27 Im Dienst der Treuhand

Weder Mitte November noch Ende Dezember sind sie bei McDonald’s gewesen. Ihr Einundsiebzigster gab für »Festivitäten« nicht genug her, wie Fonty uns gleich nach Jahresbeginn versicherte: »Bin nicht nur redensartlich gesellschaftsmüde, sondern in Wirklichkeit. Schon den Siebzigsten zu feiern war ridikül.« Dennoch haben ihn die nachträglichen Glückwünsche des Archivs erfreut. Wir schenkten ihm das Heft 42 unserer Gesamtreihe »Blätter«, in dem ihn eine kürzlich entdeckte Rezension des Romans »Quitt« amüsieren sollte, auch wenn sie seinem Gedächtnis nicht neu sein konnte; hatten wir ihn doch wiederholt über die »Hyperklugheit« der Kritiker spotten hören, in diesem Fall über Julius Hart: »Eigentlich weiß er immer schon vorher, was er sagen will …« Zudem galt sein seit »Irrungen, Wirrungen« triftiger Allgemeinbefund: »Alle Kritiken sind wie von Verbrechern geschrieben.« Ein wenig Spaß hatte er dennoch an dem Blättchen, wenngleich ihn die kommentierten Briefe, gerichtet an Moritz Lazarus, der, weil zur Dichtervereinigung Rütli gehörend, mit »Teuerster Leibniz« angeredet wurde, nachdenklich gestimmt haben: »Man traf sich von Zeit zu Zeit mit den Rütlionen privat, so auch bei Lazarus, der am Königsplatz, dem heutigen Platz der Republik, wohnte. Ein Jammer, daß diese Freundschaft so häßlich enden mußte …« Als Fonty seine Lesebrille aufsetzte und einen kurzen Beitrag über den Jugendfreund Friedrich Witte überflog, erfuhren wir wie nebenbei, daß sein Tagundnachtschatten ihn mit dem sechsten Band der Hanser-Ausgabe – Balladen, Lieder und Gelegenheitsgedichte -beglückt habe: »Eine Fundgrube, in der allerdings das eine oder andere Schnellgereimte blamabel ist«; hingegen sei ihm, wie schon im Vorjahr, nur dieses Spielzeug für Groß und Klein, ein Puzzle, als Geburtstagsgeschenk eingefallen: »Nein, keine der uns versprochenen blühenden Landschaften ist abgebildet, vielmehr hat mein Präsent tausendteilig das nach Kriegsende gesprengte Stadtschloß zum Motiv. Für meinen Kumpan kein besonderes Problem. Schätze, daß er die frontale Ansicht des Schlüter-Baus in wenigen Stunden hingefummelt hat. Er macht das aus Passion mit Stoppuhr, mehrmals. Eine hübsche Illusion, die er immer wieder zum Salat aus Fragmenten verrührt. Muß gelegentlich für Nachschub sorgen. Sah kolossales Angebot im KaDeWe. Viel Preußisches dabei, Brandenburger Tor natürlich und Sanssouci. Hätte ihm gerne unseren Kasten an der ehemaligen Wilhelmstraße geschenkt. Das wär doch was: die Treuhand als Puzzle! Gab’s aber nicht.« Dann plauderten wir über seinen neuen Aufgabenbereich und ermunterten ihn, mit dem Namen seines Arbeitgebers spielerisch umzugehen. Aus bester Laune machte uns Fonty vor, wie Treuhänder im Handumdrehen zu Treuhändlern werden; wie bei der Treuhand eine Hand die andere wäscht; weshalb es fortan möglich sein wird, die Praxis der Veruntreuung von Volkseigentum mit Hilfe der Treuhand einzusegnen; und andere Wortspiele, nach deren Regeln man, zum Beispiel, den häßlichen Offenbarungseid durch Schwur mit erhobener Treuhand vermeiden kann. Schließlich ging es nur noch albern zu. Jemand entwarf Kleinanzeigen: »Treuhand sucht Maniküre!« – »Treuhandschuhe preiswert im Angebot!« Und so weiter. Als Fonty uns verließ, gelang ihm die historische Verklammerung seiner Tätigkeiten. Schon im Mantel rief er von der Tür aus: »Treuhand heute ist nicht besser als Manteuffel damals, zahlt aber mehr.«

Wir haben nachgerechnet und dabei die Kaufkraft von Talern mit der Härte der Mark verglichen. Es stimmt: Große Sprünge konnte sich der Unsterbliche weder in London noch in Berlin leisten, so knausrig hat Preußen seinen Untertan entlohnt.

Er machte Überstunden. Der freie Mitarbeiter Theo Wuttke wollte das an ihn ausgezahlte Geld wert sein und beschränkte sich nicht auf die historischen Abschnitte jeweils zum Tiefpunkt geführter Herrschaftsperioden von mehr oder weniger kurzer Dauer. Weder die Aufgaben des Reichsluftfahrtministeriums im Dritten Reich noch die Tätigkeit von zehn bis zwölf Ministerien während der vierzig Jahre deutscher Arbeiter-und Bauern-Staat konnten dem Chronisten genug sein. Er begann mit der Vorgeschichte der den Gebäudekomplex flankierenden Straßen. Nach der Leipziger, die ihren Namen nicht ändern mußte, schritt er die Prinz-Albrecht-Straße ab, die, bis auf Widerruf, nach der Kommunistin Käthe Niederkirchner umbenannt worden war. Weitläufig erging er sich auf der Wilhelmstraße, die zwar noch immer nach einem der Gründungsväter des kurz, aber real existierenden Staates hieß, doch bald wieder unter preußischem Herrschernamen ihren Verlauf nehmen sollte. Also begann er mit Zinn- und Bleisoldaten zu spielen. Er ließ den Wilhelmplatz und dessen bauliche Veränderungen aufleben. Ihm wollte nicht enden, was einmal gewesen war. Sein Entwurf bewies Gardemaß: Anhand des Plans der Friedrichstadt von 1732 skizzierte Fonty das große Exerzierfeld aller in Berlin kasernierten Regimenter und ließ diese namentlich, vom Regiment Alexander bis zum Regiment Gendarmes, aufmarschieren und paradieren. Er zählte die bis 1800 errichteten Standbilder ruhmreicher Feldherren von Seydlitz bis Zieten auf, entwarf aufs neue die symmetrische Gliederung des Platzes durch den Baumeister Lenné, verwandelte die Paradeanlage durch den ab 1908 beginnenden U-Bahnbau zur Großbaustelle, benannte alle Palais um den Platz und entlang der Wilhelmstraße, prunkte mit den Namen märkisch-preußischer Adelsgeschlechter und kam so zum Palais Schulenburg, das ab 1875 dem Kanzler Bismarck als Privatwohnung und Amtssitz diente. Er erlaubte sich einen besonderen Abschnitt, indem er lange und anekdotisch beim Schwefelgelben verweilte und diesen mit nachgespitztem Blei mal auf-, mal abwertete; sogar als Zielscheibe mißglückter Attentate sah er ihn. Zudem wollten Auftragsgedichte zitiert werden, etwa das den jünglingshaften Junker feiernde »In Lockenfülle das blonde Haar, allzeit im Sattel und neunzehn Jahr …« oder das spät geschriebene »Wo Bismarck liegen soll«, das der Unsterbliche dem Gründer des Reiches von kurzer Dauer am 31. Juli 1898 halbwegs versöhnt und selbst dem Grubenrand nahe auf Wunsch seines Sohnes Friedel nachgerufen hatte. Reichsgründung, Gründerzeit: Eine Vielzahl Ministerien forderten Raum und machten, von Fonty aufgezählt, den Wilhelmplatz und die Wilhelmstraße zum beherrschenden Zentrum. Das geriet ihm zu breit, er mußte streichen. Doch auf das Großhotel Kaiserhof als Bezugspunkt für späteres Geschehen wollte er nicht verzichten; denn in den Erweiterungsbau der Reichskanzlei, die während der knappen Zwischenzeit der Weimarer Republik entstand, zog im Jahr 1933 ein weiterer Reichsgründer von kurzer Dauer ein, der zuvor abwartend im Kaiserhof Quartier belegt hatte. Zugleich nahm der Reichsminister für Volksaufklärung und Propaganda vom ehemaligen Palais des Prinzen Friedrich Karl Besitz, das in den folgenden Jahren, weil Propaganda über alles ging, in mehreren Bauabschnitten erweitert wurde.

Er vergaß kein Detail des neuesten Willens zur Macht. Als 1935 der Reichskanzlei, auf Wunsch, ein »Führerbalkon« angeklebt werden mußte, von dem herab nach italienischem Vorbild -die immer häufiger versammelten Volksmassen mit gestrecktem oder angewinkeltem Arm begrüßt werden sollten, war der Zeitpunkt für weit größere Baumaßnahmen erreicht. Endlich kam Fonty zur Sache. Auf einem geräumigen, von der Wilhelm-, Leipziger-und Prinz-Albrecht-Straße begrenzten Areal begann die Abräumarbeit für das geplante Reichsluftfahrtministerium, in dessen Nutzfläche das bestehende Gebäude sowie das ehemalige Preußische Herrenhaus und das Preußische Abgeordnetenhaus einbezogen werden sollten. Weitere Großbaupläne wurden durch den Krieg zunichte gemacht. Seinen Schlägen entging nur wenig. Er planierte alle zuvor genannten Bauwerke, nur nicht des Reichsmarschalls steingewordenen Komplex.

Wir sind bemüht, einige unverkennbar in die Geschichte eingegangene Personen nicht beim Namen zu nennen. Dabei folgen wir Fonty, dem Bezeichnungen wie »der Führer« und »der Reichsmarschall«, aber auch Metaphern für einstige oder noch amtierende Kanzler, etwa »schwefelgelber Heulhuber« und »regierende Masse«, genug waren oder mehr sagten. Wenn wir dabei nicht immer konsequent sind, entspricht auch das Fontys Launen. Jetzt erst ließ er sich auf des Reichsmarschalls Bauherrngeschichte ein. Er nannte das gesamte Vorhaben »eine gigantische Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, die dazu führte, daß viele tausend Erwerbslose zu Lohn und Brot kamen, indem sie mit dem Abbruch von zweihundertsechzigtausend Kubikmetern Altbau zugleich mit einem Neubau begannen: in Tag- und Nachtschichten an acht verschiedenen Stellen; woraus man schließen kann, daß sich staatslenkende Verbrecher gerne durch Wohltaten legitimieren«.

Nach den Plänen des Architekten Ernst Sagebiel, der später den Flughafen Tempelhof in vergleichbaren Dimensionen baute, waren solch sinnbildliche Arbeitsvorgänge Ausdruck völkischen Willens: Abriß gleich Aufbau. Alles mußte in Rekordzeit geschehen. Nach einem halben Jahr schon waren – bald nach dem Richtfest – tausend Diensträume bezugsfertig. Und nach einjähriger Bauzeit konnte der gesamte Gebäudekomplex mit einer Nutzfläche von zweiundfünfzigtausend Quadratmetern, nicht mitgezählt die Räume des Herren- und Abgeordnetenhauses, das zum »Haus der Flieger« umgebaut wurde, zur Nutzung übergeben werden. Fonty verkniff sich eigene Meinung. Nur sparsam kommentierte er die Baugeschichte des Reichsluftfahrtministeriums. Allenfalls erlaubte er sich ein ironisches »Übrigens …« mit Hinweisen auf mögliche Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen der Treuhand in Zwickau oder Eisenhüttenstadt. Nur ein Schlenker wies auf die über Jahrhunderte gedehnte Errichtung des Kölner Doms hin. Doch ausgiebig wurden Bau- und Nutzungsbeschreibungen zitiert: »Die Grundrißordnung der Anlage bildet vier zum Park hin offene Höfe und umschließt vier Innenhöfe. In der Wilhelmstraße ist dem Haupteingang ein großer Ehrenhof vorgelagert. Das Rückgrat des Grundrisses ist der durchlaufende Nordsüdtrakt; parkwärts sind rechtwinklig die erweiterten vier niedrigeren Büroflügel angeschlossen; straßenseitig setzen sich die Flügel mit erhöhter Stockwerkzahl fort, die mittleren umschließen den Ehrenhof …« Da er die in Auftrag gegebene Schrift als historisch bedingt verstand und uns gegenüber häufig von »meiner rückblickenden und höllisch am Detail klebenden Denkschrift« sprach, war es ihm selbstverständlich, zeittypische Einzelheiten zu betonen, so die Vielzahl der Hoheitszeichen und die einheitliche Fassadenverkleidung in Platten von acht Größen, die aus etwa fünfzig fränkischen Steinbruchbetrieben kurzfristig geliefert wurden. Er unterstrich die Menge »dreißigtausend Quadratmeter silbergrauer Muschelkalk« und fügte in Klammern hinzu: »Genauso dümmlich eintöniges Gestein wie des Führers Lieblingsmarmor Travertin, doch im Meterpreis kolossal billig.« Bei den Säulen zum Hauptportal hielt er sich nur kurz auf, vergaß aber nicht die beiden bronzenen Adler, die ihren Sitz auf zwei Pfeilern hatten, jeweils ein Hakenkreuz in den Klauen hielten und den hohen, kunstgeschmiedeten Eisenzaun vor dem Ehrenhof gliederten, indem sie für Symmetrie bürgten. Gleichfalls war ihm ein steingehauenes Relief des Bildhauers Arno Waldschmidt wichtig, das die offene Pfeilerhalle vor dem Eingang für den Geschäftsverkehr schmückte und von der Leipziger Straße aus zur Ansicht kam: eine Kolonne todsicher geradeaus marschierender Stahlhelmträger. Schon im nächsten Absatz meldete Fonty die zeitbedingte Zerstörung des Soldatenreliefs und zugleich den nachgelieferten Ersatzschmuck: ein Wandfliesenbild des Malers Max Lingner von fünfundzwanzig Meter Länge, auf dem viel Personal frohgestimmt Begeisterung bekundet. Mit diesem kleinteiligen Monumentalwerk leitete er den Übergang vom Dritten Reich zum Arbeiterund Bauern-Staat, also zum Haus der Ministerien ein. Weiterhin unterstrich er Mengenangaben, so die »sage und schreibe tausendsiebenhundertfünfzehn in fünfzehn Reihen angeordneten Fliesen aus Meißner Porzellan«. Er nannte das Wandbild, auf dem Werktätige, solche der Stirn und der Faust, aber auch lachende jugendliche bei Ziehharmonika-und Gitarrenmusik in die Zukunft schreiten und dabei einfarbige Fahnen hochhalten, während im Hintergrund Baugerüste und rauchende Schlote für Fortschritt stehen, »den plattesten Ausdruck des sozialistischen Realismus«.

Dann verglich er die in den Tod ziehenden Soldaten des Waldschmidt-Reliefs mit den auf Fliesen versammelten Proletariern, war übergangslos bei anderen heroisierenden Schinken, so bei dem Großbild des preußischen Hofmalers Anton von Werner und dessen Jubelmotiv – die Ausrufung des deutschen Kaiserreichs im Spiegelsaal zu Versailles –, ließ schließlich alle drei Auftragsarbeiten in historischer Folge Revue passieren und notierte am Rand: »Selbst wenn Werktätige besser als Todgeweihte sind, es kam nur Mumpitz dabei raus. Fing mit Hurrageschrei an und endete jammervoll. Auf siebenundvierzig Jahre Kaiserreich folgten kaum dreizehn Jahre Weimarer Republik. Und wenn die knapp zwölfeinhalb Jahre Drittes Reich mit den vier Jahrzehnten Arbeiter- und Bauern-Staat zu verrechnen sind, steht nur noch deutsche Kurzatmigkeit unterm Strich.« Mit Hilfe dieser Bilanz war er abermals beim zuletzt genannten Staatswesen. Das aus Porzellanfliesen gekachelte Wandbild entstand 1952. Sodann unterstrich Fonty dick den 7. Oktober 1949. Damals wurde im großen Sitzungssaal des ehemaligen Reichsluftfahrtministeriums, vor dessen geschmückter Stirnseite einst aus erhöhtem Ledersessel der Reichsmarschall Befehle erteilt hatte, der Arbeiter- und Bauern-Staat als Deutsche Demokratische Republik ins Leben gerufen; verständlich als Echo auf die zuvor beschlossene Gründung der westlichen Bundesrepublik Deutschland, der sich jüngst erst der östliche Teilstaat aus freien Stücken mitsamt seinem Volkseigentum verschrieben hatte. »Ob ein Staat besser ist, als zwei waren, wird sich noch zeigen«, kritzelte Fonty in Klammern an den Rand seiner Denkschrift für Reklamezwecke. Er wollte sich nicht zufriedengeben. Zwar stand das Gebäude, doch kamen ihm die über zweitausend Diensträume wie unbelebt vor. Versuchsweise ließ er frischdekorierte Lufthelden mit Eichenlaub zum Ritterkreuz am Hals auftreten, über Korridore flanieren und im Paternoster auf und ab fahren. Er erlaubte ihnen zackige Auftritte in der Empfangshalle, schob sie wie Zinnsoldaten hin und her, zählte, sofern sie Jagdflieger waren, ihre Abschußerfolge auf, führte sie mal als Dummschwätzer, dann als melancholische Todesengel vor, kam auf gefeierte Fliegerasse wie Galland, Mölders, Rudel, hatte ein Dutzend durchschlagende, bombensichere, blitzschnelle Typen parat, wußte von legendären Stuka- und He-III-Einsätzen, von der Luftschlacht über England und den Fallschirmspringern auf Kreta zu berichten, war mit allen Jagdflugzeugen, von der Me 109 bis zu den allerletzten Nachtjägermodellen, vertraut, vergaß den zuverlässigen Transporter Ju 52 nicht, unterschlug weder den Dauerstreit zwischen den Generälen Milch und Udet noch den Verschleiß von Menschen und Material sowie den frühen Verlust der Lufthoheit über dem Reich. Er streute sogar Flüsterwitze, die den Reichsmarschall zum Ziel hatten, in seinen ausufernden Bericht; und doch brachte erst die Aufbahrung der beiden Heldengestalten Udet und Mölders ein wenig Leben in die Bude: Zwar konnten die pompösen Totenfeiern im Ehrenhof weder den Selbstmord des einen noch den Unglücksfall des anderen Lufthelden bemänteln, aber erhebend schauerlich ging es allemal zu. Zuviel Material. Fonty strich mehr, als er stehenließ. Aber die Darstellung der nun folgenden Phase litt gleichfalls unter dem Aufmarsch von Zahlenkolonnen. Genitivisch geklitterte Wortungeheuer, die der Arbeiter- und BauernStaat am fließenden Band produziert hatte, machten sich breit. Die Leistungen der unter einem Dach versammelten Ministerien waren nur mit drögen oder geschönten Planerfüllungsdaten zu belegen. Spruchbänder von diesem und jenem Parteitag. Papierne Auslassungen des Zentralkomitees. Unsere Hauptaufgabe lautet … Auf dem elften Plenum wurde beschlossen …

Und nun drohte die jüngst begonnene Phase in Zahlen zu ersticken: Für Milliardenbeträge bürgte die Treuhandanstalt. Ihr Schatten fiel auf vieltausend einst volkseigene Betriebe, Liegenschaften, Parteibesitztümer, reformbelastetes Junkerland in unermeßlicher Hektargröße, auf siebentausend geplante Privatisierungen und zweieinhalb Millionen gefährdete Arbeitsplätze. Selbst die knappe Formel des Treuhandchefs, die der in Auftrag gegebenen Denkschrift als Motto dienen sollte – »Schnell privatisieren, entschlossen sanieren, behutsam stillegen« –, wollte, sooft Fonty diese Beschwörung wiederholte, nichts Lebendiges auf die Beine stellen; alles, sogar die Hoffnung ersoff in Zahlen.

»Wirkt ledern oder atmet mich wie ein Totenhaus an.« Das und noch mehr stand in einem Brief an Professor Freundlich, den er Mitte Januar schrieb: »Diesmal wurde eher beklommen als lauthals gefeiert. Die Luft ist raus. Die Lügen der regierenden Masse hinken, ob lang-oder kurzbeinig. Bei mauer Stimmung schlug es zwölf; kein Vergleich zum Vorjahr, als jedermann glaubte, es bestehe Anlaß, in Jubel auszubrechen, ein Faß aufzumachen und mit Feuerwerkskörpern den nachtschwarzen Himmel zu illuminieren. Ersatzweise bietet nun der seit gestern in Szene gesetzte Golfkrieg ein Spektakel, das zumindest auf Fernsehschirmen furchtbar lustig zu sein scheint, doch Ihren Töchtern in Israel schrecklich nahe sein wird. Jeder hat auf seine Weise recht. Überall Sieger. Alle töten in Gottes Namen. Ach, lieber Freundlich, wie soll mir in solcher Gesellschaft eine Denkschrift gelingen?«

Dabei hätte er es sich leichtmachen können. Seinem Plauderton, der alle Abwässer dieser Welt mit stets gleichbleibendem Schwung überbrückte, wären hundert pointensichere Anekdoten geläufig gewesen. Er hätte nur die private Kiste lüften müssen: »Als ich als Gefreiter der Luftwaffe hier ein und aus ging …« Oder: »Während meiner langjährigen Tätigkeit als Aktenbote im Haus der Ministerien …« Er fand ja überall Zutritt und kannte in den Vorzimmern etliche Sekretärinnen, die, ohne Rücksicht auf geschichtliche Wenden, wechselnden Herren gedient hatten. Er hätte sogar Emmi Wuttkes Erzählungen aus Reichsluftfahrtzeiten und ihre Erinnerungen an Erlebnisse im Luftschutzkeller in seinen Bericht einfließen lassen können. Nicht er, die Schreibmaschinenkraft Emmi Hering durfte aus einem der Dienstzimmer dem Trauerakt für Udet und Mölders im Ehrenhof zuschauen; und ein Jahrzehnt später sah Emmi, wie sich die streikenden Arbeiter von der Stalinallee in Kolonnen dem Portal näherten, denn als Büroangestellte hat Frau Wuttke lange vor Fonty, ab Anfang der fünfziger Jahre, Arbeit im Haus der Ministerien gefunden. Erst Ende 61 wurde ihr gekündigt, weil die Söhne im Westen geblieben waren; »Republikflucht« wurde dieses strafwürdige Vergehen genannt. Spät hat uns Emmi davon berichtet: »Wir standen ja unter Druck und durften nich reden …« Und jenes postkartengroße Photo des Fliegerhelden Galland, mit Widmung und Unterschrift, hat sie uns erst kürzlich gezeigt: »Der sah gar nich militaristisch aus, eher wien Herzensbrecher, mit seinem Lippenbärtchen. Deshalb hat mein Wuttke das Photo zerreißen gewollt. Na, weil wir verlobt waren und er immer eifersüchtig …« Richtig, auch damit hätte Fonty seine Denkschrift aufpäppeln können: wie er und Emmi einander zum ersten Mal im Paternoster begegnet sind. Das war nicht im Juni 40, als der Gefreite Wuttke mit seinem ersten stimmungsvollen Bericht aus dem besetzten Frankreich zurückkam: »In Domrémy und Orléans besuchen unsere sieggewohnten Soldaten Jeanne d’Arc …«, sondern schon im April, als Emmi ein Reisefeuilleton aus dem Protektorat Böhmen und Mähren als ersten Beweis ihrer Liebe abtippen mußte.

Wie auch immer: Fonty wollte nicht privat werden. Selbst dem Rat des Brieffreundes aus Jena, der ihm schon vor Jahresende empfohlen hatte, seinen altbewährten Plauderton anzuschlagen, konnte er vorerst nicht folgen. Zu verquer lag das sperrige Material. Zu grau lastete auf allem der Muschelkalk. Der Koloß hielt sich Fonty wie einen Gefangenen. Aber in einer Paternoster-Epistel, die dem evaluierten Professor Antwort gibt, finden wir bereits skizziert, was später die Denkschrift belebt hat: »Ahne schon, lieber Freundlich, Sie werden mir abermals nahelegen, anekdotisch zu werden, indem ich, zum Beispiel, die eher traurige Geschichte von jenem Widerstandsnest im Reichsluftfahrtministerium erzähle, das von der Gestapo während laufendem Prozeß ›Rote Kapelle‹ genannt wurde. Und sicher will ich den Offizieren Harro Schulze-Boysen und Erwin Gehrts in meiner Denkschrift ein Kapitelchen einräumen, zumal sie ja hier, an Ort und Stelle, von einer Toilette aus Funkkontakt mit anderen Widerstandsgruppen gehalten haben. Ein Leichtsinn, wie sich zeigen sollte, denn bald danach flogen sie auf. Übrigens wurde mir Oberst Gehrts nach Rückkehr von Dienstreisen persönlich bekannt. Sobald ich meine Berichte bei der für mich zuständigen Abteilung vorgelegt hatte, fand sich Zeit für ein Plauderstündchen mit diesem überaus typischen Schreibtischoffizier, dem niemand soviel entschlossene Haltung, bis hin zur Todeszelle in Plötzensee, zugetraut hätte. Dazu ein wirklich belesener Mann: Wie bei Liebknecht und dem Historiker Mommsen gehörte ›Vor dem Sturm‹ zu seiner Lieblingslektüre. Da ich mich leichtfertigerweise -und eher wie nebenbei als Kurier benutzen ließ, hatte ich in meiner Tasche oft Briefe, die für Gehrts bestimmt waren. Auch konnte ich annehmen, daß ein Teil jener Kurierpost, die mir zugesteckt wurde, sobald ich, laut Marschbefehl, wieder nach Frankreich mußte, den Oberst Gehrts und den Oberleutnant SchulzeBoysen als Absender hätte ausweisen können. Zum Glück hat mich keine Kontrolle erwischt. Überhaupt sind mir die Gefahren meiner Soldatenzeit nie recht bewußt gewesen, auch wenn man mich, als es zu den Prozessen kam, mehrmals im Prinz-Albrecht-Palais, das sich ja hier gleich um die Ecke befand, ziemlich gestapomäßig verhört hat. Man konnte mir aber nichts anhängen; oder es ist der mir lebenslang zugeordnete Schutzengel gewesen, dem es – damals noch unter dem Namen Tallhover – gefallen hat, mich abzuschirmen. War eine Zitterpartie. Verdacht ist immer! Sie kennen ja diese als Zufälle getarnten Spielchen auf Leben und Tod aus Ihren mexikanischen Jugendjahren, als jeder jeden Trotzkist schimpfen durfte. Doch trotz aller Gefahren, in die mich die Rote Kapelle gebracht haben mag, bleibt es dabei: ein tadelloser Mann, dieser Oberst Gehrts. Ganz ohne die übliche Forsche, dabei kolossal weltläufig. Leider gehört diese Episode genauso wenig in die Denkschrift wie meine Frontberichte, die sich eher in literarisch-historischen Stimmungsbildern gefielen. Andererseits muß wohl ein kurzes Erlebnis bedacht werden, das, wenn auch am Rande nur, unseren Arbeiter- und Bauern-Staat betraf, und zwar während dessen Frühzeit, als wir uns alle noch hoffnungsvoll auf dem richtigen Weg glaubten. Ich spreche von jener Zusammenrottung der Bauarbeiter von der Stalinallee, die bald enormen Zulauf erhielt und die von unseren führenden Genossen – aber auch von Ihnen, lieber Freundlich – wirklichkeitsblind als vom Westen gelenkter Putsch oder

- nach damaliger Sprachregelung – als Konterrevolution eingeschätzt wurde. Und jene aufständischen Arbeiter, die der Westen später unter dem Schummelbegriff ›Volkserhebung‹ zu Tode gefeiert hat, jene zuerst nur streikenden – Sie erinnern sich: Es ging um die Erhöhung der Normen –, dann jedoch revoltierenden Arbeiter, zogen, auf gut zweitausend Mann geschätzt, vor das Haus der Ministerien. Meine Emilie, die damals noch als Bürokraft im HdM angestellt war, hat das alles gesehen: die eher ruhige als zornentbrannte Masse, die wie gekälkten Arbeiterklamotten. Man wollte irrtümlicherweise hier, im Ehrenhof, den Generalsekretär der führenden Partei zur Rede stellen. Sprechchöre riefen nach ihm. Doch der Spitzbart war anderswo. Nur ein einziger Minister, wahrscheinlich Selbmann, traute sich, vor die Menge zu treten, wollte reden, beschwichtigen, kam aber nicht zu Wort, wurde vielmehr ausgebuht und vom Podest gedrängt. Statt dessen sprach ein Steinträger vom Block C-Süd. Der rief, erinnert sich meine Emilie, ›Arbeiterverräter!‹ und ›Normen runter!‹ Das ist alles an historischer Begebenheit. Immerhin, einen Akzent sollte diese Konfrontation – hier streikende Proletarier, dort der sprachlose Minister – meiner Denkschrift setzen, wenngleich mir, sobald ich den i7. Juni 53 auf dem Papier habe, sofort der 18. März anno 48 in die Quere kommt. Sie wissen ja, wie kurzgefaßt das Urteil des Unsterblichen in den späten Erinnerungen lautet: ›Viel Geschrei und wenig Wolle!‹ Und das, obgleich der junge Apotheker beim Barrikadenbau dabeigewesen ist und sogar zum Sturmläuten in die Georgenkirche eindringen wollte. Doch das Portal war geschlossen, was ihn zu der knappen, aber immer noch gültigen Feststellung gebracht hat: ›Protestantische Kirchen sind immer zu!‹ So ist das mit den Erinnerungen. Sobald Sie mir aus Ihren frühen Jahren in Mexiko erzählen und dabei gern der kuriosen Alltäglichkeit Tribut zollen, höre ich mir vertraute Töne. Der späte Blick zurück spießt sich mit Vorliebe Absurditäten. Das Ridiküle gewinnt. Der Held wird zur komischen Figur. Damals jedoch wurde mein, wie Emilie sagt, ›Einundalles‹ in der jungschen Apotheke entweder als verkappter Revolutionär oder als verkappter Spion angesehen und so oder so gefürchtet. Nun, er war wohl mehr ein Revoluzzer, der neugierig bis fasziniert zuguckte, hier die freiheitstrunkene Barrikadenherrlichkeit, dort die in der Apotheke nach Lebertran anstehenden Hausfrauen im Auge hatte, wobei der Lebertran eigentlich für die skrofulösen Kinder bestimmt war, doch zumeist als Lampenöl benutzt wurde. Das hat den fünfzig Jahre später Berichtenden zu dem Ausruf hingerissen: ›Freiheit konnte sein, Lebertran mußte sein!‹ Natürlich siegte der Lebertran. Und ist es, mein lieber Freundlich, vor wenig mehr als einem Jahr, als wir den realen Sozialismus gegen den gleichfalls realen Kapitalismus tauschten, nicht genauso banal zugegangen? Nur daß anstelle von Lebertran diesmal die westliche Banane im Angebot war. Vom 17. Juni nicht zu reden. Zwar wurde auch damals Freiheit als höchster Handelswert ausgerufen, doch nach dem Auftritt der sowjetischen Panzer war Stille gleichfalls billig zu haben. In einem Kulturbundvortrag, der mir, wie Ihnen vielleicht noch erinnerlich ist, viel Ärger eingebracht hat, ging ich zwar von den achtundvierziger Märzereignissen aus, indem ich den vormaligen Revoluzzer zitierte: ›… lebte meinerseits mehr der Überzeugung von der absolutesten Unbesiegbarkeit einer wohl disziplinierten Truppe jedem Volkshaufen, auch den Tapfersten gegenüber …‹, zog aber dann gewagte Parallelen zu den Juniereignissen. Denn allzu schnell war man bereit, die obrigkeitliche Rücknahme der Normen für einen Sieg zu halten. So kürzlich hier und abermals. Ob Lebertran oder Bananen käuflich sind, die Freiheit kommt bei solchem Handel allemal zu kurz. Stimmt, lieber Freundlich. Höre und akzeptiere Ihren Einwand. 48 und 53, im März und Juni gab es Tote; diesmal ging es unblutig zu. ›Sanfte Revolution‹ war das Wort. Aber nur deshalb floß kein Blut, weil die Arbeiter- und Bauern-Macht nicht mehr Staat sein wollte, vielmehr beschloß, in dem anderen aufzugehen, auf daß wir nun dem vergrößerten Weststaat – dank unserer Mitgift, dem Knacks in der Biographie -zur Last fallen werden, bis der an sich selbst gescheiterte Kommunismus seinen Zwillingsbruder, den jetzt noch vital auftrumpfenden Kapitalismus, gleichfalls in die Grube gezogen haben wird. Diese mir sonst unübliche Schwarzseherei gehört natürlich nicht in die Denkschrift. Aber andeuten will ich schon, daß der damalige Aufmarsch streikender Arbeiter vorm Haus der Ministerien auch den jetzigen Nutznießern des Gebäudes, also der Treuhandanstalt blühen könnte. Zweifelsohne soll hier eine kolossale Privatisierungsmaschine in Gang gesetzt werden. So etwas wird auf Dauer nicht hingenommen. Und deshalb wurde mir beim Rückblick auf die achtundvierziger Märzgefallenen bis zur Schmerzgrenze deutlich, daß ein aufständisches Volk, und wenn es nichts hat als seine nackten Hände, schließlich doch notwendig stärker ist als die wehrhafteste geordnete Macht; wenn nicht heute, dann morgen. Damit soll es genug sein. Wie ich Ihrem wie immer unterhaltsamen Brief entnehme, hält der Fußballclub Carl Zeiss Jena (wenn auch zuunterst) seinen Tabellenplatz und beginnen Sie, Ihrem an sich mißlichen Zustand ersten Geschmack abzugewinnen, indem Sie Ihr Vielwissen in Sachen Jurisprudenz auf neuesten Stand bringen und sich als Steuerberater nützlich machen. Recht so! Steuerberatung muß sein! Wir lassen uns nicht aufs tote Gleis schieben. Wie telegen auch immer die Zeiten auf Krieg gestimmt sind, wir dürfen nicht schlappmachen. Selbst Ihren Töchtern wird Israel mittlerweile als fragwürdig erscheinen, so begeistert sie sich auf den Weg ins Gelobte Land gemacht haben. Andererseits weiß man nie. Jeder Krieg schnipselt sich seine Helden zurecht. Uns bliebe dann nur ein gehäufter Löffel Resignation, der aber durchaus belebend sein kann … Was Ihre freundliche Nachfrage nach meiner Emilie betrifft: Der geht es mal so und mal so. Gestern noch war ihr sterbenselend, doch heute früh begann sie, mit dem Rehleder alle Fenster zu putzen. Von meiner Tochter bekomme ich nur mecklenburgische Mißlichkeiten zu lesen. Der Ehestand bekommt Mete nicht. Aber das ist, wie Sie wissen, ein zu weites Feld. Am besten, man gewöhnt sich und klagt nur mäßig. Schließlich bleibt, wie man im Westen sagt, viel zu tun: ›Packen wir’s an!‹ In diesem Sinne will ich mich wieder über meine Denkschrift hermachen, der insgesamt ein lebendiges, mehr noch, ein zwingendes Bild fehlt …«

Darüber verging der Januar, ein Monat, der mit Stürmen auftrat, ab dessen Mitte in der Golfregion nur noch die Waffen sprachen, neue Vernichtungssysteme erprobt wurden, Ölfelder in Brand gerieten, die Börsenkurse mit Kriegsbeginn stiegen, dann wieder fielen, ein für clever gehaltener Ministerpräsident zurücktrat und sich nach Thüringen verdingte, sowjetische Panzer in Litauen gegen die protestierende Bevölkerung zum Einsatz kamen, Gorbatschows Stern zu sinken begann und seit plötzlichem Kälteeinbruch Schnee fiel. Aber ab Anfang Februar, als der Golfkrieg alltäglich zu werden drohte und die Renovierungsarbeiten im Treuhandgebäude deutlich voranschritten -die Marmoreinfassungen der über zweitausend Zimmertüren glänzten auf poliert –, gelang es Fonty, das ihm fehlende Bild zu finden. Wie immer, wenn es am Lebendigen mangelt, half bloße Anschauung. Er sah, als er im Erdgeschoß in den aufsteigenden Paternoster steigen wollte, aber zwei wartende Elektriker vor sich hatte, in einer absteigenden Paternosterkabine jemanden, dessen Anblick ihm von Photos bekannt war: den Chef der Treuhand.

Allein, doch von kräftiger Statur die Kabine füllend, kam er mit den Hosenbeinen zuerst, dann in ganzfigürlichem Flanell von oben, wo er die zukünftige Chefetage besichtigt haben mochte. Jemand, von dem Willenskraft ausging. Eine Person, der mit Jacke und Hose der Erfolg wie angepaßt saß. Ein ganzer Kerl sozusagen. Kaum hatte der Chef mit sicherem Schritt die Kabine verlassen, kaum war er an Fonty, der gegrüßt wurde und zurückgrüßte, vorbei, und kaum waren die Elektriker mit ihren Werkzeugkisten nach oben verschwunden, sah Fonty, der nicht einstieg, vielmehr zögerte und dem mit Gefolge davoneilenden Chef nachblickte, sich selbst um ein halbes Jahrhundert rückversetzt. Er sah sich in Luftwaffenuniform und mit schräg sitzendem Käppi gleichfalls im Erdgeschoß auf die nächste freie Paternosterkabine warten, vor ihm zwei Offiziere. Es war der Reichsmarschall, der von oben kam. Die blankgewichsten Stiefel kamen zuerst, aus denen sodann die mit Marschallbiesen besetzten Hosen beutelten. Nun kam in ganzer Fülle die bekannte Figur, schließlich der feiste Kopf und dessen weicher, um Härte bemühter Ausdruck. Seine Kostümierung entsprach dem geflüsterten Berliner Spott jener Jahre: »Rechts Lametta, links Lametta, in der Mitte ganz ein Fetta.« Fonty, oder besser, der Gefreite Wuttke sah die Brust voller Orden und den Pour le mérite unterm fleischig gepolsterten Kinn, sah, wie in dem aus Wochenschau und von Photos bekannten Gesicht zwei Schauspieler namens Kleinmut und Größenwahn miteinander kämpften, er sah, wenngleich weggeschminkt, die Spuren unstillbarer Morphiumsucht in des Reichsmarschalls zur Schau gestellter Maske. Mag sein, daß Fontys Rückblick vergleichsweise ein Photo im Auge hatte, das seit kurzem an der Pinnwand seines Treuhandzimmers hing und den eher schlaff wirkenden Marschall während des Nürnberger Prozesses auf der Anklagebank abbildete. Nach der Urteilsverkündung hat er eine Giftkapsel zerbissen. Nur in Fontys Rückblick war er leibhaftig. Beim Ausstieg stand ihm ein Adjutant bei. Die nächsten absinkenden Paternosterkabinen brachten des Reichsmarschalls Gefolge. Die Offiziere vor Fonty verpaßten ihre auf steigende Kabine und grüßten militärisch, wie es weniger zackig Fonty tat, der seine rechte Hand eher reflexhaft zum schräg sitzenden Käppi führte. Verlangsamt lief nun der Film, Zeitlupe, Schnitt. Kaum war dieser Streifen vorbei, begann Fonty aus gleichem Blickwinkel, doch mit neuer Filmrolle den historischen Übergang zu drehen. Nach so vielen Uniformen ordnete er nachkriegsbedingte Zivilkleidung an und ließ den späteren Staatsratsvorsitzenden Walter Ulbricht, den das Volk »Spitzbart« nannte, in sinkender Kabine aufkommen: mit Bäuchlein und sächsisch verkniffen. Fonty stellte sich den Parteisekretär vor, wie er am 7. Oktober 1949, gleich nachdem der erste deutsche Arbeiter- und Bauern-Staat ausgerufen worden war, im Paternoster Stück für Stück ankam und im Erdgeschoß ausstieg. Von ihm gab es an der Pinnwand im Treuhandzimmer gleichfalls ein Photo, doch waren auf diesem Archivbild zwei Personen zugegen: Neben Ulbricht saß Goebbels, der Kommunist neben dem Nazi, der Spitzbart neben dem Klumpfuß. Und beide waren zu Beginn der dreißiger Jahre dabei, in Berlin den Streik der Verkehrsbetriebe zu organisieren; aus ihrer Sicht waren die Sozialdemokraten Feind Nummer 1. Fonty war sich nicht sicher, ob der spätere Staatsratsvorsitzende – der, seines Vornamens wegen, viel später literarisch als »Sachwalter« umschrieben wurde – von oben herab allein kam oder ob neben ihm, größer als er, sein Begrüßgustav Otto Grotewohl stand. Mit Wilhelm Pieck gemeinsam, dem dritten Genossen im Bunde, wäre die Kabine zu eng gewesen. Fonty beschränkte sich auf den Spitzbart. In seinen viel zu weiten Hosen ließ er den Sachwalter des taufrisch ausgerufenen Staates ins Bild kommen und mit sicherem Hüpfschnitt aussteigen. Auch ihm war Gefolge nachgeordnet. Da Fonty bei dieser historischen Paternosterfahrt nicht Augenzeuge gewesen ist, mußte er nicht grüßen; als aber Ulbrichts Nachfolger, der Mann mit dem Hütchen, den Ost und West »Honni« nannten, kurz vor Schluß und Mauerfall, gerade noch rechtzeitig und aus Anlaß der Feiern zum vierzigjährigen Bestehen des Arbeiter- und Bauern-Staates, das Haus der Ministerien besuchte, sah der Aktenbote Theo Wuttke, Fonty genannt, auch diesem historischen Abstieg zu: die Schuhe voran, das Hütchen zuletzt.

Nun war die Reihe komplett. Weitere Auftritte gab die Historie vorerst nicht her, wenngleich er allzu gerne die aus Bonn angereiste regierende Masse in eine Kabine gezwängt und in absinkender Tendenz nachgewiesen hätte. Fonty ließ den Episodenfilm noch einmal und abermals ablaufen. Im Paternoster geeint. Vom Reichsmarschall bis zum Chef der Treuhand. Die Denkschrift hatte ihr zwingend zeitraffendes Bild. Zugleich sah er sich in wechselnden Zeiten immer wieder auf eine steigende Kabine warten. Er begriff die Mechanik der Wende in Gestalt eines rastlos dienstwilligen Personenaufzugs. Soviel Größe. Soviel Abstieg. Soviel Ende und Anfang. Doch nach Schwerin schrieb er an seine Tochter Martha nur knapp: »Sah kürzlich unseren Chef aus dem Paternoster steigen. Was dieser Mann sich zumutet, ist zuviel. Eine kolossale Machtfülle, die eigentlich niemand gutheißen kann. Letzte Entscheidungen über Menschen und Eigentum, auf die – da bin ich mir sicher -Haß antworten wird. Mit erstem Blick gesehen: ein forscher Kerl. Ist Erfolg gewohnt. Versteht es zuzupacken. Hat was Gewinnendes. Möchte aber nicht in seiner Haut stecken …«

Ein weites Feld
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