltanschauung‹, hat er der schönen Melusine vorgesäuselt. Daß ich nicht lache.
Ne Schummelpackung, nur neue gegen alte Zwänge
getauscht, das ist alles, was sicher sein wird …«
»Und doch kommt zuallererst einmal Freiheit. Rieche sie förmlich,
hat Raubtiergeruch. Gewiß, war schon immer gefährlich, und nichts
war mir lächerlicher als Liberale, diese ewigen Freiheitshuber.
Aber diesmal ist es anders. Mit der Freiheit wird’s offen nach
allen Seiten. Zweifelsohne: Die Welt lädt uns mit ihrem Lockfinger
ein. Die schreckliche und einengende Zeit der ausgewählten
Reisekader ist vorbei, die schöne Aussicht nicht mehr versperrt.
Jawoll, Herr Kriminalkommissar Tallhover! Jawoll, Hoftaller! Jetzt,
wo selbst Sie außer Dienst sein könnten, sollte Ihnen eine Reise,
weiß nicht, wohin, verlockend sein. Italien, Griechenland! Reisen
bildet! Was waren Sie eigentlich bis noch vor kurzem: Hauptmann?
Major?« So namentlich und über die Zeit hinweg angesprochen,
lächelte Fontys ausdauernder Tagundnachtschatten. Wunderbarerweise
zog seine Zigarre noch. Er nahm die Baseballkappe ab und wischte
sich mit dem Handrücken die Stirn. Man sah, daß ihm das Haar
streichholzlang um den Kopf stand, einst semmelblond, jetzt
steingrau. Hoftaller konnte gewinnend lächeln. Und seine Stimme kam
ohne Schärfe aus: »Aber, aber. Wer redet hier leichtfertig von
Dienstschluß. Glauben Sie mir: Für uns gibt’s kein Ende. Kaum
weggepustet, sind wir schon wieder da, und zwar vollgestopft mit
nein Wissen, das gut verpackt überwintern durfte. Ein Wissen
übrigens, das gefragt ist und seinen Preis hat. Schon jetzt klopft
Kundschaft an: Pullach, Köln, um nur naheliegende Adressen zu
nennen. Hab da ne Menge Kollegen, die wollen auf allerletzten
Wissensstand gebracht werden. Aber auch älteres Spezialwissen ist
gefragt. Und da die Dienste schon immer gesamtdeutsch geplant und
gehandelt haben, ist man gerne behilflich. Doch damit sind unsere
Möglichkeiten nicht erschöpft. Gerade Sie, mein lieber Wuttke,
sollten beim Ausdenken von Reisen vorsichtig sein. Selbst wenn es
Ihnen neuerdings gefällt, großartig Freiheit auszuposaunen, muß ich
daran erinnern, daß Ihnen unter diesem und jenem Namen Freiheit
schnurzpiepegal gewesen ist. Immer stand Preußen ganz oben, dann
kamen König und Junkertum. Jedenfalls solang Sie sich der
Kreuzzeitung, den Hesekiels und Merckels gegen miese Bezahlung
verschrieben hatten. Während der ziemlich stabilen fünfziger und
sechziger Jahre. Immer auf Linie, jawoll, und nur in Briefen
gemeckert. Genauso beim Kulturbund. Hand aufs Herz, Fonty! Wie bei
der Reichsluftfahrt die ›Volksgemeinschaft‹ haben Sie später die
›Arbeiter- und Bauern-Macht‹ in Großbuchstaben gefeiert. Und je
schneidiger sich der Sozialismus Ihrem geliebten Preußen anpaßte,
um so mehr war Ihnen Freiheit schnuppe. Hieß nicht einer Ihrer
Vorträge über den Wälzer ›Vor dem Sturm‹ geradezu anschmeißerisch
›Vom preußischen Landsturm zur Volksarmee‹?«
»Kolossaler Irrtum! Hieß zwar so, wurde aber verboten, nachdem ich
ihn zweimal gehalten hatte. Zu viel Scharnhorst und Gneisenau, zu
wenig Rote Armee …«
»Weil Ihre Thesen zu früh kamen. Mitte der sechziger Jahre mußte
das folgenlos bleiben. Doch keine zehn Jahre später lief alles im
Stechschritt auf Zack. Und nun soll auf einmal Freiheit das große
Rennen machen. Raus in die weite Welt! Dabei geht es nur um uns, um
Deutschland, die Einheit! Nur deshalb haben wir nachgeholfen und
die Genossen hier, die Herren drüben unter Zugzwang gesetzt. Wir
haben dafür gesorgt, daß in Leipzig und anderswo dieses kindische
Gegröle ›Wir sind das Volk‹ durch ein ausgetauschtes Wörtchen ne
Prise Pfeffer bekam: ›Wir sind ein Volk!‹ Jawoll, ein einziges. So
jedenfalls, mit Sprechchören, wurde Einheit diktiert, und die
kommt. Geht gar nicht anders. Aber zuerst kommt, weil es muß, das
Geld. Werden zahlen müssen, jahrelang zahlen müssen. Und wenn die
Herren von drüben vom Zahlen und Draufzahlen schwach sein werden,
wie unsere Genossen schwach, einfach zu schwach gewesen sind, dann
heben wir den Deckel und machen die Büchse, das große Faß auf. All
unser Wissen – und wir sind fleißig gewesen – wird über sie kommen.
Beim heiligen Mielke! Nichts soll umsonst gewesen sein. Und auch
Sie, mein lieber Fonty, sollen wissen, daß unsere operativen
Vorgänge nicht abgeschlossen sind. Ins Offene drängen die Akten in
ihrer Ordnung, wieder aufleben wollen sie und die von Ihnen so laut
berufene Freiheit genießen. Das wird ein Fest, ne gesamtdeutsche
Fete! Am Ende weiß jeder über jeden Bescheid. Wir nennen das:
offengelegte Einheit. Deutschland muß durchsichtig werden. Das gilt
auch für Sie, mein lieber Wuttke. Ist nix mit untertauchen und mal
kurz weg sein. Kennen wir doch seit Herweghs Zeiten, das
Haubentaucherprinzip!« Die Biergläser leer. Beide am Stehtisch in
zugiger Bahnhofshalle. Hoftallers Zigarre nun kalt. Die Abfahrt
eines Fernzugs über Stralsund nach Saßnitz wurde ausgerufen. Und
Fonty schwieg. Erst als sie auf dem U-Bahnsteig in Richtung
Alexanderplatz und Weiterfahrt zur Schönhauser Allee standen, sagte
Fonty, kurz bevor der Zug aus Richtung Marzahn einfuhr: »Das ist
alles furchtbar richtig. Aber was richtig ist, muß nicht wahr sein.
Die Wahrheit ist ein weites Feld.«
Dann griffen sie zu ihren Schlußverkaufstüten und stiegen ein:
Hoftaller nach Fonty.
Kurz danach kam er ins Archiv, natürlich wieder mit Blumen. Er
hatte keine besonderen Wünsche, wollte nur plaudern. Außer seinem
wiederholten Hinweis auf den Friedhof der französischen Domgemeinde
an der Pflugstraße, den zu besuchen er vorhatte – »Bin allerdings
auf touristisches Gerempel gefaßt« –, fiel nichts Besonderes auf;
wer hätte ahnen können, daß ihn zu uns wie zum Friedhof
Abschiedsgedanken geführt haben. »Habe heute meinen Zitiertag!«
rief er und begann sogleich, nach der »Rütli-Methode« einige
dazumal hochgeschätzte Kollegen niederzumachen: »Heyses Triumphe
sind immer noch mehr seiner Persönlichkeit als seinem Dichtertum
zuzuschreiben …« Und nach Storms »ewiger Husumerei« war Raabe dran:
»Er gehört zu der mir entsetzlichen deutschen Menschengruppe, die
mit allem unzufrieden sind, alles erbärmlich, verlogen und Quatsch
finden …« Dann machte er sich über Leserinnen, die typische
»marlittgesäugte Strickstrumpfdame aus Sachsen oder Thüringen«
lustig und leitete mit dem Ausruf: »Brachvogel ist Küchenlektüre!«
von der Ebbe deutscher Literatur zur Flut seiner englischen
Lieblingsautoren über, wobei er Walter Scott höher als Dickens
stellte. Nachdem wir uns des längeren über literarisch erzeugte
Sympathie für an sich verbrecherische Taten unterhalten und dabei
Thackerays »Catherine« mit des Unsterblichen »Grete Minde«
verglichen hatten, machte uns Fonty darauf aufmerksam, wie sehr der
Vorabdruck von Novellen und Romanen den Zwang zum spannenden
Kapitelschluß gefördert habe. Doch kaum hatte er durch Zitat
Tangermünde in Schutt und Asche gelegt – »Ein Feuermeer unten die
ganze Stadt; Vernichtung an allen Ecken und Enden, und dazwischen
ein Rennen und Schreien, und dann wieder die Stille des Todes …« –,
lachte er plötzlich und wechselte das Thema. Er wollte von uns
wissen, wie das Archiv nach der demnächst fälligen Währungsunion
finanziert werden könne. »Das kostet doch nur und bringt nichts
ein.« In unserer damals allgemeinen Ratlosigkeit stellten wir die
Gründung einer fördernden Gesellschaft in Aussicht und sagten, daß
es im Dezember, und zwar hier in Potsdam, zu einer Tagung kommen
werde und daß Frau Professor Jolles extra aus London anreisen
wolle, um den Festvortrag zu halten. Fonty gab zu verstehen, wie
sehr er die forschende Arbeit der alten Dame schätze; besonders
beispielhaft seien ihre Erkundungen der Englandaufenthalte: »Sie
weiß beinahe alles. Und vielleicht weiß sie sogar mehr, als sie
offengelegt hat …« Der Archivleiter gab zu verstehen, Charlotte
Jolles habe brieflich versprochen, beim Festvortrag unüberhörbar zu
Geldspenden aufzurufen. Und Fonty war mit einem Zitat gerüstet:
»Der eine hat den Beutel, der andere hat das Geld …« Nachdem er die
anfangs zu heftig ausgefallene Kollegenschelte zurückgenommen oder
relativiert, Heyses Sonette und Storms Lyrik gelobt, sogar
Brachvogel einen »guten Handwerker« genannt und sich für Raabes
bitteren, manchmal nur kauzigen Humor ausgesprochen hatte, ging er
und winkte von der Tür aus mit seinem leichten strohgelben
Sommerhut; den hatte ihm seine Tochter Martha vor Jahren von einer
Urlaubsreise an die bulgarische Schwarzmeerküste
mitgebracht.
Nicht nur uns machte das neue Geld Hoffnung und Sorgen zugleich.
Insgesamt ging es um Wünsche, die lange, vielleicht zu lange hatten
warten müssen. Beunruhigt war auch die Familie Wuttke und auf
besondere Weise Fonty, den sein Abtauchgedanke umtrieb; weil mit
dem damaligen Blechgeld dort, wo er hinwollte, nichts zu haben war,
setzte er kopfrechnend auf die neue Währung. Sein Hoffen klammerte
sich an den amtierenden Ministerpräsidenten des immer noch
existierenden Zweitstaates, eine zwar in der Öffentlichkeit
verdrückt wirkende, doch nach letzter Wahl durch westliche
Schubkraft gestützte Figur, die den aus Arbeiter- und
Bauernstaatsjahren hinterbliebenen Genossen Modrow abgelöst hatte.
Nun übte er landesweit und stellvertretend Zerknirschung und bewies
bis in den Namen hinein streng calvinistische Ausstrahlung. Deshalb
wurde Lothar de Maizière für Fonty zum Hoffnungsträger. Er mag sich
gesagt haben: Dem könne der Westen nicht, wie dem Vorgänger,
sozialistischen Eigensinn nachsagen. Der werde für neues und
härteres Geld sorgen. Dessen bewiesene Demut dürfe mit irdischem
Lohn rechnen. Nur mit seiner Hilfe könne, bei halbwegs günstigem
Umtausch, das Programm, hier untertauchen und anderswo auftauchen,
finanziert werden. Das Calvinistische habe schon immer dem Geld
nahegestanden; doch er habe diese Nähe zum Mammon nie ausleben
dürfen, so doppelt hugenottischer Herkunft der Unsterbliche gewesen
sei. Dem Archiv wurde versichert: »Zwar wird uns dieser de Maizière
verkaufen, doch nicht unter Preis.«
Solche Spekulationen mögen Fonty bewegt haben, als er im Norden
Berlins den Friedhof der französischreformierten Domgemeinde nahe
dem ehemaligen Grenzübergang Chausseestraße besuchte. Diese Anlage
und auch der Friedhofsanteil der katholischen St.Hedwigs-Gemeinde
grenzten zur Liesenstraße hin an den planierten Todesstreifen und
die umlaufende Mauer, weshalb der gesamte Friedhof ab 61 zum
Grenzbezirk erklärt worden war und bis 85 nur mit Sondergenehmigung
betreten werden durfte; ein Vorzug, den man selbst Fonty nur selten
bescheinigt hatte. Doch nun stand der Zugang Pflugstraße zu allen
Gräbern offen. Weil die U-Bahnlinie 6 noch nicht in Betrieb war,
kam er mit der Straßenbahn, deren Endstation »Stadion der
Weltjugend« hieß. Es war ihm gelungen, sich auf Zeit von seinem
Tagundnachtschatten zu lösen. Die restlichen Junitage standen
bevor. Das Wetter konnte als wechselhaft eingeschätzt werden,
meinte es aber gut mit dem Friedhofsbesucher. Im Sandboden der Wege
waren die Pfützen des letzten Regengusses versickert. Fonty kam
ohne Blumen. Seine früher so oft durch Behördenkram erschwerte
Anwesenheit mußte genügen. Des Geländes kundig, schritt er unter
leichtem Hut und mit Bambusstock an schlichten Grabmälern vorbei,
die sich im Gegensatz zur katholisch benachbarten Spruchfreudigkeit
einsilbig gaben: nur Daten und Namen wie Delorme, Charlet,
Marzellier. Kurz zögerte er vor einem hellroten Granitobelisken,
auf dem Keilschrift die Namen einiger im Krieg 70/71 für
Preußen-Deutschland gefallener Soldaten hugenottischer Herkunft
reihte: Reclam, Bonnin, Harnier, Hugo, Sarre … Und dann stand Fonty
vorm Grabstein jenes Mannes, dessen später Ruhm mit dem Begriff
Unsterblichkeit einherging und dem er bis ins Äußere nachlebte;
sogar des Vorläufers leicht herbeizuzitierende Nervenschwäche
brachte er mit, die allerdings durch Haltung wettgemacht wurde.
Genauer gesagt: er stand vor einem restaurierten Grabstein. Seit
Beginn des Jahrhunderts waren es zwei Efeuhügel und zwei schlichte,
oben flach abgerundete Granitsteine gewesen, die gegen Ende des
Zweiten Weltkriegs, als die Schlacht um Berlin keinen Flecken
aussparte, zerstört und beschädigt wurden: Eine Artilleriegranate
großdeutscher oder sowjetrussischer Herkunft zertrümmerte den
Granit des Unsterblichen ganz und brach dem Stein seiner Frau
Emilie ein Stück der Oberkante weg. Desgleichen wurden die um das
Doppelgrab gesetzten und mit einer Kette verbundenen gußeisernen
Pfosten umgelegt und später von Metalldieben abgeräumt. Der in den
Nachkriegsjahren aufgestellte Stein, vor dem Fonty mit leicht
zitterndem Schnauzbart stand und sich nun an den doppelten Granit
und die zwei Hügel erinnern mochte, war weniger schlicht, aber von
herkömmlicher Machart: Bis auf die Schriftfläche, die in der Tiefe
graugestockt alle erhaben stehenden Buchstaben und Zahlen betonte,
glänzte die Vorderseite des an den Rändern kunstvoll grob
gebrochenen Granits, mitsamt der Inschrift, auf Hochglanz poliert.
Ein hochkant stehender Stein, der die Anordnung der Namen
untereinander gebot. Über Emilie, der geborenen Rouanet-Kummer, die
am 18. Februar 1902 gestorben war, stand unter dem Namen und
Geburtsdatum des Unsterblichen dessen Todesdatum: der 20. September
1898. »Bald werden runde hundert Jahre zu feiern sein«, haben wir
oft genug Fonty und uns versichert. »Das Archiv bereitet sich jetzt
schon vor; dank kollektiver Bemühung soll etwas Besonderes zwischen
Buchdeckel kommen.« Mit gezogenem Hut stand er stumm vor dem Stein,
doch hätte sich seine innere Rede durchaus als halblautes Geplauder
mitteilen können. Zwei welke Kränze mit vom Wetter zermürbten
Kranzschleifen gaben Stichworte genug her. Beide Kränze erinnerten
an den letzten, den siebzigsten Geburtstag, den Fonty, wenn auch in
beklemmender Gesellschaft, bei McDonald’s gefeiert hatte. Auf der
Schleife des übrigens vom Archiv gestifteten Kranzes stand, immer
noch leserlich, daß der 30. Dezember 1989 »Dem großen Humanisten«
gewidmet sein solle; der andere Kranz kam vom Hugenottenmuseum.
Soviel Gedenken trotz unruhiger Zeit. Soviel Vorschuß auf weitere
Unsterblichkeit.
Fonty bewies sein Zahlengedächtnis. Da er allein stand und nur
entfernt einige Friedhofsbesucher mit Harke und Gießkännchen tätig
waren, lobte er laut des vierten französischen Heinrichs Edikt von
Nantes -»Das war anno 1598« –, um dann Brandenburgs Kurfürsten
Friedrich Wilhelm zu rühmen, der die Aufhebung des Edikts durch
Frankreichs vierzehnten Ludwig – »Das war anno 1685« – sogleich mit
einem Toleranzedikt beantwortet hatte. Mühelos konnte Fonty daraus
zitieren: »Unseren wegen der heiligen Evangelii und dessen reiner
Lehre angefochtenen und bedrängten Glaubens-Genossen mittels dieses
von Uns eigenhändig unterschriebenen Edicts eine sichere und freye
retraite in alle Unsere Lande und Provinzen in Gnaden zu offerieren
…« Er sagte noch weitere feierliche Versprechungen wie ein Gedicht
auf; und gar nicht verwunderlich ist es, daß Fonty zwischen den
fünftausend »réfugiés«, die sich infolge der angebotenen Toleranz
zwischen knapp zehntausend märkischen Berlinern ansiedelten,
direkte Vorfahren fand und herbeirief, unter ihnen einige der
Emilie RouanetKummer: »Ohne uns Kolonisten und, zugegeben, die
Schlacht von Fehrbellin, als die Schweden eins aufs Haupt bekamen,
wäre wohl nichts aus Preußen geworden. Habe deshalb immer das
hugenottische Herkommen gegen das dumpfe Borussentum gestellt. Will
davon nicht lassen. Meine Ahnenwiege hat im Languedoc und in der
Gascogne gestanden.
War doch der Vater ein Gascogner wie aus dem Buche: voll Bonhomie,
dabei Phantast … Wie man auch mir gelegentliche Gasconnaden
nachsagt: stets auf dem Sprung, über den Zaun und weg, abtauchen
einfach … Dabei nicht ohne Renommiergehabe, trotz leeren Beutels …
Jadoch, hier stehe ich vor diesem nachgemachten Stein, sehe
verwelkte Kränze und dauerhaft seßhaften Efeu, bin aber dennoch
reisefertig, weil ich die Gascogne im Rücken wie vor mir habe …
oder woanders hin: schottische Hochmoore, blauschwarze Seen,
jenseits des Tweed … Was Wunder, daß ich im Schreiben wie im Reden
ein Causeur, ein Plauderer höchsten Grades geblieben bin, so daß
mir bei meinen Vortragsreisen für den Kulturbund eine Gemeinde
geneigter Zuhörer sicher gewesen ist. Und schon als junger Dachs
und Luftwaffengefreiter habe ich in Domrémy vor hochrangigen
Offizieren aus dem Stegreif über Jeanne d’Arc und ihr literarisches
Fortleben plaudern können … Lächerlich deshalb und empörend zudem,
daß mich Julius Hart, einer dieser hyperklugen Kritiker der neuen
Schule, die sich jemanden auf die Nadel spießen, ihn betrachten und
dann niederschreiben, einen ›Stockphilister mit einem Ladestock im
Rücken‹ geschimpft hat. Mich, der ich mit Maria Stuart zu Bett
gegangen und mit Archibald Douglas aufgestanden bin, mich, den
meine eigenste französische Natur immer noch anstiftet … Die Labrys
aus meiner Mutter Familie hatten alle mit der Strumpfwirkerei, mit
Seidenraupenzucht, überhaupt mit Seide zu tun. Erst mein Großvater
Pierre Barthélemy brachte das Künstlerische ein und war sogar
Zeichenlehrer der Königskinder. Und später wurde er
Kabinettssekretär der Königin Luise, weshalb ich mir im Tiergarten
häufig eine Bank mit Blick auf ihr Denkmal suche. Alle meines
Namens gehörten der französischen Kolonie an, wie einige meiner
literarischen Weibsbilder: in ›Schach‹ Josephine von Carayon nebst
unansehnlicher Tochter. Und den Treibels gegenüber betont sogar
Corinna Hugenottisches, auch wenn sie Schmidt heißt. Übrigens war
Melanie van der Straaten schweizerisch-calvinistischer Herkunft,
suchte aber nur stimmungshalber Kirchen auf; wie ja auch mir, bei
aller Verpflichtung der Kolonie gegenüber, alles organisiert
Religiöse kolossal suspekt … Und mir zweifelsohne ein gewisses
Heidentum … Jedenfalls wurde zu Haus – was manchmal ein bißchen
albern war, fanden wir Kinder - unser Name immer mit Betonung der
ersten Silbe, bei Verschlucken des abschließenden e, und von Papa
sogar, besonders an Sonn- und Feiertagen, wenn Swinemündes
Honoratioren zu Besuch kamen, mit Nasallaut ausgesprochen. Dabei
hatte keiner, der zur Kolonie gehörte, etwas apart Pariserisches an
sich, vielmehr waren alle von puritanischer Statur, steif,
ernsthaft, ehrpusselig, na, wie diese Kirchenmaus de Maizière, ein
Kerlchen, das nun, so mickrig es guckt, Ministerpräsident geworden
ist, damit er, so rausgeputzt wie brav an der Leine gehalten, den
abgetakelten Arbeiter- und Bauern-Staat in die Einheit überführt.
›Soll keinem schlechter und einigen sogar besser gehen,‹, lispelt
er mit Leichenbittermiene. Kein Blechgeld mehr soll in den Taschen
scheppern, mit harten Silberlingen dürfen wir Sprünge machen,
nachdem uns das Reisefieber gepackt hat, Sprünge, wer weiß, wohin.
Jedenfalls guckt dieser de Maizière calvinistisch genug, um gut
fürs Pekuniäre zu sein. Und meine Emilie, die es immer schon mit
dem Rechnen hatte und selbst während der Sommerfrische den
Spargroschen hütete, hat beim Wählen das Kreuzchen prompt an der
richtigen Stelle … Während mir jeglicher Wahlkrempel … Aber das
kenn ich von Kindesbeinen an … Diese Sechserwirtschaft … Diese
Knapserei … Wurde anno sechsunddreißig im Mai, gleich nach Abgang
von der Gewerbeschule, in der französischreformierten Kirche in der
Klosterstraße eingesegnet und gleichfalls dort meiner Emilie nach
viel zu langer Verlobungszeit angetraut. Weil immer das Geld und
die feste Anstellung fehlte. Nein, war kein Kirchengänger, glaube
aber immer noch calvinistisch: Alles ist Gnade. Erziehung hin oder
her, ohne Gnadenwahl wird nichts. Wie schon mein sonst labiler Holk
in ›Unwiederbringlich‹ sagt: ›In diesem Stück, so gut lutherisch
ich sonst bin, steh ich zu Calvin!‹ Und genau das wird unser de
Maizière sagen, wenn er in Bonn antanzen und sich in all seiner
Armseligkeit neben die dröhnend regierende Masse stellen muß. Man
hat es oder hat es nicht, nämlich das Geld wie die Gnade, von denen
ich mir, wenn’s denn zum Umtausch kommt, eine kleine größere Reise
verspreche: Weiß schon, wohin … Will wegtauchen, auch wenn sich
Emilie wieder zu Tränen versteigt und Metes schwache Nerven, die
sie von mir hat … Doch ohne Abschiedsepistel wird schlecht reisen
sein … Muß ja nicht alles aufs Papier … Jedenfalls ist Brief
hinterlassen besser als vorher lange reden …« Dann stand Theo
Wuttke, den alle Fonty nannten, nur noch stumm vor dem Doppelgrab,
dessen Einfassung kürzlich mit einem Sandsteinsockel und
umlaufendem Eisengestänge aufgebessert worden war. Links und rechts
vorm Stein standen je eine frischgepflanzte Eibe. Und genauso
schlicht wie der Stein des Unsterblichen und seiner Emilie sagten
beiderseits die Anschlußgräber ihre Namen auf: Links ruhte ohne
Spruch Gerhard Baillieu; unterm rechten Stein lag Georg MindePouet.
Viel aufwendiger wirkte in der davorliegenden Grabreihe ein
mannshoher Obelisk, auf dessen polierter Fläche dankbare Schüler
ihres Lehrers A.
F. Arends und der nach ihm benannten Stenographiemethode gedachten;
sogar ein stenographisches Kürzel stand dem Stein
eingemeißelt.
Fonty blickte über die Gräber hinweg. Hinter einem nach Westen hin
abgrenzenden Eisenzaun war auf wüstem Gelände noch immer der
Todesstreifen, die Mauer zu ahnen. Eine Gedankenflucht lang standen
ihm rückläufig datierte Friedhofsbesuche vor Augen. Damals, als er
mit Sondergenehmigung und gestempelter Grabkarte hier gestanden
hatte, als bei der Bahnbrücke noch der Wachturm ragte, als
Doppelposten die Friedhofsruhe bewachten und auf Flüchtende scharf
geschossen wurde, als das Grab des Unsterblichen nur selten Besuch
erlebte, als Ost und West sich mittels Lautsprechern bekriegten,
als drüben Feindesland war.
Wir vom Archiv könnten aus eigener Erfahrung ergänzen, denn auch
wir mußten zum Alexanderplatz und beim Magistrat von Groß-Berlin,
Abteilung Inneres Abteilung Kirchenfragen, immer aufs neue Anträge
auf Grabkarten stellen. Eigentlich waren nur Verwandte ersten
Grades auf Friedhöfen im Grenzgebiet zugelassen. Doch wie Fonty,
dank Fürsprache seiner Bezugsperson, Sondererlaubnis erhielt, stand
dem Archiv jeweils an Geburtstagen und zum Todesdatum der Friedhof
der französischen Domgemeinde offen. Gleichfalls könnten wir Fontys
Selbstrede vorm Doppelgrab mit Einschüben anreichern, etwa durch
Hinweise auf den Alexis-Aufsatz des Unsterblichen, in dem das
Hugenottische in aller Breite Zitate hergibt; doch Theo Wuttke
blieb nicht lange genug. Mit seiner Rede fertig, wandte er sich ab
und ging, nun wieder mit Hut, auf Sandwegen an den gereihten
Gräbern vorbei. In straffer Haltung und ohne Umweg überquerte er
den angrenzenden katholischen Friedhof der St.-Hedwigs-Gemeinde,
hatte keinen Blick für dessen noch immer von einem intakten Stück
Mauer begrenzte Flanke, übersah die Reihe namenloser Nonnengräber,
war schließlich in Eile und wie auf der Flucht, denn inzwischen
hatte es sommerlich warm zu regnen begonnen. Gut, daß am
Friedhofseingang Pflugstraße jemand mit aufgeklapptem Regenschirm
auf ihn wartete. Wie nach Absprache war Hoftaller zur Stelle. Er
sagte: »Wollte nicht stören. Und zwar der Gedanken wegen, die man
sich auf Friedhöfen macht. Kenne das. Ne kurze Besinnung ist ab und
zu fällig. Zumindest vor Gräbern will man für sich sein.« Dann nahm
er Fonty unter den Schirm, der weit genug für beide spannte.
Zwischen Mietshäusern, denen der Putz wie eine gelbgraue Uniform
angepaßt war, gingen sie unter schräg einfallender Regenschraffur
in Richtung Schwartzkopffstraße. Deren Verlauf war linker Hand noch
immer gesperrt: Nur eine westliche Kirchturmspitze überragte das
vergessene oder für Filmzwecke konservierte Stück Mauer. Doch zur
Chausseestraße hin stand alles offen. Nach Süden, wo keine
Regenwolken den Himmel über der Stadt niedrig machten, wuchs ein
hoher Schornstein, der von einem Fernheizwerk gefüttert wurde und
mit weißem Rauch die sommerliche Bläue wattierte. In
perspektivischem Verlauf rahmten Mietshauskasernen einen
Bildausschnitt, zu dem im Vordergrund die an der Endstation
stehende Straßenbahn gehörte. Unter dem Schirm gingen die beiden
Männer auf das himmelhohe Rauchsignal zu. Dann stiegen sie in die
Straßenbahn, denn die Linie U6, die heutzutage zwischen Alt-Tegel
und Alt-Mariendorf verkehrt, wurde erst gegen Ende des
Einheitsjahres in Betrieb genommen.