11 Mit gespitztem Blei
Ihre Stimmen entflechten, geduldig das überlappte Gerede aufdröseln – oft hörten wir Mutter und Tochter zugleich. In der Küche standen sie, eine gepaarte Front. Beide Frauen verschränkten in Abwehr die Arme vor oder unter der Brust. Nur an günstigen Tagen wurden wir in die gute Stube, den Poggenpuhlschen Salon, gebeten. Doch in der Küche wie im Salon kam für Besuch Kaffee auf den Tisch. Manchmal gab es Streuselkuchen oder Bienenstich dazu. Die Frauen auf dem Sofa unter der gerahmten Schlacht von Großgörschen, wir in den Medaillonsesseln. Auch hier saßen sie mit verschränkten Armen. Inmitten der Sitzgruppe ein runder, einbeiniger Tisch, auf dessen Zierdecke außer dem Kaffeegeschirr eine Schale aus Karlovy Vary voller schrumpliger Äpfel stand und an eine lange zurückliegende Reise nach Karlsbad erinnern sollte. Bei jedem Besuch mißtrauten uns Mutter und Tochter ein Weilchen. Beide hielten sich wortkarg, bis sie dann doch, weil wir geduldig blieben, zu reden begannen. Das war kein Plaudern, wie es Fonty liebte, mehr ein sich in Schüben befreiender Stau von Sätzen, Halbsätzen und vergrabenem Wortmüll, der plötzlich zutage trat. Sie redeten vor sich hin, unterbrachen, widersprachen sich: ein auf Dauer abgestimmtes Duett. Wir durften Stichworte geben. Das Sommerlaub der Kastanie ließ dem Salon, dessen Fenster zum Hinterhof schaute, nur wenig gefiltertes Licht. Dämmerung schonte die Frauen, die, fettleibig die eine, hager die andere, von all den schweren Jahren – »Na, als es hier schlimmer und schlimmer wurde« – geprägt waren: grämlich und verhärtet.
Man mochte nicht zusehen, wenn sie sich aussprachen, und gleichfalls redeten Emmi und Martha an uns vorbei; nur selten hatten das Archiv und die Wuttkes einander im Blick. Mein Kollege suchte zumeist den brüchig gerahmten Großgörschenstich nach entsetzlichen Szenen und heroischen Details ab, mein Augenmerk glitt immer wieder zum Pfeilerspiegel, einem Möbel, das in fast allen Romanen Blickfang ist und »Truineau« genannt wird. Zu den Vorlieben des Unsterblichen gehörte der von französischen Brocken und Floskeln durchsetzte Salonton, dem heute in allen Werkausgaben erklärende Fußnoten behilflich sein müssen; und wie zwangsläufig war von seinen Marotten die Rede, wenngleich es im Poggenpuhlschen Salon vordergründig um Theo Wuttke ging: »Im Prinzip lebt Vater alles noch mal durch, was längst schon verschütt ist …«
»Man denkt, draußen kutschieren se noch mit ner Pferdebahn. Und nur Petroleumfunzeln gibt’s, kein bißchen Elektrisch …«
»Als er noch fiebrig geredet hat, kamen bloß olle Kamellen hoch, na, seine Effi und ihre Briefe, und wie sich der olle Briest rausredet jedesmal, wenn’s knifflig wird …«
»So ist mein Wuttke. Wie sein Einundalles, genau, nie festzunageln, flutscht einem glatt weg …«
Da die Tochter rauchte, durften auch wir rauchen. Ähnlich waren die Frauen sich nur in ihren Dauerwellenfrisuren, die ein und denselben Friseur zum Urheber haben mochten. Gleichfalls familiär mutete ihre abwehrende Armhaltung an, die sie erst spät, doch nie ganz aufgaben. Schließlich redeten beide hemmungslos: »Man traut sich ja nich, muß aber endlich mal gesagt werden, daß man sich schämen gemußt hat, wenn unser Friedel uns Päckchen geschickt hat mit Schokoriegeln, Zahnpasta, Eiershampoo und sonst was drin, und wir nich mal danken durften. Überhaupt keine Briefe nich, nur heimlich …«
»Na, weil das Westkontakt und verboten war, weil nämlich die Sicherheit Vater als Geheimnisträger eingestuft hatte, schon immer, nicht nur als Aktenbote …«
Wir blieben eine gute Stunde. Im Hintergrund des Salons dunkelte das seit Jahren stumme Klavier, auf dessen Notenbrettchen unverrückt etwas von Chopin aufgeschlagen stand. Das war zu Beginn der Phase von Fontys Genesung, einige Wochen vor Marthas Hochzeit mit Heinz-Martin Grundmann. Natürlich wurde über die bevorstehende Eheschließung gesprochen, ohne daß wir viel fragen mußten.
Martha sagte: »Wir sind beide nicht mehr die jüngsten und haben uns das nun lang genug überlegt.« Doch dann tippten wir Probleme an, die die Wuttkes mit Fontys Tagundnachtschatten hatten.
»Nee, der kam uns nich inne Wohnung. Jedenfalls anfangs nich. Nur als es schlimmer und schlimmer wurd …«
»Ne Ausnahme gab’s erst mal nur für Sie, na, weil Sie vom Archiv sind. Außerdem wär zuviel Krankenbesuch für Vater bestimmt zu anstrengend gewesen.«
»Weil unsre Martha och noch bettlägrig wurd. Das war schon immer so, wenn mein Wuttke schlappmachte, dann sie gleich mit …«
»Hab aber trotzdem gehört, wie er dich weichgekriegt hat …«
»Jeden zweiten Tag geklingelt, richtig unverschämt. Was wollt der überhaupt? Aber nich mal inne Küche hab ich ihn reingelassen …«
»Was der gewollt hat? Na horchen, gucken.
Weshalb ich gerufen hab: ›Laß den bloß nicht rein,
Mutter!‹«
»Is ne alte Geschichte. Die kennen sich beide nämlich schon lang.
Weiß nich, ab wann genau. Mein Wuttke läßt da nix raus, und ich
frag nich viel …«
»Jedenfalls waren die schon Kumpels im Krieg, als Vater, der ja nie
richtig an die Front kam, sein Zeug geschrieben hat, aussem
Generalgouvernement, aus Dänemark auch, aber meistens aussem
besetzten Frankreich. Genau! Sie sagen es. ›Historische Rückblicke‹
hat er das genannt. Muß ziemlich mies gewesen sein, nicht richtig
faschistisch, aber Propaganda war das schon, daß man sich immer
noch schämen muß. Fragen Sie Mama, die weiß da mehr …«
»Achgottchen, blutjung waren wir und hatten von nichts ne Ahnung,
von dem Schlimmen, das hinterher rauskam, daß ich mich heut noch
schäm. Doch als ich gleich nach meiner Lehre zur Reichsluftfahrt
kam und bei Major Schnöttker im Vorzimmer saß, hab ich andre Sachen
im Kopp gehabt, weil ich verliebt war in meinen Wuttke. Den hätten
Sie sehn solln: So schmal war der. Jedenfalls haben wir uns
heimlich verlobt. Nur Tante Pinchen wußte. In Oppeln hatten die
keinen Schimmer. War ja grad neunzehn erst. Und gefeiert haben wir
im Café Schilling am Tauentzien.«
»Typisch! Mama will wieder mal nix von dem Kerl sagen, der damals
schon seine Finger überall drin und Vater kein bißchen Ruhe gegönnt
hat …«
»So schlimm war es nun och wieder nich. Und außerdem hat mein
Wuttke immer gewußt, wie man dem aus dem Weg geht, wenn er auf
Urlaub kam und wir es schön hatten und ausgingen, ›Haus Vaterland‹
und so. Aber das Schönste waren seine Briefe. Sind leider verbrannt
alle, weil ich die, als hier immer mehr Bomben, sicherheitshalber
nach Dresden zu meiner Freundin Erika geschickt hab, an die hundert
Briefe in zwei Paketen … Alle futsch, weil bei dem Feuersturm … Und
alle Straßen voll Flüchtlinge aus Schlesien … Jedenfalls hat mein
Wuttke, wenn er schrieb, immer Gedichte reingelegt, eigne und
fremde. Wußt aber nie genau, was von ihm is, was nich. Waren
gereimt alle … Eins hieß, weiß ich noch: ›Beim Rudern‹ … Was aber
den Kerl angeht, na, sein Beschatter, der konnt manchmal richtig
unheimlich werden …«
»Genau! Schon als Kind hab ich das mitgekriegt, wenn ich mit Vater
auf Vortragsreise war, in Potsdam, Cottbus, sogar in Neuruppin. Da
tauchte der immer auf Hab aber nix kapiert im Prinzip und ihm
sogar, dußlig, wie ich war, Berichte geschrieben, na, wissen Sie
Ja, wie Schulaufsätze, über alles, was hinterher bei Kaffee und
Kuchen beim Kreissekretär geredet wurde. ›Wachsam sein!‹ hieß das
bei den jungen Pionieren. ›Der Klassenfeind schläft nicht!‹ War
alles harmlos, was ich geschrieben hab, schäm mich aber trotzdem.
Stoppelkopp hab ich ihn genannt, und Vater hat gelacht dazu
…«
»So lief der schon damals bei der Reichsluftfahrt rum: Haare auf
Streichholzlänge. Hat sich überhaupt nich verändert seitdem. Hieß
aber anders …«
»Und konnt wegen nix lächeln, immer schon …«
»Wir ahnten natürlich, och Major Schnöttker, daß der irgendwie zum
Prinz-Albrecht-Palais gehörte …«
»Paß bloß auf, hab ich später zu Vater gesagt. Wenn du nicht
aufpaßt, hat der dich bald am Haken. Das roch man doch, daß dem
seine Adresse Normannenstraße hieß. War sogar mir klar, selbst wenn
ich ab Mitte Siebziger Genossin gewesen bin und mich geschämt hab
vorm Parteikollektiv, wo ich hinzitiert wurde, weil Vater wegen dem
Schreihals, der hier nicht singen durfte, ne Lippe riskiert hat und
dann später keine Vorträge mehr, nur als Aktenbote noch
…«
»Ach, wissen Se, unsre Martha war einfach verblendet, wie man heut
sagt. Aber mein Wuttke, der hat gewußt und trotzdem mit seinem
Geläster immer alles noch schlimmer gemacht. Deshalb wurd er den
Kerl nich los, bis heut nich. Is richtig abhängig geworden, wegen
Gefälligkeiten von früher. Denn paarmal hat er geholfen, wenn es
ganz schlimm wurd. Aber genau weiß man nich: Schützt er ihn, oder
legt er ihn rein …«
»… weil Vater darüber kein Wort sagt. Und wenn er was rausläßt,
dann um drei Ecken rum, na, Sie kennen das ja: achtundvierziger
Revolution, die Märzgefallenen … Und immer so, als ob er auf
Barrikaden mit ner Flinte dabeigewesen ist. Alles reine Phantasie,
aber Mama, die ihn gepflegt hat, als er mit Fieber lag, glaubt
manchmal selber …«
»Das hätten Se hören und mitschreiben sollen, was mein Wuttke
geredet hat, alles durcheinander, nich nur Revolution, wo er
Glockenläuten gewollt hat, och sein Gerede mit lauter Figuren von
anno dazumal. Immer direkt, als hätt er diesen Friedlaender oder ne
andre wildfremde Person bei sich auf der Bettkante gehabt: ›Mein
lieber Lepel!‹ Den hat er anpumpen gewollt, und zwar um zweihundert
Taler, als wenn Kaiser Wilhelm noch immer das Sagen hätt. Und
manchmal tut er so, als ob die Straßen und Schulen nich nach seinem
Einundalles, sondern nach ihm benannt sind, daß man denkt, er tickt
nich richtig und muß inne Anstalt …«
»Hör damit bloß auf, Mutter! Sonst passiert noch was …«
»Ich sag nur, was is. Denn angefangen hat alles schon früher. Als
Soldat noch nich und gleich nachem Krieg och nich, erst beim
Kulturbund is er durchgedreht völlig …«
»Mama regt sich auf darüber, ich nicht. Tut ja niemand weh.
Geklatscht haben die Leute, wenn er auf Vortrag war. War dabei, oft
genug. Und hab als Kind dicke angegeben, weil sie Vater als
Kulturaktivist mit ner Ehrennadel dekoriert haben und er mit Bild
inner Zeitung stand. Und im Prinzip wär das vielleicht auszuhalten
gewesen, wenn nicht dieser Stoppelkopp …«
»›Mein altvertrauter Kumpan!‹, wie mein Wuttke zu dem Stinktier
sagt …«
»Der läßt sich nicht abwimmeln, der kommt immer wieder. ›Genossin‹,
hat er gesagt und dabei gegrinst. ›Sie wollen mir doch nicht etwa
grundsätzlich einen Besuch bei meinem kranken Freund ausschlagen?
Das hätte Konsequenzen, Genossin! Ich meine, so kurz vor der
Hochzeit. Sie wissen ja, wir können auch anders. Ein Blick in Ihre
Kaderakte, Genossin …‹«
»Dabei is unsre Martha rechtzeitig raus, voriges Jahr schon im
Frühling, als es die Partei noch gab …«
»Genau! Und in diesen schrägen Nachfolgeverein kriegen mich keine
zehn Pferde.
Da kann dieser Gysi noch so witzig … Das ist vorbei … Für immer
…«
»Und deshalb ließ ich ihn nich inne Küche rein …«
»Als der kam und klingelte, lag ich ja flach …«
»Wärst bloß nich aufgestanden …«
»Nur weil du geschrien hast: ›Martha, komm!‹, bin ich …«
»Na, weil er mit Anstalt und Einliefern gedroht hat …«
»Und wissen Sie, was dieser Stoppelkopp uns mitgebracht hat?
Blumen, nen Strauß Sommerastern, genau …«
Als Hoftaller endlich zugelassen wurde, war Martha nur noch halbtags bettlägerig.
Sie konnte Emmi, die von der Doppelpflege erschöpft war, für einige Stunden ablösen. Und manchmal kam Inge Scherwinski zur Aushilfe. Sie putzte die Küche, wechselte die Bettwäsche, lüftete und trällerte sich von Zimmer zu Zimmer.
Mittlerweile war der Juli vergangen. Sommerhitze lag auf der Stadt. Hoftaller roch verschwitzt, als er auf Krankenbesuch kam. Und diesen Geruch nahm er mit, als ihm Emmi die Tür zur Studierstube öffnete: »Aber daß Sie mir meinen Wuttke nich aufregen …«
Fonty lag mit geschlossenen Augen. Sein Besucher sagte uns später: »Er hätte tot sein können, so abwesend sah er aus.« Selbst als Hoftaller einen Stuhl heranzog und sich neben das Bett setzte, blieben die tief eingefallenen Augen geschlossen. Der Ausdruck des Kranken war so beständig, daß jemand mit zeichnerischem Können und schneller Kreide – der Maler Max Liebermann – mehrere Skizzen hätte hinwerfen können, zumal die Hände des Scheintoten wie auf immer zur Ruhe gekommen waren: Knochig lagen sie auf der Bettdecke, selbst der Ringfinger wollte nicht zucken. Dennoch schien Fonty sicher zu sein, daß ihn sein Tagundnachtschatten besuchte. Ohne sich einen Augenblick lang vergewissern zu müssen, sagte er mit matter, leicht zitternder Stimme: »Diese Hitze, Tallhover. Sollten endlich Ferien machen. Gehen wohl nie in die Sommerfrische? Hab ich schon immer gesagt: Den Juli, August über soll man raus aus Berlin. Wir waren ja diesmal im Riesengebirge, hat aber nichts gebracht, die andere Luft. Half sonst gegen deprimierte Stimmung, jedenfalls manchmal. Nun soll ich ab in die Nervenabteilung, hat Delhaes geraten. Dagegen müssen Sie was tun, Hoftaller, Einspruch, sofort, denn dieser Arzt aus der Poliklinik, Zöberlein heißt er, der wollte mich auch partout weghaben: ab nach Buch in die Anstalt. Will aber nicht. Besser hier rumbibbern als da ruhiggespritzt liegen. Außerdem ist zuviel unfertig. Muß nochmal an Effi ran und Kessin, was ja Swinemünde ist: das Bollwerk, das himmelblau angestrichene Haus, mein Versteck unterm Dach im Holzgebälk, wo mich keiner je aufgestöbert hat, auch die Jungs aus der Nachbarschaft nicht. Hör noch, wie Vater am Sonntag, wenn Besuch da ist, mit seinen Gasconnaden brilliert, so daß Mama sich wieder mal schämen muß …« Hoftaller hörte mit seitlich geneigtem Kopf zu. Sein Lächeln hatte er mitgebracht, dazu ein Päckchen, das er unausgepackt auf den Knien hielt. Eine Weile schwieg Fonty bei geschlossenen Augen, dann kam er wieder ins fiebrige Plaudern. Verkettete Namen, Preußens Adel, immer wieder die Bredows, längst vergessene Tunnelbrüder, Hesekiel, Scherenberg, Kugler, siegreiche Regimenter bei Gravelotte und Mars-la-Tour, oder es mischten sich Nachwahlen zum Reichstag -»Der Feilenhauer Torgelow siegt!« – mit Volkskammerwahlen – »Diese ledernen neunundneunzig Prozent!« – und achtundvierziger Barrikadenlyrik: »Viel Geschrei und wenig Wolle!« All das ging kommalos in AlexanderplatzReden über: »Nur der Feigling ist immer ein Held. Doch selbst die tapfersten aller Genossen machen heut Zugeständnisse: Die Bürger kommen! Die Bürger kommen! Sie werden den Arbeiter- und Bauern-Staat retten …« Dann aber verlor er sich in einem Lamento, das ihn zum wiederholten Mal als ständigen Sekretär der Akademie der Künste vorführte. Zwar war nur Hoftaller da, doch meinte Fonty, seine Beichtmutter und Brieffreundin Mathilde von Rohr am Krankenbett zu haben: »Sehe mich in beklagenswertem Zustand. Bin jetzt dreieinhalb Monate im Dienst. Habe in dieser ganzen Zeit auch nicht eine Freude erlebt. Alles verdrießt mich. Alles verstimmt mich. Alles ekelt mich an. Fühle deutlich, daß ich gemütskrank, schwermütig werde. Habe furchtbare Zeiten durchgemacht, namentlich in meinem Hause. Meine Frau ist tiefunglücklich, und von ihrem Standpunkte aus hat sie recht. Andererseits soll mir die Akademie … Dann besser doch Aktenbote im Haus der Ministerien … Dieser Lump Hitzig … Neulich mit ihm im Paternoster …« Er brach ab. Die Augäpfel unruhig unter geschlossenen Lidern. Der zuckende, vom Schnauzbart überfusselte Mund. Adern, die an den Schläfen hervortraten. Dann aber begann er, weil Hoftaller sich lächelnd still verhielt, so zu reden, als säße Emilie, die geborene Rouanet-Kummer, am Krankenbett und müsse beschwichtigt werden: »Was soll das heißen: ›So habe ich mir unsere Zukunft gedacht!‹ Nur weil bei deiner Schwester zwei Flaschen Medoc à zwölf Silbergroschen auf den Tisch gekommen sind? Und machst dazu ein böses Gesicht, weil ich zu Preußens Akademie Lebewohl gesagt habe und den Moment ersehne, wo ich aus diesem wichtigtuerischen Nichts, das mit Feierlichkeit bekleidet ist, wieder heraus sein werde? Du sagst, die Welt verlangt nun mal ihre Götzen. Meinetwegen, wenn ich nur nicht mit anbeten brauche. Will nicht nach jeder Geheimratspfeife … Ist mir egal, wie das Parteikollektiv beschließt … Fahre wohl, Sekretariat! Muß auch ohne die Plackerei beim Kulturbund gehn … Requiescat in pace! Der Mensch gewöhnt sich eben nicht an alles … Soll ich etwa vor diesem Kant, der nur zufällig so ehrenhaft heißt, katzbuckeln? Oder dieses Amt, trotz Krach mit Hitzig … Nein! Außerdem ist eine Fülle neuer Arbeit angefangen …« Jetzt erst, als habe er sich selbst einen Befehl zugerufen, schlug Fonty die Augen auf, die aber nicht wie üblich wäßrig schimmerten, sondern trocken und fiebrig glänzten. Er sah sich um. »Was gibt’s, Hoftaller?« Kaum aufgetaucht, war er gegenwärtig. Er griff sich in den Mund, fingerte seine Prothesen ab, war zufrieden und hatte sogar Scherze parat: »Keine Zigarre mehr im Gesicht? Ohne Nachschub aus Kuba? Oder ist etwa der Paternoster zum Stillstand gekommen? Rumpelt nicht mehr rauf runter. Und wie ist die Aktenlage? Fehlt was? Oder klappt es nicht mit der Einheit, ruckzuck, wie gewünscht?«
Hoftaller nahm sein Lächeln nur vorläufig zurück. Mit dem länglichen Päckchen auf den Knien, berichtete er dem Kranken Alltäglichkeiten: wie rasch sich das neue Geld verbrauche, wie zupackend der Westen um sich greife, wie zügig »der Mann mit den Ohren« die Vierpluszweigespräche vorantreibe; wie rechtzeitig man am Runden Tisch beschlossen habe, eine Treuhandanstalt zu gründen: »Na ja, für das Volkseigentum!« Doch wie mit den Akten in der Normannenstraße umgegangen werden solle, wisse man nicht. Das aber sei nicht seine Sorge. Ihm gehe es bestens. An Zigarren vorerst kein Mangel. Und da der Westen an Personen mit zeitlos übergreifender Erfahrung Interesse zeige, falle tagtäglich neue Arbeit an: »Die Kollegen von drüben brauchen Leute mit Durchblick.« Und dann breitete Hoftaller einige Fälle aus: kleine Fische vom Prenzlauer Berg, Lychener Straße, den sozialdemokratischen Fall Ibrahim Böhme; und den noch bevorstehenden Fall eines musikalischen Rechtsanwalts, der Ministerpräsident wurde und den Fonty einen »verspäteten Calvinisten« genannt habe. »Gibt ne Menge Vermutungen, die man zum gegebenen Zeitpunkt bis zur Tatsächlichkeit erhärten muß. Wird vorläufig noch geschont, weil ihn der Kanzler demnächst für Unterschriften benötigt. Aber dann ist er dran. Wir leben nun mal in ner schnellebigen Zeit. Wer da zu lange das Bett hütet, der wird sich verspäten. Sie wissen ja, Fonty, wer solche Verspätung bestraft. Nun? Immer noch nervlich am Ende? Oder wollen wir langsam wieder gesund werden?« Als der Kranke mit einem Lächeln, das wie endgültig auf Abschied gestimmt war, antwortete und dabei die Hände ein wenig von der Bettdecke hob, um sie sogleich wieder sinken zu lassen, holte Hoftaller aus vielstöckig tiefem Gedächtnis Trost und guten Rat herbei: »Bin ja kein Unmensch und will nicht drängeln. Ahne, wie Ihnen zumute sein muß. Weiß ja, daß schlecht scherzen ist, wenn einen das Gastritisch-Nervöse gepackt hat: Jeder Vogel krächzt nur noch Mißgeschick, an allem knabbern die Mäuse, in jedes Wässerchen münden Abflußkanäle. Und doch, Fonty, muß es weitergehn. Sind doch sonst fürs Positive! Sind doch immer wieder, ob zu Zeiten des Schwefelgelben oder zur Zeit des sächsischen Spitzbartes, auf die Beine gekommen. Und hat nicht dazumal der Hausarzt dem Unsterblichen, der aufgeben wollte, dem seine Effi entschwunden und alle Romanschreiberei nichtsnutz zu sein schien, nen prima Rat gegeben und ihn, den Dauerkranken, sozusagen am Hemdzipfel gepackt und mit nein anspornenden Auftrag aus dem Bett getrieben? Wie wär’s, wenn ich mal den Onkel Doktor spiele. Kleiner Vorschlag: Sie bringen Ihre Kinderjahre, von mir aus in gedoppelter Ausführung, zu Papier; und ich sorge für Publikum. Könnte ein längerer Vortrag werden. Gibt ja noch immer ne Menge Kulturbundhäuser, die belebt werden wollen, bevor man sie schließen wird. Muß ja nicht hier in Berlin sein. Könnte mir Potsdam, Neuruppin oder sogar Schwerin vorstellen, wo demnächst das Fräulein Tochter als Frau Grundmann Wohnung beziehen will, Seelage, beste Adresse. Also, wie heißt Ihre Devise: Freiweg! Am besten ist, morgen gleich anfangen. Wir wollen doch nicht schlappmachen, oder?«
Fonty sagte uns später, Hoftaller habe gegen Schluß seines Appells stehend gesprochen, dann aber, nach letztem Wort, sein Mitbringsel ausgepackt. Das längliche Päckchen enthielt ein Dutzend grün lackierte FaberCastell-Bleistifte und einen Anspitzer. Sogleich begann Fonty auf der Bettdecke mit den Stiften zu spielen. Er legte sie in Reih und Glied wie Soldaten. Aus zwölf Grünlackierten formierte er vier Kompanien. Er bildete Buchstaben aus den Stiften: das große A, das große M, das große Z. Ein ganz großes E sollte wohl Effi bedeuten. Er erlaubte ihnen, in schöner Unordnung zu liegen, und genoß die fein abgestimmten Töne, sobald er alle zwölf hölzern auf dem rechten Handteller hüpfen, tanzen, einander bedrängen ließ. Dann nahm er jeden einzelnen Bleistift, hielt ihn in Schreibhaltung und kritzelte in die Luft: Wort nach Wort, kurze und lange Sätze, Zitate und Eigenes, Blatt auf Blatt, darauf viel geplauderte Rede, in Gänsefüßchen gesetzt. Wir stellen uns Anfänge vor: »Als mir es feststand, mein Leben zu beschreiben …«, dann: »Das erste Kapitel ist immer die Hauptsache, und in dem ersten Kapitel die erste Seite, beinah die erste Zelle …« und danach: »Bei richtigem Aufbau muß in der ersten Seite der Keim des Ganzen stecken …« So sehr gefiel ihm das schier unerschöpfliche Geschenk, die »Russischgrünen«, wie Fonty das Dutzend Bleistifte nannte. Als Hoftaller das Fenster der Kammer zum Hof geöffnet und etwas lauwarmen Sommer eingelassen hatte, sagte der Kranke auf dem Weg zur Genesung: »Habe ja eigentlich noch genug Stifte vom letzten Ausverkauf mit dem alten Geld vorrätig. Aber die hier machen was her. Sind Weststifte mit Goldschrift drauf. Gold auf Grün. Hübsch, die Waage als Signum. A. W. Faber-Castell 9000. Und die richtige Schreibstärke: 3 B! Nicht zu hart, nicht zu weich für das jüngste Kind meiner Laune. Haben ja keine Ahnung, Hoftaller, was in solch einer Bleimine alles drinsteckt. Entwürfe zuerst, ob Brief oder Novelle. Ganze Romane oder Lebensläufe: das Glück und das Unglück in Fortsetzungen. Immer frisch angespitzt bis runter zum Stummel. Denn sogar mit dem Stummel kann man, wenn es denn kommt und nicht nur drippelt, ein kurzes Zwischenkapitel hinkritzeln. Und dann der nächste Stift … Für die Reinschrift wird meine Emilie sorgen … Zwar liegt mir nur wenig an Unsterblichkeit, diesem, wie bei Schiller, perpetuierlichen Lorbeerzustand, aber haltbar muß es schon werden, was, Tallhover! Spielen mir hier den Doktor Delhaes vor. Weiß schon, gibt keine Ausrede mehr, denn mit Papier haben wir uns rechtzeitig eingedeckt – kann ja wieder mal knapp werden …«
Wir wissen, daß Hoftaller nur noch ein halbes Stündchen geblieben ist. Sie sollen von alten Zeiten geplaudert haben. Doch während ihnen preußische, schottische, wilhelminische, dann großdeutsche und zwischendurch immer wieder realsozialistische Anekdoten eingefallen sein mögen, hörte Fonty nicht auf, mit den westlichen Bleistiften zu spielen: Er legte sie Dreieck auf Dreieck verkantet, dann Viereck auf Viereck. Ein Anschein von Glück lag auf dem Spiel. Ob bei diesem Geplauder ohne Rücksicht auf geschwundene Zeit abermals die Kinderjahre angetippt worden sind, wissen wir nicht, vermuten eher, daß Hoftaller immer wieder Situationen in Erinnerung gebracht hat, in denen Tallhover aktiv wurde, zum Beispiel jene verquere Lage, in die sich der Luftwaffengefreite Theo Wuttke ab Frühjahr 43 leichtfertig hineingeschrieben haben soll. Es hieß, er habe nicht nur durch Kurierdienst, wenn auch unwissentlich, zum Widerstand beigetragen, sondern sich zudem durch Briefwechsel mit hochgestellten Offizieren belastet, unter ihnen einige, denen später das mißglückte Attentat zum Verhängnis wurde. Zwar habe der Wortlaut der Briefe an Adlige preußischer Herkunft – solche mit klangvollsten Namen -nichts Konspiratives preisgegeben, denn immer nur hätten Rückbezüge auf gleichnamige Adlige im literarischen Werk des Unsterblichen eine Rolle gespielt, doch soll Tallhover Mühe gehabt haben, den Kriegsberichterstatter vor Freislers Volksgerichtshof zu bewahren; schließlich kam der private Vielschreiber davon, während einige seiner Briefpartner, unter ihnen ein Generalfeldmarschall, ihr Ende durch den Henker in Plötzensee fanden. Es kann aber auch sein, daß beide nur harmlos geplaudert haben, denn Emmi Wuttke, die in der Küche mit ihrem Blasentee saß, hörte immer häufiger Fontys helles, schon wieder jünglingshaftes Lachen. Sie klopfte an die Zimmertür der bettlägrigen Tochter, klopfte sie aus dem Bett. Emmi und Martha hörten das Gelächter, wie es auflebte, Mal um Mal. Soviel Heiterkeit rief beide in die Krankenkammer, die bald wieder Studierstube sein sollte. Mutter und Tochter fanden einen Genesenden vor, der mit hübsch grünlackierten Bleistiften spielte und dessen heilender Arzt Hoftaller hieß.
Der sagte: »Ganz schön munter, unser
Sorgenkind, nicht wahr? Doch nun will ich nicht länger
stören.«
Anderntags saß Fonty am Schreibtisch. Er wollte die neuen Stifte
ausprobieren, eine knappe Stunde lang nur. Danach füllte er Blatt
nach Blatt, Tag um Tag. Ein aus Militärdecken genähter, seit
Kriegsende verfilzter Morgenmantel von unbestimmter Farbe kleidete
ihn. Er schrieb über des Meisters Stil, über das Dialogische und
die anekdotische Kleinmalerei, über raffinierte Aussparungseffekte
und dann über die konsequent durchgeführte Erzählhaltung, belegt
mit betont englischem, auf Scott oder Thackeray zurückweisendem
Zitat: »To begin with the beginning.« Danach kam er auf das Motto
des seine Kinderjahre ausbreitenden Unsterblichen: »… in den ersten
Lebensjahren steckt alles …« und fand so Gelegenheit, seine frühe
Neuruppiner Zeit, als Sohn des Steindruckers Max Wuttke, mit der
hundert Jahre zuvor durchlebten Zeitweil seines Vorgängers, dessen
Vater Apotheker gewesen war, zu vergleichen und bald so
übergangslos zu vermischen, daß wir vom Archiv Mühe gehabt hätten,
überall dort das Original vom Abklatsch zu trennen, wo Fonty mit
zwei Spiegeln zugleich hantiert hat. Anfangs ging es noch. Der
Apotheker Louis Henri und dessen Frau Emilie, die gerne betont hat,
Tochter eines Seidenfabrikanten namens Labry gewesen zu sein, hoben
sich, dank ihrer hugenottischen Herkunft, deutlich von der
Wuttkeschen Stammlinie ab, die eher in Richtung germanisiertes
Westpreußen wies; doch immerhin hieß Fontys Mutter Luise, genannt
nach jener Königin, bei der des Apothekers Vater, Pierre
Barthélemy, anfangs als Zeichenlehrer und später im Rang eines
Kabinettsekretärs tätig gewesen war, wobei er allerdings den Spott
des Bildhauers Schadow provoziert hat: »Er malt schlecht, spricht
aber gut französisch.«
Zwar war Luise Wuttke eine geborene Fraissenet, was immerhin
hugenottisch klang, dennoch blieb im Herkommen der Wuttkes einiges
dunkel, denn väterlich großmütterlicherseits verlief sich eine
Linie im Sächsischen. Bald aber gelang es, ein gemeinsames, zudem
farbgesättigtes Feld abzustecken, auf dem Fonty in jeder Richtung
zu Hause war. Da schon den Unsterblichen während früher Kindheit
die weit verbreiteten »Neuruppiner Bilderbögen« geprägt hatten und
der Steindrucker Max Wuttke in Gustav Kühns Werkstatt immer noch
jene Blätter von Solnhofer Steinplatten abzog, die bereits vor
hundert Jahren im Handel gewesen waren, lagen weitere Möglichkeiten
offen, mit eiligem Blei die Zeit aufzuheben und eine Neuruppiner
Spezialität mit Anekdoten anzureichern: Kinderarbeit in
Kolorierstuben, Lithographengeheimnisse, Bilderbogengeschichten.
Überhaupt reizte das Städtchen im Ruppiner Land zu Vergleichen. Wie
sah es hier zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts nach dem großen
Brand aus und wie in den zwanziger Jahren unseres Jahrhunderts, das
demnächst ausläuft? Die Garnisonstadt bot mit traditionellen
Regimentern und weitläufigen Kasernenanlagen von Krieg zu Krieg
fließende Übergänge bis hin zur Reichswehr und dem Panzerregiment
Nr. 6. Auch hatten die Schinkelkirche und das zentral gelegene
Gymnasium die Zeit überdauert. Nahezu unverändert war der See
geblieben, an dessen Ufer sich Neuruppin, schräg gegenüber von
Altruppin, hinstreckte und auf dessen Wasser ein Dampfer bereits im
Jahr 1904 den Namen des Unsterblichen zu weitentlegenen
Ausflugszielen getragen hatte: durch den Lauf des Rhin zum
Molchow-und Tornowsee. Wie von einer holsteinischen,
mecklenburgischen oder kaschubischen Schweiz konnte man, was die
Seenkette betraf, von einer Ruppiner Schweiz schwärmen. Fonty genoß
es, die Gerüche der väterlichen Löwenapotheke in der
Friedrich-Wilhelm-Straße, die später auf unbestimmte Zeit
Karl-Marx-Straße heißen sollte, mit den Gerüchen des väterlichen
Arbeitsplatzes in der Kühnschen Lithographiewerkstatt zu mischen:
Salmiak und Gummi arabicum, Lebertran und Druckerschwärze. Mit
neuem, immer wieder nachgespitztem Bleistift ließ er den einen wie
den anderen Vater aus jeweils großen Kriegen, dem befreienden gegen
Napoleon, dem gegen die ganze Welt verlorenen, heimkehren, auf daß
sie, kaum abgemustert, heirateten und Söhne zeugten, die am
gleichen Tag ans Licht kamen, wenngleich in hundertjähriger
Distanz. Spielte sich das Vorleben des einen Sohnes in einer
geräumigen Beletage-Wohnung nahe dem Rheinsberger Tor ab, blieb im
engen Arbeiterquartier Ecke Fischbänkenstraße, Siechenstraße für
den nachgeborenen Sohn nur wenig Spielraum. Der eine erlebte das
zum Haushalt gehörende Schweineschlachten, lief entsetzt davon und
ruhte erst außerhalb der Stadt auf einem Hügel, der, zu seinem
weiteren Entsetzen, vormals der Galgenberg gewesen war; dem anderen
stanken zeitlebens die Fische, selbst wenn sie fangfrisch waren.
Das aber hatten sie gemein: Wie jenem lange blonde Locken auf die
Schultern fielen – »weniger zur eignen, als zu meiner Mutter Freude
…« –, litt der andere unter blonder, nur seiner Mutter erfreulicher
Lockenpracht. So kam es, daß beide in den ersten Schuljahren als
»Engelsköpfchen« gehänselt wurden und beim morgendlichen Kämmen
regelmäßig zu Tränen kamen. Und in beiden Fällen schmerzte die
»rasche Hand« der Mutter. Auch sonst wurde geprügelt, wenngleich
»der Lehrer Gerber« in der Neuruppiner Klippschule von seinem Namen
keinen Gebrauch machte, während in der Volksschule allmonatlich der
Rohrstock erneuert werden mußte. Beide Söhne betonten jedoch vor
allem die Strenge der Mütter: Emilie und Luise bewiesen ihre Liebe
durch Entzug.
Kleinmalerei und Gedächtniskrümel: indem sich Fonty nie
aufdringlich, eher hinter diskreter Verkleidung in Vergleich
brachte und wie auf Bilderbögen den Zeitverlauf raffte, hier
sprang, dort auf der Stelle trat und dennoch mit den geschenkten
Westbleistiften die frühen Neuruppiner Jahre kaum stockend
niederschrieb, begann und bestätigte sich der Prozeß seiner
Genesung. Frau und Tochter sahen dem staunend zu. Die Nachbarin
Scherwinski sprach mit katholischen Wendungen von einem wahren
Wunder. Martha Wuttke entschloß sich, ihre Nervenreizung
gleichfalls abklingen zu lassen. Emmi ging vom Blasentee zum
Milchkaffee über. Und wir vom Archiv erlebten bei Krankenbesuchen
nur noch Gesundung und ein wachsendes Manuskript. Selbst Hoftaller,
der neuerdings freien Zutritt hatte und jeden zweiten Tag
vorbeischaute, war verblüfft von der wirkenden Kraft der
Russischgrünen, die von der Nürnberger Firma Faber schon zu Zeiten
des Unsterblichen als genormte Stifte auf den Markt gebracht worden
waren. Natürlich saß der Genesende von Büchern umgeben. Links und
rechts vom Stoß dicht beschriebener Blätter stapelten sich die
Werke des Meisters, verlegt beim Aufbau-Verlag und ergänzt durch
die Taschenbücher der Nymphenburger Edition, zudem die Reutersche
Biographie, zweibändig und bebildert, mit Merkzetteln gespickt und
greifbar für querverweisende Zitate. Und da in dem Band
»Kinderjahre« bereits alles angelegt war, konnte Fonty weitere
Parallelen ausreizen: Weil zum großen Feuer, bei dem die Scheunen
vorm Rheinsberger Tor in Flammen aufgingen, ein Großbrand hinzukam,
bei dem, Mitte der zwanziger Jahre, ein Holzlager am Stadtrand samt
Sägewerk zunichte wurde, wirkte sich diese Frühprägung nicht nur in
etlichen Novellen, Romanen und Gedichten aus; dem Chronisten von
Brandkatastrophen und kleineren Bränden wurde ein Vortrag
behilflich, der den Kulturbundreisenden Theo Wuttke schon Anfang
der sechziger Jahre republikweit bekannt gemacht hatte und dessen
Titel »Die Feuersbrünste in des Unsterblichen erzählerischem Werk«
alles mögliche, sogar die Enthüllung der sonst sorgsam verdeckten
Liebesbrunst versprach. Bei solch kühner Sprungtechnik ließ sich
zwanglos von Grete Minde und der brennenden Stadt Tangermünde auf
Ebba von Rosenberg und den Kaminbrand in einem dänischen Schloß
kommen. Beleuchtet vom Flammenspiel wurde Frankfurts brennende
Oderbrücke in Szene gesetzt. Und Lenes Liebesbriefe, die der
schwache Botho verbrannt hat, ließen sich in Beziehung zu den
verräterischen Episteln von Crampas’ Hand bringen, die das
Dummerchen Effi leider nicht in den Ofen gesteckt hatte. Das alles
war Zunder seit dem frühen Scheunenbrand und dem abgefackelten
Sägewerk; das und noch mehr prasselte, brach funkenstiebend
zusammen, wurde zu Asche oder ragte noch lange mit verkohlten
Balken in das Vorratslager gemischter Erinnerungen.
Kein Wunder, daß Fonty darüber gesund wurde. Und dennoch waren
seine Besucher, zu denen bald einige der jungen Poeten vom
Prenzlauer Berg gehörten, verblüfft, ihn so tätig, sprühend, ja,
glücklich am überladenen Schreibtisch vorzufinden. Wir waren
weniger überrascht, doch jene zwei jungen Männer, die sich trotz
gleichbleibend lastender Sommerhitze schwarzgekleidet bedeckt
hielten, konnten nicht begreifen, wie es Fonty gelang, bei
annähernd finalem Weltzustand so fröhlich zu sein. Während ihre der
puren Literatur geweihten Stammlokale in der Lychener Straße von
der Vergangenheit eingeholt, schlimmer noch, preisgegeben und
rückwirkend entblößt wurden, war in des Genesenden Studierstube
alles Vergangene goldeswert. Sie, die gänzlich verhagelt und jedem
Verdacht ausgesetzt auf Fontys leerer Bettstatt hockten, hörten vom
Glück der Rückschau, von der sich Pelle um Pelle häutenden Zeit,
von lange verschütteten, plötzlich wie neu glänzenden Fundsachen
und von der Lust an dauerhaften Gerüchen, sobald im Frühling, wenn
die Swine eisfrei war, am Bollwerk alles zu leben begann, die
Schiffe an Land gezogen und auf die Seite gelegt wurden und Pech in
eisernen Grapen brodelte, auf daß mit Werg die schadhaften Stellen
der Schiffsrümpfe kalfatert werden konnten. Kartoffeln und
Speckstücke, in die Glut geschoben, reicherten den Pechgestank an,
der als Qualm über dem Bollwerk lag. So erfuhren wir vom Umzug der
Apothekerfamilie nach Swinemünde. Wie eine Neuigkeit hörten wir
das, sobald Fonty uns seine Fassung vom Blatt las. Wir, das waren
meine Kollegin und ich, zudem die beiden, laut Aktenlage, mehr oder
weniger enthüllten Prenzlberger und unvermeidlich: Hoftaller. Kein
Wunder, daß uns die ohnehin vollgestellte Studierstube eng wurde.
Wir saßen auf Stühlen, hockten dicht bei dicht auf der Bettkante
oder standen, wie Fontys Tagundnachtschatten, im Hintergrund.
Geboten wurde dem gemischten Publikum ein Stück in Fortsetzungen,
das einerseits »Kinderjahre«, doch im Untertitel »Genesung« hieß.
Fonty lieferte Querverweise zwischen Swinemünder Alltäglichkeiten,
Effis Ehestand in Kessin und den geplauderten Erinnerungen der
schauspielernden Pfarrerstochter Franziska in »Graf Petöfy«. Den
beiden Poeten in Schwarz, die sich prinzipiell deprimiert gaben,
spielte er vor, mit welchem Vergnügen er jenem Leutnant von
Witzleben wiederbegegnet sei, der anno 31 mit einem Bataillon vom
Regiment Kaiser Franz die Stadt an der Swine gegen die anrückende
Choleraseuche abgesperrt und viel später des Unsterblichen Bücher
über die drei einheitsstiftenden Kriege in einem
Militär-Wochenblatt rezensiert habe. Hoftaller hörte das alles
schweigend in sich hinein.
»Selbstverständlich«, rief Fonty aus seinem Armstuhl, »schrieb ich
während meiner Soldatenzeit im besetzten Frankreich einem
Nachkömmling jenes Leutnants aus Kinderjahren, dem
Generalfeldmarschall von Witzleben, was zu ausführlicher
Korrespondenz geführt hat. Hätte mich fast Kopf und Kragen
gekostet, dieser Briefwechsel. Mein lebender Witzleben gehörte
bekanntlich der mißglückten Offiziersrebellion an. Wurde gehängt,
nachdem er vorm Volksgerichtshof altpreußische Haltung bewiesen
hatte. Fragen Sie meinen altvertrauten Kumpan, der wird diese
Zusammenhänge, die für mich glücklich ausgingen, bestätigen; hatte
einen Schutzengel sozusagen.« Hoftaller lächelte wissend und zog an
seiner Zigarre, die er mit Fontys Erlaubnis rauchte. Wir vom Archiv
schwiegen, meine Kollegin machte sich fleißig Notizen. Die zwei
vergrämten Poeten jedoch, denen die laute Welt draußen die Poesie
vergällt und ein schnelles Urteil gesprochen hatte, suchten Trost
bei solchen und ähnlichen Anekdoten. »Noch ne Geschichte!« rief der
eine. Und der andere bettelte: »Wie war das, Fonty, als das
feuerherdrote Haus himmelblau angestrichen wurde …« Beide
beteuerten, nachdem diese Wünsche erfüllt waren: »Davon kann man
nie genug hören.« Doch Hoftaller, der die Prenzlberger Szene – und
in gewissem Sinn auch uns - unter Kontrolle hatte, ermahnte die
jungen Leute, sich für diesmal zufriedenzugeben: »Wir werden
unseren Freund nun mit seinen Bleistiften alleine lassen, damit er
uns ganz und gar gesund wird. Wir wollen ihn doch nicht
ausquetschen, etwa wie beim Verhör.«
Mit seinen Schützlingen ging Hoftaller. Wir blieben noch ein
Weilchen. Fonty lüftete seine Studierstube so lange, bis nichts,
kein Rüchlein mehr an den Qualm der kubanischen Zigarre erinnerte.
Geschäftig räumte er auf und glich in seinem verfilzten Morgenrock
einem Eremiten, der Pilger empfing und entließ. Uns, seine
»Archivsklaven«, sah er mit Wohlwollen; und geradezu liebevoll
genoß er die stilisierte Schwermut der beiden Anarchen vom Berg,
kaum waren sie gegangen. Fonty, der, wie er sagte, »aus Tradition«
mit Verdächtigungen und schuldhaften Verstrickungen lebte, hielt zu
den Jungpoeten, deren Produkte er als »bibliophile Raritäten«
schätzte. Sie mochten ihn an Lesungen im Tunnel über der Spree
erinnern. Deshalb hat er auch Hoftallers umfassende und über ein
Jahrzehnt lang anhaltende Fürsorge gutgeheißen. Er sagte, während
der Zigarrenrauch abzog: »Furchtbar richtig, daß man das junge Blut
und sein noch gärendes Talent von der verfluchten Politik
ferngehalten hat, wenngleich mir die bloße Vergötzung der Form
genauso wenig schmeckt wie der nackte soziale Aufschrei. Doch
schädlich sind solche sich immer wieder avant gebenden Spielereien
gewiß nicht gewesen. Bleibt hübsch anzusehen, was man mit viel
graphischem Geschick in der Lychener Straße produziert hat.
Liebhabereien für Sammler! Immerhin wurden unsere Heißsporne
dadurch gehindert, Dummheiten zu machen, wie wir dazumal. Haben
über die Stränge geschlagen, als es im HerweghClub und den Vormärz
lang darum ging, die Revolution in Verse zu zwingen und einander in
Freiheitshuberei zu übertrumpfen. Und doch, war eine frische Zeit:
›Heraus nun endlich aus dem alten Gleise, das Leben steigt mit der
Gefahr im Preise …«‹ Als die Tochter Martha bald nach dem Lüften
dem Genesenden Tee und Kekse brachte, eilte sein Stift schon wieder
übers Papier. Nun gingen auch wir, nachdem uns das weitere
Ausschreiten der gedoppelten Kinderjahre mit nächsten Schritten
gesichert schien. Jetzt war ihm in Swinemünde die Bepflanzung des
Gartens hinterm himmelblau angestrichenen Haus wichtig. Er sah
dessen Wildnis im Vergleich mit dem Schrebergarten des
steindruckenden Vaters in Neuruppin, wo Möhren und Zwiebeln neben
Kohlköpfen und zwischen rankenden Feuerbohnen wuchsen und wo in
immer mehr Verschlägen Kaninchen gehalten wurden. Diese hier und
dort betriebene Hobbygärtnerei war ihm ein Zwischenkapitel wert,
das mit Reseda- und Ritterspornbeeten begann, zu einem baumhohen
Berberitzenstrauch führte und schließlich eine »ziemlich baufällige
Schaukel« ins Bild setzte, die anfangs von Geschwistern und
Nachbarkindern in Schwung gebracht wurde, endlich jedoch und
ursächlich auf Effi hinwies, wie sie uns überliefert wurde: »In
ihrem blau- und weißgestreiften, halb kittelartigen Leinenkleid,
dem erst ein fest zusammengezogener, bronzefarbener Ledergürtel die
Taille gab; und über Schulter und Nacken fiel ein breiter
Matrosenkragen …« Es spricht für Fontys verzweigtes und selbst im
Literaturbereich der Moderne streunendes Wissen, daß er gleich nach
dem im Roman zum Motiv erhobenen Schaukelbild auf Samuel Becketts
Einakter »Das letzte Band« kam, in dessen Spielverlauf der
Monologist Krapp, bevor er die nächste Tonspule ablaufen läßt, vor
sich hin brabbelt: »Sah mir die Augen aus dem Kopf, indem ich
wieder einmal Effi las, eine Seite pro Tag, wieder einmal unter
Tränen. Effi … – Pause – Hätte mit ihr glücklich sein können, da
oben an der Ostsee, und die Kiefern und die Dünen Pause – Nicht?«
Dem folgte als Kommentar: »Es gibt kein Glück, das länger als fünf
Minuten dauert …« Und gleich danach wies Fontys russischgrüner
Bleistift auf eine illustrierende Ätzradierung von Max Liebermanns
Hand, der mit wenigen Strichen des einsamen Herrn Krapp letzte
Verheißung des Glücks festgehalten hatte: wie des märkischen Adels
unglücklichste Tochter, das Mädchen mit dem Matrosenkragen, wie
Effi stehend wild schaukelt.