14 Marthas Hochzeit
Beide gaben ihr Jawort deutlich. Durch mich vertreten, waren wir vom Archiv weit mehr beeindruckt als der Brautvater, der sich wunder was von der Zeremonie in der Hedwigskirche versprochen hatte. Gleich nach der Trauung begann er zu mäkeln, und als er sich später bei Tisch richtig auskollerte, fiel das Wort »Schummelpackung«. Meinen Einwand »Sogar die katholische Kirche muß mit der Zeit gehen« hat er verlacht: »Der Papst hält es mit den Buchhändlern, die wenden sich, wie das Publikum, schnell anderen Göttern zu. Alles lebt nur auf acht Tage hin!« Noch mehr Spitzen schoß Fonty auf dem Bebelplatz ab, wo sich die Hochzeitsgesellschaft bei bedecktem Himmel versammeln mußte; auf Wunsch des Bräutigams mal so, mal so für Photos gruppiert und vor wechselnde Kulissen gestellt, bis sie von einem Regenschauer vertrieben wurden. Mit Mühe fanden sich vier Taxis, und »ziemlich abgeduscht«, wie Fonty sagte, fand die Gesellschaft endlich zum Prenzlauer Berg in die Offenbach-Stuben.
Dort wartete der für nur zehn Personen gedeckte Tisch, an dem nach einigem Hin und Her alle mit Hilfe handgeschriebener Tischkärtchen ihren Platz fanden. Professor Freundlich und Frau hatten nicht kommen können; sie sahen sich, laut Telegramm und zu Fontys Bedauern, leider verhindert: »Unaufschiebbare Universitätstermine …« Doch war aus Jena rechtzeitig ein üppiges Blumenbukett geliefert worden, das sogar Emmi Wuttke gefiel, der die Freundlichs sonst kaum etwas recht machen konnten. Die Tischkärtchen waren Emmis eigenhändig umgesetzte Idee; sie hatte sich seit Schulzeiten einen der Sütterlinschrift abgewandelten Schriftzug bewahrt, dessen kindlich korrekt gezogene Schleifen allen Gästen Eindruck machten. Jemand rief: »Wie niedlich!«, und selbst Fonty packte ein Lob – »Dank sei meiner allen Wechselfällen des Lebens trotzenden Emilie gesagt« – in seine Tischrede, die er jedoch nicht sogleich, sondern erst zwischen der Vorspeise – hausgebeizter Lachs mit Sahnemeerrettich – und dem Hauptgericht namens »Schöne Helena« – rosa gebratene Entenbrust mit Orangensoße, dazu Gemüse und Kartoffelpuffer – stehend und freiweg zu halten begann, wenngleich ihm schon in der Kirche und angesichts des »kolossal ausgenüchterten Katholizismus‹~ nach längerer Rede gewesen war. Zu seinem Sohn Friedel, den er als Kind oder nur von Photos her kannte und der sich ohnehin vorgenommen hatte, beleidigt zu sein, sagte er, als beide noch in Sankt Hedwig familiär Seite an Seite saßen: »Dazu kann man nur schweigen oder eine Menge gepfefferten Unsinn reden. Na wartet, bei Tisch fällt mir sicher was Unpassendes ein.« Wenn es nach Fontys Wunsch gegangen wäre, hätte »Orpheus in der Unterwelt«, nämlich geschmorter Ochsenbraten in Zwetschgensoße mit Speckbohnen, als Hauptgericht serviert werden sollen, doch war es Emmi gelungen, ihm den Orpheus auszureden und – als passend zum festlichen Anlaß – die »Schöne Helena« zu empfehlen; folglich gab ihm die äußerlich kroß gebratene, doch innen saftig gebliebene Entenbrust, kaum saß die Gesellschaft, einige gewagte Anspielungen ein: »Schöne Helena paßt immer. Doch zartrosa muß nicht jüngferlich heißen. Die Braut, unsere schon so lange zuwartende Schönheit, versteht, was gemeint ist.« Solche Einfälle machten Emmi besorgt. Und weil sie auf ihres Wuttke Reden noch nie mildernden Einfluß gehabt hatte, befürchtete sie weitere Ausrutscher; an denen sollte es nicht fehlen, als er an sein Glas schlug und sich erhob.
Kaum war es dem Brautvater gelungen, mit einer eher koketten Entschuldigung -»Ich kann gut plaudern, aber schlecht sprechen« – genügend Auslauf für Eskapaden zu schaffen, nannte er anfangs seiner geliebten Tochter Parteiaustritt und Kircheneintritt ein »ökumenisches Wechselbad«, gewann dann ihrer neuen Perspektive einige Rückblicke ins finstere Mittelalter »inklusive Hexenverbrennungen« ab, prophezeite: »Der Scheiterhaufen kommt wieder in Mode«, wurde nun ganz und gar Fonty, indem er sein Romanpersonal musterte und nach nur kurzem Suchen der Hochzeitsgesellschaft die Schauspielerin Franziska Franz vorstellte, die er eine »übrigens aus Swinemünde stammende Plaudertasche« nannte. Nun erst wurde der Titelheld des Romans, der alte Graf Petöfy, »ein wenig knickbeinig« der Braut zur Seite gestellt und deren in Wien zelebrierte Hochzeit – »natürlich zu Beginn des dreizehnten Kapitels« – als wiederholt vollzogene Trauung abgefeiert: »Denn zuerst wurde in der Augustinerkirche, danach in der protestantischen, die sich in der Gumpendorfer Straße befindet, das Ja ausgesprochen.« Und nun kam er abermals auf die Braut: »Franziska war zwar nicht blutjung, aber – im Vergleich zu dem verlebten und alsbald abgelebten Grafen ungarischen Geblüts -noch immer ein junges Ding, dem das Leben sperrangelweit offenstand …«
Man mußte nicht Kenner des heute vergessenen Romans sein, um die Anspielung auf den Altersunterschied zwischen den gerade Frischvermählten, der achtunddreißigjährigen Martha und dem sechsundfünfzigjährigen Bauunternehmer Grundmann, als riskant zu begreifen, zumal Fonty mit seinem Hinweis auf des »abgelebten Grafen baldiges Ende« den katastrophalen Schluß des Romans ins Spiel brachte und diesen auch noch als »erzähltechnisch geschickt« lobte: »So gelingt es dem Autor, den nur vom Ergebnis her handlungsfördernden Pistolenschuß auszusparen.
Kein Tröpfchen Blut fließt literarisch. Alles Interesse darf sich der jungen Witwe und ihrem Seelenkummer hingeben …«
Dann aber rettete Fonty das Brautpaar, die Tischgesellschaft und sich selbst aus der leichtfertig herbeigeplauderten und von Emmi befürchteten Schieflage, indem er eine seiner von uns bewunderten Volten schlug: »Aber was rede ich da! Altersunterschied muß nicht scheiden! Altersvorsprung ist immerhin Vorsprung! Oder wie schon der greise Petöfy als Lebemann und deshalb genüßlich spekulierte: Der Jugend Überschuß und schneller Verbrauch könne dem genügsamen Alter Wegzehrung sein. Deshalb nochmals: Hauptsache, das ja stimmt!«
Und schon war der Brautvater, der das Auftragen des Hauptgerichts ein wenig verzögern wollte, wieder beim Traualtar und allgemein beim Katholischen angelangt, dessen Wesen er als »in Jahrhunderten geübte Disziplin des längeren Atems« lobte und als »farbenprächtig bis in den Sündenfall hinein« pries, während er dem Protestantismus »eine mehr graphische Linienführung« nachsagte, die »auf weiß gekalktem Grund immerfort Schuld suche und anschwärze«. Damit war der Tischredner bei des alten Grafen so betagter wie frommer Schwester Judith und dem allgegenwärtigen Pater Feßler gelandet und sogleich inmitten jener verräterischen Ringgeschichte, bei der es, gegen Ende des Romans, um Petschaftssprüche geht. Fonty, der einen pointierten Ausklang für seine Rede suchte, nahm, mit Blick auf den als Gast anwesenden Priester, rhetorisch Anlauf: »Hochwürden, ich muß gestehen, daß mir dieser Pater als schwarzer Papist und Anschwärzer jeglicher Irrlehre, ob lutherisch oder calvinistisch, dennoch Eindruck gemacht hat, weil er, wenngleich als ausgewiesener Dunkelmann, freimütig genug gewesen ist, seinen Siegelring mit der Inschrift eines Protestanten, mit der knappen Devise des berühmten Gelehrten Thomas Carlyle, zu zieren …« Als der Redner hier eine Kunstpause einlegte, wollte natürlich die Hochzeitsgesellschaft, voran der Bräutigam, den gravierten Wortlaut wissen. Heinz-Martin Grundmann rief: »Schluß mit der Geheimniskrämerei. Wie heißt denn der Spruch?«
»Entsage!« antwortete Fonty mit, wie immer, genauem Zitat und hob das Glas. Woraufhin alle anderen zögernd, dann aber doch ihre vom Medoc dunklen Gläser hoben: zuerst Emmi Wuttke, die keine peinliche Stille aufkommen lassen wollte; ihr folgte Friedrich, Friedel gerufen, der jüngste Bruder der Braut, den vor Jahrzehnten der Mauerbau zum jugendlichen Ostzonenflüchtling gemacht hatte und der mittlerweile in Wuppertal als Verlagsleiter tätig war; gleich nach ihm folgte die so hagere wie zugeknöpfte Schwester der vor fünf Jahren verstorbenen ersten Frau Grundmann der feierlichen Trinksitte: als verwitwete Bettina von Bunsen hatte sie in Freiburg im Breisgau die beiden mutterlosen Kinder des Bauunternehmers großgezogen; mit ihr zugleich hatte eines der Kinder, Martina, die in Köln Germanistik studierte und für hübsch oder niedlich angesehen wurde, ihr Glas gehoben; jetzt zog Inge Scherwinski nach, die als Freundin und Hausnachbarin der Braut eingeladen war, sich aber ihr schweres Los als alleinerziehende Mutter dreier Jungs nicht ansehen ließ, sondern unbeschwert überm Weinglas lächelte und dabei ihre Mäusezähnchen zeigte; nun griff auch ich zu, der vom Archiv ausgeliehene Trauzeuge, dem des Brautvaters Tischrede beruflich nahegegangen war; zu vorletzt legte der in der Hedwigskirche als Pfarrer amtierende Priester Bruno Matull, der Martha beim Konvertieren geholfen und ihr den ehelichen Segen erteilt hatte, die Finger beider Hände dergestalt priesterlich um das Glas, als wollte er einen Kelch heben; und nun erst griffen sie gleichzeitig zu: die Braut und der Bräutigam; dem war es jüngst gelungen, in Schwerin eine Zweigstelle seiner Münsteraner Firma zu eröffnen. Heinz-Martin Grundmann hob sein Glas in Augenhöhe und rief: »Verstehe: Entsage! Ist originell! Aber, mein lieber Schwiegervater, diesen Hochzeitsspruch werden sich Martha und ich bestimmt nicht in die Ringe gravieren lassen. Einfach köstlich, entsage. Darauf laßt uns anstoßen: Entsage!« Woraufhin Friedel Wuttke seinem Schwager, dem er zuprostete, ins Gesicht lachte. Noch lauter und mitreißender lachte Inge Scherwinski, die mit ihrer Jugendfreundin anstieß. Als sich der Priester ein Schmunzeln über gehobenem Kelch erlaubte, begann die Grundmanntochter Martina zu kichern und steckte damit Frau von Bunsen an. Schließlich lief das Gelächter rundum, denn weder Emmi Wuttke noch ich konnten uns zurückhalten. Was blieb der Braut und dem Bräutigam übrig, als beim Klang der Gläser jenes einzelne Wort lachhaft zu finden, das soviel Heiterkeit ausgelöst hatte. Nur der Brautvater trank dem Brautpaar feierlich ernst zu. Jetzt erst bemerkte ich, daß Fonty auf dem linken Revers seines schwarzen, im Verlauf der Jahre ein wenig zu weit gewordenen Jacketts ein Ordensband samt baumelnder Medaille trug. Sein Anzug für Vorträge, dekoriert während Kulturbundzeiten. Doch wie er in grauer Weste unter der Jacke und mit zur Schleife geordneter Halsbinde dastand und mit weißhaarigem Haupt und überm geneigten Rotweinglas strähnig hängendem Schnauz aufs Wohl der Brautleute trank, wobei er seinen Blick über das Hochzeitspaar hinweg gleiten ließ, hätte er anstelle der für »Verdienste um das kulturelle Erbe« verliehenen Dekoration, links auf der Brust, ein anderes Markenzeichen spät nachklappernder Ehre tragen können: den Hohenzollernhausorden erster Klasse.
Wir stritten ein wenig, ob dem Archiv das Recht zustünde, den chronologischen Ablauf der Hochzeit zu mißachten und die Tischrede einfach vorzuziehen. Korrekt wäre es gewesen, wenn schon nicht mit allen rituellen Einzelheiten der Trauung in der Hedwigskirche, dann doch mit der Vorspeise, mit Lachs, Meerrettichsahne und trockenem Chablis aus alten Gläsern zu beginnen. Ich wäre dafür gewesen, mit Inge Scherwinskis den Akt der Trauung überschwemmenden Freudentränen den Kirchenraum einzubeziehen, und gleich danach hätte der Wirt der Offenbach-Stuben die Hochzeitsgäste begrüßen und mit allen Gastzimmern bekannt machen können. Das darf nun nachgeholt werden, denn es war ja nicht so, daß wir vom Schankraum direkt durch den Flur und an der Küche vorbei in das Musikzimmer geleitet wurden, wo jedem der vielen Instrumente eine Legende anhing und der gedeckte Tisch wartete. Zeit für einen Aperitif – »auf Kosten des Hauses« – gehörte zum Festplan. Und mit gefüllten Gläsern führte der Wirt die als »geschlossene Gesellschaft« angemeldeten Gäste vom Schankraum durch alle drei dahinterliegenden Stuben. Waren die Tapeten der ersten in Lindgrün gehalten, ging von den folgenden, die englischrot und blau-violett tapeziert waren, jene aus frivoler Laune und mitreißender Sangeslust gemischte Stimmung aus, die der Name des Restaurants seinen Gästen versprach. Ich erlaubte mir einige Bemerkungen zu Karl Kraus’ Bemühungen um Jacques Offenbach und nahm die hier hängende Zimmerdekoration, hinter Glas gerahmte Kostümentwürfe zu Felsensteins »Blaubart«Inszenierung, zum Anlaß für kulturgeschichtliche Hinweise. »Verstehe«, sagte der Bräutigam, »leichte Muse mit zeitgenössischem Pfiff.« Den Schankraum schmückten durch Signatur wertvoll gemachte Photos von Künstlern, unter ihnen einige noch immer bekannte. Und als Münzautomat stand dort eine Vitrine, in der, nach Einwurf, fingerlange Tänzerinnen im Tutu die Beine zu werfen und zu einschlägiger Musik Cancan zu tanzen begannen. Ein Sammlerstück, das der Wirt nur selten in Gang setzte, so – auf Fontys Wunsch – zu Marthas Hochzeit. Man klatschte Beifall, als der Tanz nach letzten Zuckungen endete. Doch so einladend sich die OffenbachStuben mit gedeckten Tischen anboten, fast leer waren sie trotzdem. Der Wirt klagte darüber: Gleich nach der Währungsunion sei ihm die Stammkundschaft weggeblieben. »Erst gegen Abend wird es lebhaft, aber jetzt, über Mittag, ist ziemlich Flaute. Was soll’s, kann ja nur besser werden.« Heinz-Martin Grundmann, der mir bereits auf dem Standesamt in maßgeschneidertem Zustand als straffer Herr mit Halbglatze vorgestellt worden war, gab sich als ein an allem interessierter und selbst den alltäglichen Nöten gegenüber aufgeschlossener Mann: »Wem gehört denn dieses heruntergekommene Eckgrundstück? Verstehe! Aus München haben sich Altbesitzer gemeldet, selbstredend mit Mieterhöhung. Donnerwetter, die langen aber zu. Das setzt Kasse voraus. Wird nicht einfach sein.« Er schaffe das schon, versicherte der Wirt, ein schmächtiger Mittvierziger, der selbst gerne Bühnenkünstler geworden wäre, es aber immerhin -»und das trotz Sozialismus« – zu einem beliebten und – »bis kurz vorm Umbruch« -immer proppevollen Künstlerlokal gebracht hatte: »War nicht leicht, wenn man privat bleiben wollte.« Grundmann wünschte Glück und einen tüchtigen Steuerberater. Friedel Wuttke stand fremd und betont abseits seiner Familie. Inge Scherwinski hätte gerne noch einmal die Püppchen tanzen sehen. Der Priester wirkte angestrengt. Ich versuchte, mit Frau von Bunsen ins Gespräch zu kommen. Die Braut blickte mürrisch drein. Des Bräutigams Tochter nannte die Offenbach-Stuben »niedlich«. Der Brautvater schwieg. Endlich leitete der Wirt die Hochzeitsgesellschaft in das Musikzimmer, in dem Emmi Wuttke mit ihren Kärtchen die Tischordnung bestimmt hatte. Brautpaar und Braut-Eltern saßen sich gegenüber. Ihnen gehörte die Mitte der Langseite, zwischen ihnen ein Blumengebinde. Emmi hatte den Priester zur Seite. Neben Fonty, den der Wirt übrigens immer wieder respektvoll als »Herr Wuttke« angeredet hatte – »Der Chablis selbstverständlich eisgekühlt, Herr Wuttke« –, saß Martina Grundmann, die in den ersten Semestern steckende Studentin. Dem Bräutigam war als Trauzeugin die Schwester seiner verstorbenen Frau zur Seite gesetzt worden. Ich hatte die Braut am nächsten. Für Inge Scherwinski war am rechten Kopfende des Tisches gedeckt. Das linke Kopfende blieb für Friedel Wuttke. Die meisten am Tisch waren einander fremd oder, was den verlorenen Sohn Friedel betraf, fremd geworden. Selbst als die Vorspeise, der hauchzart in Scheiben geschnittene Lachs, serviert war, kamen Tischgespräche nur stockend in Gang. Frau von Bunsen beteuerte ihrem einstigen Schwager wiederholt, daß sie »alles Erdenkliche« getan habe, um den Sohn Thomas, von dem zu hören war, wie leicht ihm sein Jurastudium falle, »aus seinem Schmollwinkel« herauszulocken: »Er hängt besonders an der Mutter.«
»Bei uns war och nichts zu machen«, bestätigte Emmi über den Tisch hinweg. »Unser Teddy meint immer noch, er darf nich rüber zu uns, weil er in Bonn nämlich Beamter ist auf der Hardthöhe, wo die Verteidigung sitzt. Dabei wäre die Hochzeit ne prima Gelegenheit für uns gewesen, sich mal richtig auszusprechen nach so langer Zeit …«
»Das wird sich schon noch ergeben«, sagte der Priester, »wir sind uns ja alle fremd geworden, leider, bis in die Familien hinein.« Inge Scherwinski, die nicht nur aus Hemmung laut sprach, wollte über die Länge des Tisches hinweg von Friedel Wuttke wissen, ob er sich noch an seine Kindheit in der Kollwitzstraße erinnere. »Mußte doch ehrlich zugeben, is ne schöne Jugend jewesen in dem ollen Kasten und auffem Hinterhof. Na, im Schuppen drin, weißte noch, Friedel?« Als keine Antwort kam, zeigte sie Verständnis: ›War trotzdem richtig, daß ihr drüben jeblieben seid alle drei, als die hier dichtjemacht haben alles. Aber vermißt haben wir dir …« Endlich gab der oben schon kahle Verlagskaufmann zu, sich »an die Kastanie im Hinterhof« zu erinnern, »aber Heimweh, dafür hatten Teddy und ich keine Zeit. Und Georg schon gar nicht, weil er zum Bund ging und später in Aurich als Pilot bei den Starfightern … Da war Leistung gefragt … Ihr habt ja keine Ahnung … Aber lassen wir das.« Wie gut, daß der Bräutigam zustimmte: »Was gewesen ist, ist gewesen. Heut wolln wir fröhlich sein!« Denn die so frühzeitig beendete Offizierskarriere des Hauptmanns Georg Wuttke wäre kein Thema für die Hochzeitsgesellschaft gewesen, bestimmt nicht für Emmi und Martha, die ohnehin ängstlich Friedels Anspielungen auf den Dollpunkt der Familie zu überhören versuchten und Halt bei Lachs und Toast fanden. Leichter hatte es Martina Grundmann, die auf Fonty einredete, indem sie die Probleme westlicher Studenten in überfüllten Hörsälen in so drangvoller Enge ausmalte, daß für interessierte Zwischenfragen kein Platz blieb. Der Brautvater war mit seinen Gedanken auswärts. Das sahen die Braut und deren Mutter mit Sorge. Emmi neigte sich dem Ohr ihres Tischnachbarn zu: »Er sammelt sich, Hochwürden. Gleich wenn die Teller leer sind, fängt mein Wuttke zu reden an. Das kenn ich von früher. War meistens ganz schlimm. Wenn er mal nur nich aus der Rolle fällt.« Aber Fonty schwieg noch ein Weilchen. Fast sah es so aus, als hörte er auf das Geplapper der nicht nur hübschen, sondern auch mit gefälligem Chic ganz in Türkis eingekleideten Studentin. Ich versuchte, die neben mir schwer atmende Braut mit einem Scherz zu beruhigen: »Wollen wir wetten, daß er uns die Hochzeitsgesellschaft aus dem ›Stechlin‹ samt Rex und Czako auftischt?« Aber Marthas Verdacht horchte an anderer Tür: »Wenn er bloß nicht mit dem Architekt anfängt, der seine Mete geheiratet hat, und womöglich diesen Professor Fritsch mit meinem Grundmann verwechselt. Das halt ich nicht aus. Jedenfalls heut nicht.« Wir irrten beide, denn als die Reste der Vorspeise abgetragen waren und der Wirt persönlich dem Brautvater einen Schluck Medoc zum Vorkosten eingegossen und Fonty die Probe für gut befunden hatte, woraufhin beiderseits des Tisches eingeschenkt wurde – nur Friedel deckte sein Glas mit der Hand ab und verlangte nach Fachinger –, erhob sich Theo Wuttke zu einer Tischrede, die in ganz anderer Richtung daneben war, weil in ihrem mal abschweifenden, dann wieder die heikle Sache auf den Punkt bringenden Verlauf jenes Nebenwerk des Unsterblichen an Bedeutung gewann, in dem mit dem Grafen Petöfy und dessen Schwester der österreichisch-ungarische Katholizismus zum Zuge kam; doch sprach Fonty, wie wir nun wissen, so launig über die Tauschwerte des Konvertierens und so riskant an Klippen vorbei, daß Emmi, die ja immer das Schlimmste befürchtete, nur selten mit Einwürfen – »Nu mach aber nen Punkt, Wuttke!« – den Redefluß einzudämmen versuchte. Zu ihrer und Marthas Beruhigung war es dem Bräutigam gelungen, das zum Schluß gelüftete Geheimnis des katholischen Ringes, die betont protestantische Weisung »Entsage!«, mit Humor zu nehmen. Grundmann sagte, nachdem das Gelächter abgeebbt war und alle einander mit Rotwein, Friedel mit Fachinger im Glas zugeprostet hatten: »Verstehe! Wir sollen sozusagen auf Sparflamme kochen. Aber das ist keine Devise für Bauunternehmer. Wir nehmen, was wir kriegen. Wir kleckern nicht, Schwiegervater, wir klotzen!«
Kaum hatte die Tischrede ihr Ende gefunden, wurde die rosa gebratene Entenbrust namens »Schöne Helena« aufgetragen. Es hätte auch, wie gesagt, der nach Offenbachs »Orpheus in der Unterwelt« benannte Ochsenrücken, gewiß nicht das als »Barkarole« gepriesene Lachsfilet mit Kräuterbutter, bestimmt aber »Popolanis Zauberei«, nämlich Kaninchen in Burgunder, sein können, und sei es, um des Sozis und Karnickelzüchters Max Wuttke freundlich zu gedenken. Als alle zu Messer und Gabel griffen, sagte der Brautvater: »Eigentlich hatte ich mich für Ochsenrücken entschieden, aber meine Emilie war strikt gegen Orpheus. Und ›Ritter Blaubart‹ als Rinderfilet mißfiel ihr gleichfalls, dabei hätte dessen Wiederholungstätergeschichte eine Menge Anspielungen erlaubt, zum Beispiel auf die verbotenen Zimmer einer jeden Ehe, gleich welcher.« Die Entenbrust namens Helena gab nicht so viel her, zumal der Braut Gesichtszüge, die einander ständig widersprachen, keine Schönheit im klassischen Sinn zuließen. Solange des Vaters Rede von jähen Abstürzen bedroht war, hatte ihr kleiner ängstlicher Mund dem Blick, der auf den leeren Teller gerichtet blieb, Tränen einreden wollen. Dafür war nun kein Anlaß. Das Tischgeplauder lobte die Ente und mehr noch die Orangensoße. Die Kartoffelpuffer wurden originell genannt. Frau von Bunsen sprach von »sächsischen Einflüssen auf die Berliner Küche«, und Inge Scherwinski rief: »Dat hieß bis vor kurzem bei uns noch Sättigungsbeilage, ehrlich!« Jeder erinnerte sich an vergleichbar köstliche Entengerichte. Martina Grundmann schwärmte von einem Wochenendtrip nach Amsterdam, wo sie kürzlich mit Freunden ihren zwanzigsten Geburtstag bei »ganz lecker knuspriger Pekingente« gefeiert habe.
»Was gab’s denn zu deiner Hochzeit damals?« wollte
Emmi von ihrem Sohn hören.
»Ich bekam ja keine Genehmigung, all die Jahre nich,
rüberzureisen.«
Friedel Wuttke wollte auf den Beginn seiner inzwischen geschiedenen Ehe nicht eingehen. »Lassen wir doch die alten Geschichten! Aber vielleicht dürfen wir erfahren, wie der reiche Wessi Grundmann meine Schwester Martha, die arme Ostmaus, aufgegabelt hat. Erzähl mal, Schwager! Aber die Wahrheit. Nichts hören wir lieber als rührende Geschichten, obendrein gesamtdeutsche mit glücklichem Ausgang.«
Der Verlagskaufmann, der in Wuppertal einen evangelischen Missionsverlag leitete, dessen gemischtes Programm nicht nur Besinnungsliteratur bis hin zu religiösen Traktaten anbot, sondern auch die Dritte Welt und deren unerlöstes Elend zum Thema hatte, fragte nicht ohne Hintersinn und von mir vermuteter pietistischer Tücke, denn die Vorgeschichte der Liebesbeziehung zwischen dem westlichen Bauunternehmer und der sozialistischen Lehrerin galt als familiäre Verschlußsache und war deshalb nicht allen am Tisch bekannt; selbst mir, dem Trauzeugen, hat die Braut keine Einzelheiten anvertraut. Nur andeutungsweise ahnte ich etwas von der dazumal gewagten Liaison, die sich über Jahre mitsamt ihren Heimlichkeiten hingeschleppt hatte. Sogar die Brauteltern wußten wenig. Allenfalls war Hochwürden Matull, als Marthas Beichtvater, unterrichtet.
»Warum nicht!« sagte der Bräutigam. »Jetzt kann man ja offen darüber reden.
Verstehe, daß da für meinen lieben Schwager, na, sagen wir mal, ein gewisser Nachholbedarf herrscht. Hoffentlich ist er nicht enttäuscht, wenn wir ihm nicht mit Zweideutigkeiten dienen können.«
»Nur die Wahrheit …«
»Die sollst du haben. Das war vor etwa sechs Jahren. Unser, wie du
schon sagtest, gesamtdeutsches Treffen fand im Juli, und zwar bei
Bullenhitze in einem
Strandhotel am Schwarzen Meer statt, wohin ich häufig, unserer Großbauten wegen, auf Geschäftsreise mußte, doch diesmal mit Familie, obgleich meine Frau schon damals …«
»Muß das sein, Heinz-Martin! Bitte dich wirklich. Außerdem geht das Friedel nichts an. Nie hat er mich gefragt. Kein Brief, nix …«
»Und ich bitte dich, liebe Martha, mich nicht zu unterbrechen. Dein Bruder will unbedingt alles bis aufs iTüpfelchen hören. Soll er haben. Juli vierundachtzig. Bulgarien. Die Ferienküste bei Varna. Ziemlich überlaufen. War damals nicht nur beliebtes Reiseziel der sonst eingesperrten Leute aus der Sowjetzone, die du, lieber Friedel, schon als Halbwüchsiger verlassen durftest, auch Westdeutsche, simple Bundesbürger wie meine Familie, die Kinder, nicht wahr, Martina, waren dabei, machten dort Ferien, doch in meinem Fall kamen, zugegeben, einige damals noch im Rohbau stehende Projekte hinzu. Jedenfalls suchten wir Entspannung und ich gewiß auch das Gespräch mit den ansonsten vom Westen abgeschnittenen Landsleuten, weil mir die gewaltsame Teilung Deutschlands schon immer ein nicht einfach hinzunehmender Zustand gewesen ist; vielmehr glaubte ich felsenfest an die Wiedervereinigung …«
»Und Martha, wann taucht Martha auf?«
»Geduld, Schwager. Das kommt. Keine Geschichte ohne
Fundament. Wer vom Bau ist, versteht, was ich meine. Deshalb dieser dir vielleicht überflüssige Hinweis auf das Unrecht der Teilung. Jedenfalls wurden die westdeutschen Tische – wie damals üblich, saß und aß man getrennt zuerst bedient, selbstverständlich der Währung wegen. Wir saßen, das heißt meine leider im folgenden Jahr schon verstorbene Frau, die Kinder und ich, ziemlich am Rand der westdeutschen Reservierung und aßen schon – weiß nicht mehr, was genau – wahrscheinlich Fischfilet …«
»Stimmt nicht, Papa! Brathähnchen gab’s mit
Pommes frites, ziemlich fettig alles …«
»Verstehe. Martina erinnert sich, was das Essen angeht, genauer.
Jedenfalls saß innerhalb der Ostreservierung, doch mehr zum Rand
hin, eine einzelne Dame mit immer noch leerem Teller, als wir schon
beim Dessert angelangt waren. Jetzt fällt es mir wieder ein: Die
Kinder hatten Hähnchen, wir Schaschlik bestellt. Auf jeden Fall
konnt ich das nicht mit ansehen, wie Martha, denn das war sie, vorm
leeren Teller saß …«
»Gib zu, Schwager, war Liebe auf ersten Blick!«
»Mein lieber Friedel, als Verleger hundertprozentig frommer Bücher
sollte dir eigentlich christliches Mitleid …«
»Aber Papa! Es war doch Mama, die uns auf die skandalöse
Bevorzugung der westlichen Touristen aufmerksam gemacht
hat.«
»Verstehe! Ihr seht, meine Tochter – wie alt warst du damals,
Martina? Keine fünfzehn – weiß noch genau, wie sehr uns diese
offensichtliche Schikane empört hat. Und deshalb bin ich
kurzentschlossen aufgestanden und zu dem Tisch rüber …«
»Du irrst schon wieder, Heinz-Martin. Von meiner Schwester weiß
ich, daß Thomas jene Ritterlichkeit bewiesen hat, die dir sicher
erwägenswert gewesen ist, desgleichen hat meine Schwester Cordula
…«
»Stimmt, Papa! Thomas hat Martha, weil Mama das wollte, zu uns an
den Tisch geholt, nicht wahr, Martha?«
»Ist doch nun gleich, wer kam. Mir war das ziemlich peinlich. Und
daß euer Vater, kaum hatt ich mich gesetzt, den Kellner rangewinkt
hat – und der spurte auch –, war mir noch peinlichen«
»Jedenfalls kam das Essen sofort: Suppe, Hauptgericht, Dessert, wie
am Schnürchen, gegen Trinkgeld, versteht sich. Und unser
Tischgespräch verlief schon bald – ich kann es nicht anders sagen –
total unangestrengt, wie Deutsche mit Deutschen sprechen sollten,
obgleich Martha ja damals noch äußerst parteilich von ›unserer
Republik‹ und ganz vorsichtig nur von ›gewissen Schwierigkeiten
beim sozialistischen Aufbau‹ geredet hat. Auch zwischen Martha und
Cordula lief es vorzüglich. Das war ja leider ihre letzte Reise ins
Ausland. Aber nur sie hat gewußt, wie krank sie wirklich war, und
uns nichts gesagt bis zum Schluß. Dennoch ist es Cordula gewesen,
die mir, als es zu Ende ging, dringlich geraten hat, den Kontakt
mit Martha nicht abbrechen zu lassen. Die paßt zu dir, die denkt
praktischer als ich, hat sie gesagt und gelächelt dabei … War aber
gar nicht so einfach mit unseren Treffen in Ostberlin … Immer nur
heimlich und viel zu kurz … Dabei riskant … Wurden bestimmt
bespitzelt … Aber in Bulgarien haben wir dann jeden Sommer … Das
zog sich in die Länge … Unsere Großprojekte … Aber selbst dort
haben wir uns erst langsam … Nicht wahr, Martha?«
Alle schwiegen. Besonders deutlich schwieg der evangelische
Verlagskaufmann Friedel Wuttke. Frau von Bunsens Schweigen richtete
sich gegen die Braut und brachte kühl konserviertes Mißtrauen mit.
Daß Martha schwieg, verwunderte niemanden. Wir hätten gerne mehr
über die an Krebs gestorbene erste Frau Grundmann, geborene von
Wangenheim, gewußt: ihr Verständnis, ihre Nachsicht. Wohl deshalb
schloß Fontys Schweigen Erinnerungen an Christine von Arne auf
Schloß Holkenäs ein, die bei den Herrnhutern zu vergleichbarer
Selbstlosigkeit erzogen worden war. Ich hätte als Trauzeuge einiges
dazu sagen, aus »Unwiederbringlich« zitieren, womöglich zu einer
Tischrede ausholen und mit Holk beginnen können, der allerdings
unter Christines Tugenden gelitten hat; aber ich schwieg, wie alle
schwiegen, bis endlich Inge Scherwinski passende Worte fand: »Genau
so isses gewesen bei uns im Osten. Ohne Westmark warste nich mal de
Hälfte wert. Auch in Prag war es so, wo ich mit Wölfchen, was mein
Jeschiedener Mann is, paarmal erlebt hab, wie unsereins nur schief
anjeguckt wurde. War überall so inne sozialistischen Bruderländer.
Aber nu wird ja alles besser, wo wir die Einheit kriegen:
Deutschland, einig Vaterland! Darauf will ich mit mein Glas
anstoßen, ehrlich. Nun trink mal bißken, Martha! Das muntert janz
schön auf« Solch ein Toast wäre mir nicht gelungen. Alle prosteten
einander zu. Sogar Frau von Bunsen hatte für die Braut ein nur noch
halbgefrorenes Lächeln übrig. Und mit dem Stichwort »deutsche
Einheit« war dem Tischgespräch hinlänglich Futter gegeben. Dazu
hatten alle eine Meinung, die auch die neue, auf Vorschuß
gelieferte Währung einschloß. Hochwürden Matull sagte: »Das Geld
alleine wird es nicht bringen. Noch fehlt der Wille, einander
hinzunehmen, wie wir geworden sind.« Der Bräutigam warnte vor zu
großen Hoffnungen: »Hart arbeiten werdet ihr müssen, verdammt hart
arbeiten, sonst läuft hier nichts, sonst geht es weiter bergab.«
Und Friedel Wuttke verlangte nach schonungsloser Offenlegung der
Schuld: »Das gilt für alle, die hier mitgemacht haben. Zum Beispiel
wüßte ich gerne
-auch wenn das kein Hochzeitsthema ist –, wie meine Familie ja,
Martha, ich meine dich, mit dieser Existenzlüge fertig wird. In
Vaters Tischrede jedenfalls vermißte ich offene Worte. Habe nur
Zweideutigkeiten gehört. So kommen wir nicht zusammen. Was wir
brauchen, ist eine klare Offenlegung der Schuld. Deshalb wird mein
Verlag zur Herbstmesse mit einem Buch auf dem Markt sein, das unter
dem Titel ›Wie wir schuldig wurden‹ erschütternde bekenntnishafte
Zeugnisse versammelt, und zwar aus Ost und West. Ein solches
Bekenntnis würde ich gerne, wenn nicht von Martha, dann doch von
dir, Vater, hören – und zwar ohne dein übliches Wenn und Aber.«
Niemand wagte auf Fonty zu blicken, der seinem Sohn aufmerksam,
doch auch ein wenig belustigt zugehört hatte. »Alles furchtbar
richtig!« rief er. »Doch die Schuld ist ein weites Feld und die
Einheit ein noch weiteres, von der Wahrheit gar nicht zu reden.
Wenn du aber Schriftliches für deinen Verlag haben willst, könnte
ich dir mit einer Auswahl meiner Kulturbundvorträge helfen; sind
zwar keine Schuldbekenntnisse und Wahrheitsergüsse, handeln aber
vom Leben, das mal so und mal so ist. Und was die Einheit betrifft,
stehen wir auf dem alten deutschen Standpunkte., daß wenn der
Sondershauser eins abkriegt, so freut sich der Rudolstädter …«
Diesmal rettete Martina Grundmann den Tischfrieden in brenzliger
Situation, indem sie ihr Mißbehagen an der Einheit auf die
Feststellung brachte: »Also Dresden, das sagt mir gar nichts. Von
Köln ist es nach Paris viel näher oder nach Amsterdam.«
Worauf Fonty abermals »Furchtbar richtig« sagte, um dann in
Schweigen zu versinken, so unablässig ihn seine Tischnachbarin ins
westdeutsche Universitätswesen und also in ihre germanistischen
Seminare einzuführen versuchte. Ganz ungehemmt gab Martina
Grundmann zu, so gut wie nichts vom Unsterblichen gelesen, doch
immerhin die Fassbinder-Verfilmung von »Effi Briest« gesehen zu
haben. »Aber Sekundärliteratur kriegen wir mit, jedenfalls so viel,
daß man den Durchblick hat und ihn einordnen kann, wie unser Prof
sagt, ungefähr zwischen Raabe und Keller …« Als Fonty nun doch nach
dem »Stechlin« fragte, hörte er, wieviel Selbstbewußtsein fröhlich
auf Unwissenheit fußen kann: »Ich weiß ja, daß der Ihr Einundalles
ist. Das hat mir Martha gesagt. Aber um ehrlich zu sein: Nur ein
paar kürzere Sachen hab ich angefangen, irgendwas mit Verwirrungen
und Schach von sowieso. Komm da nicht weiter: diese ewigen
Spaziergänge und seine endlosen Dialoge. Sind ja manchmal ganz
witzig, bestimmt. Und kann gut sein, daß das seine besondere
Erzähltechnik ist, wie unser Prof sagt. Außerdem halt ich nicht
viel von Großschriftstellern oder von Unsterblichen, wie Sie die
nennen. Ach, ich sag jetzt einfach du und Opa Wuttke, darf ich?
Also, ich bin mehr für das Minimalistische, wenn du verstehst, was
ich meine. Na, Fragmentarisches oder in der Kunst überhaupt, sowas
wie Concept-art. Aber auch Randfiguren können ganz interessant
sein. Unser Prof hat ein paar ausgegraben. Waren früher ziemlich
berühmt sogar. Paul Heyse zum Beispiel, wenn dir der ein Begriff
ist. Hat später sogar den Nobelpreis gekriegt. Heut kennt den
keiner mehr. Und deshalb finden wir den interessant, weil … Na,
weil man den wiederentdecken kann. Unser Prof will extra ein
Seminar über Heyse und noch ein paar andere machen … Natürlich muß
man das alles nicht lesen, nur Kurzfassungen … »Außerdem gibt es ja
Sekundärliteratur …« Eigentlich hätte ich mich einmischen und
Martina einen Besuch des Archivs vorschlagen wollen, hielt mich
aber dann doch zurück, weil einerseits die Braut Zuspruch verlangte
und andererseits Fonty an seiner plapprigen Tischnachbarin
Vergnügen fand. Er zitierte einige Tunnelverse von Heyse, darunter
den Begrüßungsvers »Silentium, Lafontaine hat’s Wort …«, und
versuchte, den immerhin möglichen Gewinn beim Lesen von
Originaltexten anzupreisen. Doch Martina und der Prof von Martina
wußten es besser: Der Urtext sei bloßer Vorwand für das, was
Literatur eigentlich ausmache, nämlich den endlosen Diskurs über
all das, was nicht geschrieben stehe und über den Urtext
hinausführe, ihn nebensächlich, schließlich gegenstandslos werden
lasse und so den Diskurs fördere, bis er den Rang des eigentlich
Primären erreicht habe. »Irrsinnig interessant find ich das!« rief
die Studentin im vierten Semester. Und Fonty wollte nur noch
wissen, ob soviel Sekundäres nicht »kolossal ledern« sei. Dann
fügte er nicht etwa resigniert, eher heiter hinzu: »Wenn man will,
mein Kind, kann man die längste Geschichte kurz fassen. Zum
Beispiel ist beim ›Stechlin‹ die Mache: Zum Schluß stirbt ein Alter
und zwei Junge heiraten sich; das ist so ziemlich alles auf
fünfhundert Seiten.« Mag sein, daß Hochwürden Matull aus dieser
Bemerkung eine Anspielung auf die gegenwärtig tafelnde
Hochzeitsgesellschaft herausgehört hatte, jedenfalls glaubte er,
die Pause bis zum Dessert – der Wirt hatte, nachdem die Reste der
»Schönen Helena« abgetragen worden waren, Eisvariationen unter dem
Motto »Pariser Leben« versprochen – für eine Tischrede nutzen zu
sollen; schon ließ er mit Hilfe des Dessertlöffels sein Glas
klingen, schon kam er, wie gegen Widerstände, vom Stuhl hoch, schon
waren alle ganz Ohr.