ZWEITES BUCH

9 Es sind die Nerven

Die Kollwitzstraße ist eine zum gleichnamigen Platz führende Verlängerung der von der Dimitroffstraße gekreuzten Senefelderstraße. Früher, als Tante Pinchen hier wohnte, hieß sie anders, wie auch der Platz nicht den Namen der einst hier ansässigen Künstlerin trug; Wörther Platz hieß er, und die Straße hieß Weißenburger. Käthe Kollwitz konnte den Blick nicht abwenden: Sie hat menschliches Elend gezeichnet, was Grund genug war, ihren Namen unter Verbot zu stellen oder zu ehren. Ähnlich hatte sich die jeden Systemwechsel nachäffende Umbenennung von Plätzen und Straßen im Bezirk Prenzlauer Berg und anderswo niedergeschlagen. Wenn im »Stechlin« Schickedanz sagt: »Straßenname dauert noch länger als Denkmal«, ahnte er nichts von der bald und rabiat aufkommenden Kurzlebigkeit des Gedenkens; denn ob es bei Kollwitzplatz und der gleichnamigen Straße bleiben würde, war zu Beginn der allerneuesten Wechsel- und Wendezeit nicht sicher. In anderen Stadtteilen liefen bereits Anträge, nach deren heftigem Verlangen hier eine Heinrich-Heine-Straße, dort ein RosaLuxemburg-Platz dran glauben sollte. Allerdings war man im Sommer 90 noch um Namen verlegen, mit deren Hilfe die angekündigte Einheit Deutschlands hätte befestigt werden können. Das Mietshaus Nummer 75 lag in Richtung Platz auf der rechten Straßenseite. Beiderseits der scheunentorbreiten Durchfahrt zum Hinterhof, von deren linker Mitte der Treppenaufgang ins Vorderhaus führte, bewahrte brüchiger Putz einige Handelsangebote aus vergangener Zeit auf: Rechter Hand waren, laut schwarzer, zum Teil versunkener Schrift, »Holz, Kohlen, Briketts und Koks« vorrätig gewesen; linker Hand hatte ein Flickschuster eine Kellerwerkstatt als »Besohlanstalt« betrieben. Noch mehr bot der Fassadensockel des Nachbarhauses: Dort waren einst »Kurzwaren. Schuhcreme, Butterbrot- und Klosettpapier« sowie »Dosen und Gläser jeder Größe« über den Ladentisch weg verkauft worden. Doch hier zählt nur die Nummer 75, ein vom Hochparterre an dreistöckiges Haus, in dessen von Nebengebäuden, Schuppen und Brandmauern verengtem Hinterhof ein Kastanienbaum die Kriegs- und Nachkriegszeiten überlebt hatte. Bis zum Dachgeschoß hoch, wo die Wuttkes ihre dreieinhalb Zimmer bewohnten, zeigte der Baum die Jahreszeit an, indem er winterliches Licht durchließ, mit Knospen prahlte, großblättrig Schatten gab und im Oktober die stachligen Schalen seiner sanft gerundeten Früchte auf geteerte Schuppendächer und den hartgetretenen Grund des Hofes warf. Nicht nur Kinder sammelten ein; auch Fonty hob frisch gefallene, noch feucht glänzende Kastanien in beiden Manteltaschen auf Jahr um Jahr, oft bis in den Dezember hinein. Und alljährlich ärgerte sich Emmi über ruiniertes Taschenfutter: »Ist manchmal richtig kindisch, mein Wuttke. Was er sieht, hebt er auf.« Es war aber ein heißer und bei Windstößen staubiger Julitag, an dem Hoftaller den verhinderten Englandreisenden bis zur Haustür heimführte. Ab U-Bahnstation Senefelder Platz trug er sogar beide Koffer. Mag sein, daß sich Fonty, dem nur die Tüte anhing, die letzte Wegstrecke lang zum jünglingshaften Schritt zwingen konnte, doch vom Kollwitzplatz an hatte er Blei in den Sohlen, und vorm Haus angekommen, verschleppte er seine Ankunft weiterhin und wollte nicht treppauf. Er trat auf der Stelle. Das Mietshaus und dessen von Stockwerk zu Stockwerk wechselnder Geruch erschreckte ihn.

Sein sonst übliches »Also bis morgen dann« hielt er zurück und erfand eine Menge Vorwände für gnädigen Aufschub, indem er das Wetter, die Tagespolitik und die Fassadeninschriften – rechts den verjährten Kohlenhandel, links die einstige Flickschusterei – als Themen für unterhaltsames Zeitschinden ausprobierte. Er sagte: »Eigentlich mag ich ja Hitze.« Oder urteilte: »Kolossal ridikül dieser Pastor mit Bart als oberster Dienstherr der Volksarmee. Habe schon immer gewußt, daß in meinen Landpfarrern enorm viel Ehrgeiz steckt.« Die verwitterte Mauerinschrift »Besohlanstalt« wurde zum wiederholten Mal »furchtbar witzig« genannt. Er erzählte Anekdoten aus Tante Pinchens Leben und von ihrer Not mit dem stets betrunkenen Ernst-August Piontek, einem Flickschuster, der die Besohlanstalt so lange an halbwegs nüchternen Tagen betrieb, »bis der Suffkopp am Ende war und vom Schemel fiel, worauf meine Emilie bei ihrer verwitweten Tante Wohnung fand. Das war anno neununddreißig, kurz vor Kriegsbeginn …« Aber Fonty wollte eigentlich weder über die junge, schon als Bürolehrling mollige Emmi noch über die alte, wie er sagte, »vor der Zeit gealterte« Frau Wuttke reden, vielmehr geriet er, während sich Hoftaller »hinter moltkehaftem Schweigen« vermauerte, in ein Geplauder, das vor- wie rückläufig Zeit raffte; so unablässig lief ihm der Faden von der Spule. Im Verlauf seiner Filibusterrede klapperte Fonty alle Stationen der vorzeitig beendeten Reise ab. In London ließ er keine Kunstgalerie, in Schottland kein Schloß aus. Alle Schrecknisse des Towers wurden aufgezählt. In jedem Hochmoor stocherte er nach Legenden, um schließlich mit dem Eingangszitat aus »Macbeth«, »When shall we three meet again«, und dem Hexentreff »Um die siebente Stund am Brückendamm« bei einer seiner späten Balladen zu verweilen: »Die Brück’ am Tay« wurde am 10. Januar 1880 in Paul Lindaus »Gegenwart« veröffentlicht und beruhte auf einer Zeitungsnotiz, die unter der Rubrik »Vermischtes« von einem Eisenbahnunglück in Schottland Bericht gegeben hatte. Strophe nach Strophe reihte Fonty vorm Hauseingang Kollwitzstraße 75. Er begann mit der Ankündigung des »trotz Nacht- und Sturmesflug« pünktlichen Edinburgher Zugs: »Ich seh einen Schein am anderen Ufer. Das muß er sein«, datierte nun, auf Wunsch des Brückenwärters, die von den Hexen heraufbeschworene Katastrophe aufs Weihnachtsfest: »Zünd alles an wie zum Heiligen Christ«, reimte sich in dramatischer Steigerung voran: »Denn wütender wurde der Winde Spiel«, war schon beim Zugunglück auf der Brücke: »Erglüht es in niederschießender Pracht überm Wasser unten … Und wieder ist Nacht«, worauf er mit dem Kommentar der drei Hexen »Tand, Tand ist das Gebilde von Menschenhand« abschloß und wieder einmal Hoftaller bewiesen hatte, was alles ihm geläufig war. Wie die Fassade, vor der er stand, den untergegangenen Einzelhandel memorierte, entstaubte er eine Schulbuchballade; aber aus dem Abschiedsbrief, den er für Frau und Tochter auf den Küchentisch gelegt hatte, wollte er nichts, keinen Halbsatz zitieren. Sein Zuhörer gab sich dennoch zufrieden: »Großartig, Fonty! Sowas hör ich immer gerne, besonders diese Ballade. Da sieht man, was ein Könner aus ner bloßen Kurznachricht, die in der Vossischen stand, machen kann. Bezweifle, daß unsere Prenzlberger Talente sowas Schauriges hinkriegen. Läßt sich ne Menge dazu sagen. Zwar kommt mir das Ganze übertrieben fatalistisch vor, doch Ihr Hexeneinmaleins stimmt vorn und hinten. Wird einem ja tagtäglich bestätigt, daß alles vergänglich ist. ›Tand, Tand ist das Gebilde von Menschenhand.‹ Gut gereimt, Fonty! Sehe ich ähnlich. Muß mich nur im eigenen Dienstbereich umgucken. Was, außer Papierkram, ist von unserer Staatssicherheit geblieben? Wohin haben sich die führenden Genossen verkrochen? Memoiren schreiben sie … Nichts bleibt vom Klassenbewußtsein … Tand, alles Tand … Aber nun ist genug gejammert. Sie und Ihr Reisekoffer sollten sich langsam treppauf bewegen. Wird sich Sorgen machen, Ihre Emmi. Und auch mich ruft, wie man so schön sagt, die Pflicht. Wissen Ja, wie das läuft. Muß neu Bericht verzapfen, reine Routine. Werde mich aber kurz fassen können und Ihre vernünftige Umkehr lobend erwähnen. Hochmoore, Schloßruinen auf schottischer Hexenheide, alles bestens, aber gebraucht werden Sie hier, besonders in Wendezeiten, in denen alles, na ja, alles von Menschenhand, auf der Kippe steht.« Abrupt ging Hoftaller. Kein Blick über die Schulter zurück. Bis in Höhe der verwitterten Fassadenangebote am Putzsockel des Nachbarhauses – »Kurzwaren, Schuhcreme, Butterbrot- und Klosettpapier« – hörte Fonty, daß sich sein davontippelnder Tagundnachtschatten nicht von einem allzeit triftigen Hexenbefund trennen konnte. Doch nicht düster, eher gutgelaunt wiederholte Hoftaller den Ohrwurm: »Tand, Tand ist das Gebilde von Menschenhand«, auch dann noch, als Fonty schon mit seinem Reisegepäck treppauf stieg.

Wir vom Archiv sind es gewohnt, bereits Gesichtetes nochmals zu überprüfen, feststehende Beurteilungen in Zweifel zu ziehen und Quellwasser auf unsere Papiermühle zu leiten, gleich, ob es sprudelt oder nach kurzem Erguß zum Rinnsal wird. Von Berufs wegen sind wir neugierig. Zeitzeugen wollen gehört und unmittelbar am Geschehen beteiligte Personen müssen, so subjektiv fragwürdig ihr Urteil ausfällt, befragt werden, auch Familienmitglieder, die sich gern in betretenes Schweigen retten.

Doch Fontys Tochter Martha gab Auskunft: »Und ob uns Vater nen Schreck eingejagt hat! Mama war außer sich, als sie den Brief auffem Küchentisch fand. Und was er da alles fein säuberlich drumrum gelegt oder draufgepackt hat, sozusagen als Briefbeschwerer: lauter Orden von früher. Na, vom Kulturbund die BecherMedaille in Bronze. Und die Aufbaunadel in Silber, die ihm die Nationale Front, glaub fünfundsechzig, angesteckt hat. Und den Vaterländischen Verdienstorden, nur in Bronze natürlich. Und noch paar Medaillen und Aktivistennadeln. Genau, sah ziemlich makaber aus. Ich war ja schon aussein Haus und Mama noch im Bett, als er sich weggemacht hat, ganz leise auf Socken, ohne Reisekoffer. Den hat er im HdM, womöglich im Keller oder vielleicht unterm Dach abgestellt gehabt. Jedenfalls saß Mama wie verhagelt, als ich gegen Mittag zurückkam, weil ich dienstags nur vier Stunden auffem Plan hab. Kein Wort, aber schob mir wortlos den Brief hin. Ahnte schon im Prinzip, was da drin stand, als ich den Ordenssalat auffem Küchentisch sah. Na, was schon! Sein übliches Gestöhn: ›Kann nicht mehr. Ist nicht mehr tragbar. All die Jahre wie eingemauert. Immer gegängelt. Da hilft nur Abschied nehmen und untertauchen …‹ Genau, steht hier wortwörtlich: ›Will untertauchen und dort, wo es still ist, auftauchen wieder.‹ Und das noch: ›Will irgendwo bescheiden am Rand meiner Diogenestonne sitzen und die Welt beschweigen …‹ Natürlich dicke Entschuldigung und tausend Dank an Mama für ihre ach so oft strapazierte Geduld. Und für mich jetzt schon ›Glückwünsche für die liebe Mete‹, wobei er wieder mal meinen Verlobten mit dem Mann von der historischen Mete verwechselt hat. Der hieß ja, wie Sie wissen, Fritsch und nicht Grundmann wie mein Heinz-Martin. Also, hier steht es, bittschön, sogar mit Tinte in Schönschrift: ›Macht nichts, daß er seit zwei Monaten erst Witwer ist. Dieser kurze Abstand zwischen Todes- und Hochzeitstag schafft nun zwar allerlei Verlegenheit, dennoch hast Du alle Ursach, glücklich zu sein. Dein Herr Fritsch ist ein kluger und gescheiter Mann von guter Gesinnung …‹ Und so weiter bis hierhin: ›Zwar weiß ich mich von allen kleinstriezigen Gedanken über Eheglück frei, doch wünsche ich Euch zum Hochzeitstag …‹

»Na, das kann ich natürlich meinem Zukünftigen nicht erzählen, sowas. Und hier, da bittet er Mama, seinen ›Brieffreund Friedlaender‹, genau, diesen Juden von damals, der irgendwas, glaub, Richter im Riesengebirge gewesen ist und den es natürlich nicht mehr gibt, von seiner Abreise zu benachrichtigen. Genau! Er meint im Prinzip diesen Professor aus Jena, Freundlich heißt der und ist natürlich auch Jude. Und ausgerechnet diesem Klugscheißer, den Mama noch nie verknusen gekonnt hat, sollte sie schreiben, daß endlich auch er von den Privilegien der Reisekader Gebrauch machen kann. Was ja stimmt. Denn bis vor kurzem noch durfte Vater nie raus, jedenfalls nicht Richtung Westen. Aber dieser Freundlich, der durfte und durfte, bis er sich unbeliebt gemacht hat bei den Genossen wegen Revisionismus und fehlender Festigkeit des Standpunkts. Nur Vater, der zwar Kulturschaffender war und jede Menge Orden und sogar Prämien bekommen hat, gehörte nie zum Reisekader. Na ja, vor achtundsechzig durft er paarmal nach Prag und Karlovy Vary auf Kur, doch mehr war nicht drin. Nee, an diesen Freundlich hätt Mama nicht mal ne Postkarte … so arrogant, wie der ist. Und dann noch das hier, was uns den Rest gegeben hat. Kann man eigentlich nicht laut vorlesen, was da steht: ›… um neun Uhr ist alles aus. Nicht im Sinn einer Todessehnsucht, sondern nur in dem tiefen Verlangen nach Ruhe. Ein so glückliches und bevorzugtes Leben, so viel Freiheit trotz Zwang, so viel gelebte Unsterblichkeit: und doch, was soll der Unsinn!‹ Ziemlich wirr alles, aber Sie vom Archiv werden schon wissen, was Fakt ist., wo genau er das herhat und was er alles dazwischenmixt, wenn er sich reinsteigert und denkt, er ist was Besonderes. Doch Mama, die immer alles ganz wörtlich nimmt, war fix und fertig. Na, weil sie mit Vater drinsteckt in dieser verdammten Rolle. Wir mußten ja beide, damit er Ruhe gab, mitspielen all die Jahre lang. War das ein Theater manchmal. Nur die Jungs machten nicht mit, Georg schon gar nicht. War ihnen peinlich. Sind deshalb drüben geblieben bei Tante Lise, wo sie auf Ferien waren, als die Mauer kam. Na, weil sie das nicht aushalten konnten. Ich schon. Schon als Kind, wenn Vater mich mitnahm auf Kulturbundreise, war ich seine Mete und angeblich hugenottisch, wie Mama und er sowieso. Dabei ist sie ne geborene Hering und stammt genau wie Tante Pinchen aus Oberschlesien. Und Vater, selbst wenn er immer sagt: ›Theo Wuttke, das ist nur amtlich und taugt allenfalls fürn Rentenbescheid‹, hat natürlich kein Tröpfchen Französisches in sich, jedenfalls nicht, daß ich wüßte. Nix ist da dran. Aber weil Geburtstag und Neuruppin gleich sind, nur alles genau hundert Jahre später, hat ihm das gereicht. Und alle haben mitgemacht, na, Sie doch ganz besonders, die Herren Bescheidwisser vom Archiv. Macht Spaß, nicht wahr, dem alten Mann zuzuhören, wenn er alles, aber auch alles auswendig brabbelt. Ein Stichwort reicht, und schon kann er das Wasser nicht halten. Genau, Sie sagen es: Ellenlange Balladen, halbe Romanseiten, das märkische Zeug, sogar die ollen Kriegsschmöker hat er intus. Und uns, nicht nur Mama und mich, auch die Jungs, als die noch hier waren, hat er gezwungen, nein, gezwungen stimmt nicht … Aber wir haben uns fügen müssen und ja und amen gesagt, jedenfalls im Prinzip. Mama, weil sie mußte, und ich, weil ich verdammt nochmal an ihm häng und ihn bewundert hab sogar, als Kind schon, wenn alle geklatscht haben zum Schluß, na, in Oranienburg oder Potsdam, wo ich oft mit war. Nix war mir peinlich. Aber die Jungs, die ja älter waren, besonders Georg, haben nicht mehr mitmachen gewollt. Sagte ja schon, daß sie deshalb im Westen geblieben sind. Noch heut ist Friedel sauer wegen dem Unsterblichkeitstick, wie er sagt. Und bestimmt will Teddy deswegen nicht zur Hochzeit kommen. Am meisten aber hat Georg, sein Liebling, quergeschossen, sogar von drüben noch: ziemlich gemeine Briefe. Verhöhnt hat er ihn: Parteiredner, Genosse Witzbold und so. Aber Fakt ist, daß Vater nie Mitglied gewesen ist, wie ich etwa, weil ich geglaubt und geglaubt hab, viel zu lange natürlich … Na klar, daß in Vaters Brief auffem Küchentisch kein Wort stand über die Jungs, nur über Mama und mich. Bin ja oft genug mit ihm auf Tour gewesen, hab sogar seine Wanderungen, wie sie im Buch stehn, mit ihm abgelaufen am Wochenende. War fünfzehn oder sechzehn, jedenfalls schon mit Blauhemd, genau. Und da standen wir dann, als er in Rathenow nen Vortrag gehalten hat, hinterher beide vor Kattes Gruft in Wust. War richtig unheimlich drinnen. Und Vater hat über Katte geredet, als wär das gestern passiert: Kopf ab und so. Und vorher noch Kußhand vom Kronprinz. Aber vom Herrenhaus nix mehr da. Sag ja: immer zu Fuß, kreuzquer durch die Uckermark oder ab Freienwalde alles erwandert. Übern Schwielowsee natürlich, von Caputh mit nein Dampfer. Oder ab Lübbenau innen Spreewald rein. Schloß Kossenblatt: krieg jetzt noch nen Schauder, weil Vater überall seine Gespenstergeschichten … Weiße Frau und sowas … Und immer wieder in die Ruppiner Gegend: per Bahn, per Dampfer, zu Fuß … Wenn ich zurückdenk, war gar nicht mal übel mit ihm auf Schusters Rappen … All die Pfarrhäuser, die meistens Bruchbuden waren. Aber interessant, was man hörte, auch wenn keine Politik vorkam, nur Kirchenbücher, Chroniken, langweilige Sterberegister. Von Sozialismus kein Wort. Kam einfach nicht vor. Und Vater wußte immer Bescheid, na, über alles. Er traf sich da manchmal mit Leuten, die so verrückt wie er nach Altertümern waren. Genau, all die Generäle und das gesamte Adelsgesocks. Lauter Reaktionäre, hab ich gedacht und deshalb … Geb ja zu, daß ich ein paar Berichte … na, über angebliche konspirative Treffs: Hab mich mißbrauchen lassen von diesem, na, Sie können sich denken, von wem. War zwar erst vierzehn oder knapp fünfzehn, ist aber trotzdem ne miese Nummer gewesen, auch wenn nix drin stand von ›antisozialistischen Umtrieben‹ oder so, nur, daß da ziemlich langweiliges Zeug gequatscht wurde. Klar, heut schäm ich mich, aber damals … Weiß noch genau, wie sich Vater in Kossenblatt mit dem Schriftsteller, Sie sagen es, de Bruyn war das, stundenlang rumgestritten hat, ob der Graf Barfus vom Soldatenkönig gezwungen wurde, sein Schloß zu verkaufen, und ob son Ölschinken mit der Familie von Oppen drauf ein Original war oder bloß ne Kopie. Und dann die Sache mit dem Hirschgeweih, das nach Sachsen verkauft wurde und deshalb sogar irgendwo bei Karl May vorgekommen sein soll. War ja im Prinzip alles ganz harmlos. Hab deshalb auch vom Schloß, das mit den toten Vögeln drin gebrannt hat, nix geschrieben, weil Vater alles bloß hinphantasiert hat, um mir nen Schreck einzujagen. Sind aber trotzdem meine schönsten Kindheitserinnerungen. Und wenn ich mitdurfte, wenn er beim Kulturbund, wie Vater gesagt hat, ›vorsingen‹ mußte, war ich ganz glücklich manchmal. Weiß noch, in Cottbus, über Frauengestalten: Melanie, Effi, Corinna, Stine, Mathilde und so weiter. Oder bei Ihnen in Potsdam, über ›Schach von Wuthenow‹ natürlich, wie die Frau von Carayon zum König geht und der immer so abgehackt preußisch redet: ›Erinnere Kinderball. Schöne Tochter. Damals. Sehr fatal. Sich setzen, meine Gnädigste …‹ Vater konnte das gut nachmachen. Haben alle geklatscht und gelacht. Er redet ja manchmal selber so, na, wie’s hier im Brief steht: ›Spiel nicht gern den Moralisten. War immer ein Singleton. Immer bloß Zaungast. Dinge beobachten ist besser als Dinge besitzen. Will deshalb abtauchen … (Und dieser Kerl, na, sein Tagundnachtschatten, wie Vater sagt, redet manchmal genauso: ›Wolln doch vernünftig bleiben. Finden doch selbst, daß der Westen nichts taugt. Will nicht Meldung machen müssen … Kann aber auch anders …‹ Jedenfalls war das ganz witzig damals in Potsdam. Vorher gab’s Kaffee und Kuchen beim Kreissekretär vom Kulturbund. Im Prinzip nette Leute meistens. Aber warum mich Vater manchmal mit seiner Corinna Schmidt verglichen hat, weiß ich bis heut nicht. Wär ja was, wenn ich die kesse Lippe von der hätte, na, wie die mit der Treibelschen abgerechnet hat, freiweg. Möcht ich auch manchmal, besonders Vater gegenüber, wenn der wieder mal durchdreht wie jetzt. Aber nun ist er ja zurück. Und Mama ist natürlich glücklich, trotz allem. Denn was diese Frau mit ›ihrem Wuttke‹, wie sie sagt, durchgemacht hat, geht auf keine Kuhhaut. Und seitdem die Mauer weg ist, wird es noch doller mit ihm. Hängt immer drüben im Tiergarten rum und denkt sich was aus. Fakt ist, daß dieser Kerl, na, Sie wissen schon, ihn am Haken hat. Immer schon im Prinzip. Müßte doch eigentlich Schluß damit sein, seitdem die Normannenstraße dichtgemacht ist und die Firma angeblich Mix mehr zu melden hat. Aber nein! Ohne den läuft nix. Genau! Der hat sogar dafür gesorgt, daß Vater, als er nicht mehr beim Kulturbund vorsingen wollte und einfach alles hinschmiß, den Halbtagsjob im HdM bekommen hat, auch daß er nach der Wende da weitermachen durfte. Mama ist ungerecht, wenn sie immer nur rummäkelt: ›Was ist das schon, Aktenbote?‹ Denn im Prinzip läuft alles bestens für ihn, wenn er beschäftigt ist und obendrein auf seine Rente was draufkommt. Genau, finden wir auch: Für sein Alter ist er immer noch gut auf den Beinen …«

Darin war Martha Wuttke zuzustimmen. Und gleichfalls hätten wir ihre Zweifel am väterlichen Vergleich ihrer Person mit der Romanfigur Corinna Schmidt bestätigen können; sie mußte ohne angeborene Leichtigkeit und schlagfertigen Witz auskommen. Eher sahen wir Martha grobgliedrig beschaffen und von sperrig verschlossener Art, wenngleich ihr, von uns befragt, mehr über die Lippen kam., als ihr Kopf zulassen wollte. Hierin dem Vater ähnlich, neigte sie zu verknappten Sätzen; eine Sprechweise, die neuerdings sogar im Archiv um sich greift und die preußische Wortknapserei parodieren soll: »Habe strammen Briefschreibetag hinter mir.« Nein, sie war keine Corinna, doch ließen sich gewisse Ähnlichkeiten familiärer Art nicht übersehen. Martha Wuttkes plötzliche Verstimmungen führten oft zu heftigen, ja fiebrigen Nervenkrisen, die nicht nur wochenlang ihre pädagogische Tätigkeit unterbrachen, sondern auch einen Vergleich mit ihres Vaters nachgelebten »Nervenpleiten« und den Verbiesterungen der historischen Martha erlauben. Sie ähnelte jener in vielen Briefen verewigten Mete, die uns zudem von archivierten Photos her bekannt ist, auf denen sie schon früh matronenhaft wirkt und den Betrachter, selbst bei versuchtem Lächeln, düster anblickt. Des Unsterblichen leises Mitgefühl »Mete hat beinahe einen heilen Zug, den das Leben nur abgedämpft hat« deutete an, was er an anderer Briefstelle bestätigt: »Du unterzeichnest Dich ›Pechmatz‹, und es ist auch sowas …« Doch bei aller Ähnlichkeit war Martha Wuttke dennoch eine eigenständige Person. Über verschränkten Armen und bei schräger, von Mißtrauen bestimmter Kopfhaltung gab sie uns Antwort, manchmal gewollt schroff, dann wieder flapsig. Nicht daß sie übermäßig berlinerte, doch pflegte sie den ortsüblichen »Sprechanismus« dergestalt nachlässig, daß niemand hinter ihrer Wortwahl eine seit Jahren tätige Lehrerin vermutet hätte. Schließlich unterrichtete sie die Fächer Mathematik und Erdkunde und muß als junges Mädchen sogar gut auf dem Klavier gewesen sein, jedenfalls gab sie uns beiläufig zu verstehen, daß sie »ein paar Sachen von Chopin ganz gut draufgehabt« habe: »Mama wollte natürlich, daß ich weitermach, aber ich wollt nicht mehr. Macht mich krank, Musik. Geht mir ähnlich wie Vater …« Und die Gretchenfrage? Martha Wuttke hat zu ihrer Person mehr gesagt, als zu erwarten gewesen wäre, zum Beispiel, daß sie noch vor der Wende – und zwar »ab März neunundachtzig genau« – raus sei aus der Partei, »endlich«, wie sie betonte, doch komme die Nachfolgeorganisation für sie nicht in Frage: »Wem der Glaube mal futsch ist, hilft nur noch ein radikaler Schnitt. Aber geglaubt hab ich, feste sogar und viel zu lang, na, an die gemeinsame Sache, Sozialismus, Völkerfreundschaft und so. Hatte ein Ziel vor den Augen … War stramm auf Linie … Wie es hieß, unbeirrbar, bis es nicht mehr ging. Auf einmal stimmte rein gar nix mehr. Aus und vorbei. Da bleibt ne ziemliche Leere übrig. Hab lang gesucht und dann ganz woanders angeklopft. Sie ahnen nicht, wo, und lachen womöglich. Na, bei Sankt Hedwig. Denn im Prinzip kommt der Mensch ohne Glauben nicht aus …« Nur andeutungsweise sprach sie von ihrem erwachten Interesse an religiösen Fragen: »Man kann nicht alles rein materialistisch auf Reihe bringen« und machte sich sogleich Sorgen über ihre Zukunft als Lehrerin: »Weil ich so lang in der Partei war. Außerdem soll ab jetzt nur noch kapitalistisch gerechnet werden, kann ich aber nicht. Und wie das bei Erdkunde laufen soll, wenn es um Ölvorkommen und Dritte Welt geht, ist mir ziemlich schleierhaft. Null Perspektive, außer Hausfrau. Man wird ja sehen, was nach der Hochzeit kommt. Das Baugeschäft von meinem Verlobten ist zwar in Münster, aber nun will Heinz-Martin bei uns investieren, was im Prinzip ja richtig ist. Nee, nicht in Berlin, mehr in Schwerin und Umgebung, wo er schon ne Wohnung für uns hat seit neulich …«

Hörte man zu, wenn Martha Wuttke aufs Praktische kam, sprach eher eine Mathilde Möhring aus ihr, selbst wenn es am gemmenhaften Profil mangelte. Und aschblond war sie auch nicht, eher kastanienbraun gewellt wie ihre Mutter vorm Ergrauen. Es kann aber sein, daß sie des Vaters Haar hatte, wenngleich sich uns Fonty weißhaarig eingeprägt hat. Auf dessen jüngste Eskapaden kam sie immer wieder zu sprechen: »Man muß sich vorstellen. Hat mir einfach einen druckfrischen Fünfhunderter in den Brief gesteckt: als Hochzeitsgeschenk! Und wie er mit Koffer und Tüte zurückkam, war er natürlich die Unschuld in Person. Hat irgendwas von ›kleinem Ausflug‹ gefaselt. ›Ist leider ins Wasser gefallen.‹ Und zwar, weil sich, hat er gesagt, eine alte Frau zu ihm ins Abteil gesetzt hat, als der Zug Bahnhof Zoo hielt. Die soll ein schwarzes Huhn auf dem Schoß gehalten haben, genau, ein lebendiges. Na, kapiert? Richtig: die arme Effi, Kessin, das spukende Chinesenhaus, und genau die olle Frau Kruse ist es gewesen, in ihrer überheizten Stube, die immer son schwarzes Huhn auffem Schoß hatte, daß einem gruseln mußte. Und deshalb, hat Vater gesagt, ist er raus aus dem Zug, aus reinem Aberglauben, weil das Unglück gebracht hätte. Aber das stimmt natürlich nicht, auch wenn er sich das Huhn noch so lebendig hinphantasiert hat. Im letzten Moment rausgeholt hat ihn wer anders. Sie wissen schon, wer. ›Muß man noch dankbar sein, diesem Kerl!‹ hat Mama gesagt. Und Vater? Der hat gelacht, als ich ihm den Fünfhunderter zurückgeben wollte: ›Geschenkt ist geschenkt!‹ Dann ist er samt Koffer in seine Stube rein …«

Tags drauf sagte Fonty im Paternoster: »Haben furchtbar recht gehabt, Hoftaller. Kann man nicht machen, Frau und Tochter einfach sitzenlassen. Waren beide froh, als ich ganz außer Puste oben mit Koffer und Tüte ankam. Auffallend viele Küßchen von Mete. Und meine Emilie mal wieder in Tränen. Kenn das ja. Wurde mir aber trotzdem kolossal flau, wie ich die beiden am Küchentisch sah und mir vor Augen trat, welche Folgen mein plötzliches Abtauchen … Hatte mir eine torfbeheizte Hütte inmitten Heide und Hochmoor vorgestellt, versteckt hinter Erlen … Doch dieser Alterssitz wäre meinen an sich liebenswerten Damen kaum verlockend zu machen gewesen. Schon London war für Emilie nur erbsensuppiger Nebel … Wollte mich allein und namenlos dem stumpfsinnig nahenden Vergessen zum Fraß hinwerfen. Sterblich sein, Tallhover! Endlich wollte ich sterblich sein … Hätte Metes Hochzeit abwarten sollen und dann erst … Wäre da oben, abgesehen von den drei Macbeth-Hexen – ›Um Mitternacht, am Bergeskamm. Auf dem hohen Moor, am Erlenstamm‹ –, so gut wie ohne Gesellschaft gewesen. Ganz schön weit weg und der Welt verloren. Schweigt das Leben, so schweigt der Wunsch … Aber so ist es besser, Hoftaller! Verantwortlich handeln. Die Sache durchstehn. Offenen Auges, freiweg … Außerdem will ich meine Mete endlich vorm Traualtar sehn. War immer nur engagiert, nur nicht ›engaged‹. Wird Zeit für das Mädchen, wo sie doch auf die Vierzig zugeht und weit und breit kein Reserveleutnant in Sicht. Hab ihr geschrieben und Glück gewünscht mit dem Herrn Fritsch. Soll tüchtig als Architekt sein und ist Professor sogar … So weit hab ich es nicht gebracht. Ganz zum Schluß noch, bevor es duster wurde, den Ehrendoktor der Philosophischen Fakultät. Kam auf Vorschlag von Schmidt und Mommsen, der – wegen ›Vor dem Sturm‹ ein kleines liking für mich hatte. Meine Emilie, die ja solchen Klimbim schätzte, konnte sich freuen, ich nicht. Kam zu spät. Wäre lieber, als ich da stand im Talar, im Boden versunken und irgendwo anders rausgekommen. Jadoch! Aufgetaucht in einem schwarzbraunen Wasserloch mit Blasenwerfen und Blubbern. Hätte mich dann in der Hütte am Torffeuer trockengesessen und vor mich hingelacht …«

Kichernd verließ Fonty im dritten Stock den Paternoster. Obgleich mit drei Aktenordnern beladen, gelang ihm ein mutwillig jünglingshafter Hüpfer. Hoftaller, der zwischen den Stockwerken Einsicht genommen hatte, fuhr weiter abwärts und traf sich mit Fonty erst wieder nach einer halben Stunde, als jener im zweiten Stockwerk mit erneuter Aktenlast zustieg, woraufhin beide aufwärts fuhren. Ihr eingeübter Kreisverkehr. Ihre Aufundabreisen ohne Angst vor Wendepunkten. Dabei verging Zeit. Dabei ließ sich gut plaudern. Doch diesmal blieb ihr Paternostergespräch einseitig. Hoftaller begnügte sich als Zuhörer, und nur Fonty redete, als hätte er Quasselwasser getrunken. Übervoll, wie nach langer Reise, sprach er sich aus. Mal war er mit dem Jugendfreund Lepel in Edinburgh unterwegs, mal verplauderte er die Stationen seiner ersten, überstürzten Englandreise, die er dem Militärdienst abgetrotzt hatte, dann zitierte er aus dem Londoner Tagebuch: »Im Café Divan Briefe geschrieben … Gearbeitet … Sadler-Wells: Miß Atkinson als Lady Macbeth …« Schließlich spielte der Briefwechsel mit James Morris, dem er zur Zeit seines zweiten Aufenthalts in England Sprachunterricht gegeben haben wollte, eine die Jahrhunderte raffende und vertauschende Rolle. Enthemmt, weil jenseits aller Zeitbarrieren, zitierte Fonty aus einem annähernd vierzig Jahre später an Morris gerichteten Brief, nunmehr als gegenwärtiger Weltstratege: »Die englische Herrschaft in Indien muß zusammenbrechen, und es ist ein Wunder, daß sie bis auf den heutigen Tag gehalten hat. Sie stürzt, nicht weil sie Fehler oder Verbrechen begangen hätte – all das bedeutet wenig in der Politik –, nein, sie stürzt, weil ihre Uhr abgelaufen ist …« Gegen Schluß des aus dem Stegreif zitierten Briefes rückte er, nach der Ablösung Englands, eine andere Weltmacht in den geschichtlichen Vordergrund: »… die ›andere‹ heißt zunächst Rußland. Aber auch Rußland wird nur eine Episode sein …«, um sogleich und nach geflissentlicher Aussparung Amerikas auf die Gegenwart und deren Abstürze zu kommen: »Was wir hier als Fall der Mauer und Kollaps der Sowjetunion erleben, bedeutet nicht Ende, nein, ein sich auf sich selbst besinnendes, nationales, religiöses und dem uralt Überlieferten angepaßtes Leben wird schließlich triumphieren. Schrecklich und unerlaubt dumm, ich weiß. Aber dieser hier nur angedeutete Werdeprozeß vollzieht sich, wohin man blickt, in der ganzen Welt. Dachte anfangs, mein verehrter Herr Morris, es ist ein Segen für die Völker, unter ihnen kleine und kleinste, befürchte nun aber, mit Blick auf Balkan und Kaukasus, das Allerschlimmste. Sollte ich demnächst, was weiterhin zu hoffen mir zusteht, an Ihrem Londoner Kaminfeuer sitzen dürfen, will ich mir gerne alle Trübsal, die mich mächtig erfaßt hat, wegblasen lassen, und zwar mit Hilfe des gesunden Menschenverstandes; ein kolossaler Vorzug, den England immer noch auf seiner Seite weiß …« Als beide den Paternoster im ersten Stockwerk verließen, sagte Hoftaller: »Ist ja gut, Fonty. Ihr Freund Morris kann warten. Noch hält ja die Welt einigermaßen. Sie aber sollten sich nicht allzu sehr erhitzen. Wie wär’s mit Feierabend? Heute ein bißchen früher. Sehen spitz aus, mit Schweiß auf der Stirn. Ihr dünnes Nervenkostüm. Damit ist nicht zu spaßen. Aufpassen sollten wir, höllisch aufpassen! Habe übrigens ne ähnliche Meinung, was den neuesten Groß-, Klein- und Kleinstnationalismus betrifft. Doch wollen wir dabei Amerika nicht vergessen. Und eines Tages wird China … Aber nun ist genug. Mensch, Wuttke! Sie zittern ja richtig. Wollen uns doch nicht krank werden?«

Diese Sorge teilte Fontys Tochter mit Hoftaller, der seinen von Schüttelfrost gepackten Schützling in der Dreieinhalbzimmerwohnung ablieferte: »Die Aufregungen der letzten Tage haben ihn mitgenommen. Schätze, es sind mal wieder die Nerven.« Martha Wuttke bat den Tagundnachtschatten ihres Vaters nicht in die gute Stube. Wenngleich sie ihn, nach Fontys Worten, als »altvertrauten Kumpan« zu akzeptieren und seit Jugendjahren als »Stoppelkopp« zu fürchten gelernt hatte, fertigte sie Hoftaller in der Küche ab und hielt dabei die Tür zum Hausflur offen: »Glaub, daß ihm das Raufundrunter und die ewige Aktenschlepperei nicht bekommt. Man sollte ihn endlich in Ruhe lassen. In seinem Alter hat sich Vater, weiß Gott, ein bißchen Ruhe verdient. Das müßte Ihnen natürlich längst bewußt sein. Kennen ihn doch angeblich aus Kriegszeiten schon. Genau! Alte Kameraden! Von mir aus, bitte. Aber dann sollten Sie für ihn was ausfindig machen, das weniger anstrengend ist. Muß es doch geben in so nein großen Haus. Und zwar wie gehabt, halbtags. Denn im Prinzip haben wir nix dagegen, wenn Vater ner Tätigkeit nachgeht. Darf aber nicht in Arbeit ausarten. Sieht man ja, wohin das führt. Schlottert richtig. Das kommt, weil er sich leicht übernimmt. ›Vater kennt seine Grenzen nicht!‹ sagt Mama. Da ist was dran. Müßten Sie eigentlich wissen, nach so langer Bekanntschaft. Aber ist nix mit Rücksichtnahme. Ausgenutzt wird er, mißbraucht, zum bloßen Objekt gemacht. Sieht Ja wie Spucke aus. Werden wieder die Nerven sein. Kenn ich von mir, wie das anfängt, genau. Müssen wieder mal Doktor Zöberlein rufen. Er wird uns noch krank werden!« Hoftaller bestätigte Martha Wuttkes Befürchtungen, ohne sich zu verteidigen. Er ging, als ihm kein Stuhl angeboten wurde. Fonty hatte sich dem Gejammer um seinen Zustand durch Weghören entzogen. Er saß am Tisch, zitterte in Schüben und bewegte einige Brotkrümel auf dem Wachstuch. Mit gelockerter Krawatte saß er und blickte wäßrig.

Kaum war Hoftaller gegangen, öffnete Emmi Wuttke die Tür der guten Stube einen Spaltbreit zur Küche: »Is er weg endlich! Richtig durchlüften muß man hinterher, wenn dieses Stinktier sich breitgemacht hat. Aber läßt nich locker. Muß meinem Wuttke immerzu auf die Hacken treten. Und ich Dummerchen hab geglaubt, damit isses nu vorbei.« Wir vom Archiv wären gern behilflich gewesen, und sei es mit einschlägigen Zitaten, aber die Nachricht von Fontys Nervenkrise erreichte uns mit Verspätung. Beide Frauen brachten ihn zu Bett. Er ließ das mit sich geschehen. Kein Wort, keine Klage. Nur beim Fiebermessen sagte er leise und doch wie vor Publikum deklamierend: »Tand, Tand ist das Gebilde von Menschenhand.« Als Emmi Wuttke den Hexenspruch schottischer Herkunft hörte, rief sie: »Nu wirste uns och noch krank, Vater!«

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