6 Zwischen Enten ein Haubentaucher
Vom »Genossen Fonty« hätte selbst im Scherz nicht die Rede sein können; und weil er nie jemand mit Parteibuch gewesen ist, legte er Wert darauf, als »Herr« angesprochen zu werden. Nicht selten sind ihm flapsige Anreden wie »Hallo, Fonty, wie geht’s« ärgerlich aufgestoßen: »Für Sie, junger Mann, immer noch Herr Wuttke.«
Sein bürgerlicher Name schützte ihn, und gerne betonte er den weit übers Rentenalter hinaus tätigen Aktenboten, dessen Leistungen häufig erwähnt und in zurückliegenden Jahren sogar am Schwarzen Brett gelobt worden waren; ob beim Kulturbund oder im Haus der Ministerien: Theo Wuttke galt als Aktivist. Mit mürrischer Lust behauptete er, dem Arbeiter- und Bauern-Staat von Anbeginn als loyaler Bürger verpflichtet gewesen zu sein. Aber einzig als Theo Wuttke zu gelten war so schwer, wie es ihm leichtfiel, uns alle als Fonty zu überzeugen. Er war beides. Und in zwiefacher Gestalt hing er am Haken. Wir, die ihn zappeln sahen, ahnten anfangs nur, was uns später zur Gewißheit wurde: Zu viele Aktenvorgänge belasteten seine verlängerte Existenz zugleich. Und weil jeder Vorgang gewichtig genug war, ihn im Verlauf der Zeit unter mehr oder weniger durchlässige Aufsicht zu stellen, hatte das gesamte Papierbündel andauernde Beschattung zur Folge. Gründe genug gab es, ihm eine Person zuzuordnen, die, wie Theo Wuttke, nicht nur von heute war: Zwei Immortellenkränze wären zu vergeben, sogar ein dritter, denn uns erging es kaum besser; nichts ist unsterblicher als ein Archiv. So ängstlich wir versucht haben, Hoftaller zu meiden, Wegducken half nicht: Mit Fonty saßen wir in der Falle, wie ihm war dem archivierenden Kollektiv der Name des Unsterblichen vorgeschrieben; doch uns hat jahrzehntelang ein Gutachten geschützt, nach dessen Befund wir als nur sekundär und obendrein harmlos einzustufen waren. Hoftaller nahm das Archiv nicht ernst. Er belächelte die Lücken in unserer Kartei, sah Fonty weiterhin als Objekt und hat sich wohl deshalb geweigert, seinem Biographen, der ihn nach über hundert Dienstjahren auslöschen wollte, Gehorsam zu leisten. Hätte er sich, dem biographischen Aufruf folgend -»Genossen! Kommt! Helft mir!« –, durch Selbstjustiz unters Fallbeil gebracht, wäre mit Fonty auch uns geholfen gewesen. Wir hätten uns freier, ein wenig freier entfalten können. Ab 13. Februar 1955 wäre dem Archiv von Staats wegen Ruhe gegönnt worden. Und mit dem Fall »Tallhover, Ludwig, geboren am dreiundzwanzigsten März Achtzehnhundertneunzehn, ehemaliger Mitarbeiter der Dienste«, hätte der Fall Fonty ad acta gelegt werden können. Oder wäre dieser nur literarisch schlüssige Tod kein Anlaß zur Freude gewesen? Hätte es Gründe gegeben, Tallhovers Tod zu betrauern? Ließe sich ausdenken, daß es Fonty war, der gegen den Schluß der Biographie auf Seite 283 protestiert und deren Fortsetzung – und sei es von uns -gefordert hat, weil er sich nach so langer Fürsorge einsam, rückhaltlos und ohne Tagundnachtschatten sozusagen schlemihlhaft vorgekommen wäre? Fragen, auf die Tatsachen Antwort gegeben haben. Fonty stand weiterhin unter Zwang. Er hing am Haken. Und wir, die im Archiv wie unter Hausarrest saßen, sahen ihn zappeln.
Dennoch waren dem Aktenboten Theo Wuttke kleine Ausbrüche in die Freiheit möglich. Immer wieder konnte er sich von seinem Schrittmacher und Aufpasser, dem Stachel und Widerhaken in seinem Gedächtnis lösen. Jedenfalls glaubte er, daß ihm nach Dienstschluß tagundnachtschattenlose Alleingänge freistanden. Vor dem Mauerfall hatte ihm der Volkspark Friedrichshain Auslauf geboten; nun aber überquerte er, ohne lange Anlauf nehmen zu müssen, den Potsdamer Platz, auf dessen abgeräumter Fläche, nicht erst seit ausbrechendem Frühling, grelle Spekulationen blühten. Danach bummelte er von Schaufenster zu Schaufenster die westliche Potsdamer Straße hoch bis hin zur kläglich übriggebliebenen Hausnummer 134 C, um von dort aus trotz undurchlässiger Verkehrsdichte Rückschau auf romanträchtige Mansardenfron zu halten; oder er folgte vom Potsdamer Platz aus anderer Gewohnheit, immer wieder abzweigenden Spazierwegen, die der Tiergarten – sei es zum Goldfischteich oder zur Amazone, sei es am Uferweg, der Rousseau-Insel gegenüber – mit Ruhebänken zu bieten hatte.
Natürlich ging er mit Stock. Jugendlich, wie überliefert, schritt er aus. Und wenn er saß, lag der Wanderstock neben ihm.
Meistens saß Fonty für sich, mehr beurlaubt denn aus freien Stücken allein. Waren ihm Fristen eingeräumt worden? Hat er diese Alleingänge seinem Tagundnachtschatten abtrotzen müssen? Oder kann es sein, daß Hoftaller aus pädagogischen Gründen nachgab und ihm abrupte, oft mitten im Satz vollzogene Kehrtwendungen – »Gesellschaft ist gut, Einsamkeit besser!« - ohne Bedingung erlaubt hat, weil sich Fonty nur so an die neue, dem Westen eigentümliche Freiheit gewöhnen konnte? Ihre Trennungen auf Zeit fanden zumeist gleich nach Dienstschluß an Straßenecken statt, zum Beispiel Ecke Otto-Grotewohl-, Leipziger Straße. Hoftaller wollte geradewegs weiter, Fonty bog links ab. Nach kurzem Gruß »Bis morgen dann« scherte er aus. Hoftaller blieb stehen, bestätigte: »Na klar, bis morgen.« Er sah seinem Schützling und dessen wehendem Shawl eine Weile lang nach, setzte den Weg dann fort; indessen entfernte sich Fonty.
Hier müssen wir einräumen, daß beide gelegentlich einem altersbedingten Drang nachgaben, so auch, als sie sich trennten. Dieser und jener ging zwischen Schritt und Schritt furzend in eine Richtung, die er für seine hielt, der eine mit dem ausholenden Schritt des ewigen Jünglings und mit regelmäßig auftrumpfendem Stock, der andere schnellfüßig tippelnd. Bei wachsender Entfernung blieben sie einander dennoch sicher. Spätestens am nächsten Tag waren sie wieder vereint, sobald Hoftaller im Paternoster zustieg, denn an gemeinsamer Arbeit fehlte es nicht. Von Stockwerk zu Stockwerk war der Aktenbote Theo Wuttke im Haus der Ministerien gefordert und bis hoch zum Dachgeschoß, wo das Sofa stand, immer gefällig und ansprechbar: »Werden dringend gebraucht, Fonty. Zimmer 718, Abteilung Transportwesen, wartet schon lange, und auch bei der Personalabteilung stapeln sich einige Vorgänge …« Nur auf Tiergartenbänken war er allein. Selbst wenn sich ein Rentner neben ihn setzte und beide einander Altersgebrechen aufzählten oder ihre Ärzte als Stümper beschimpften, blieb ihm Einsamkeit sicher: So gutgelaunt er mit »wiederholter Nervenpleite« auf »chronisches Asthmaleiden« antwortete, alles Geplapper lief obenhin, und nie wurden seine Hintergründe befragt. Die zu einem großräumigen Garten gezähmte Natur half ihm, selbst in Gesellschaft allein zu sein; doch nicht nur deshalb liebte Fonty den Tiergarten. Wir werden sehen, daß er in dieser Kunstlandschaft von Anbeginn unverkennbar gewesen ist.
Nachdem sich Theo Wuttke von seiner scherzhaft »Schutzengel« genannten Aufsicht getrennt und den Aktenboten wie ein Rollenkostüm abgelegt hatte, war er, wie schon den April über, nun bei schönstem Maiwetter unterwegs. Abgesehen von einer gerollten, in rechter Manteltasche steckenden Tageszeitung, glich er mit Hut und Stock einer Karikatur, die seinen Vorgänger zum Motiv gehabt und dessen Eigenart dergestalt treffend wiedergegeben hatte, daß sie gut zwanzig Jahre nach dem amtlichen Tod des Unsterblichen im »Simplicissimus« wie eine Novität abgedruckt werden konnte; das Archiv bewahrt ein Exemplar als Beleg auf Über der kommentierenden Zeile »Sieht der märkische Adel jetzt so aus?« hat man ihn vor sich, leibhaftig, wie er mit dem Wanderstock in rechter Hand ausschreitet. Der linke Arm ruht abgewinkelt hinterm Rücken. Ohne sein Schottenmuster zu betonen, fällt der oft zitierte Shawl lässig drapiert über die Schulter und reicht beiderseits abfallend bis zur Seitentasche des weiten Mantels. Beschattet von der geschwungenen Krempe des Künstlerhutes, schaut er über alles Nahe hinweg in die Ferne. Zum fusselnden Bart unter kühn geprägter Nase paßt das hinter den Ohren strähnig in den Nacken fallende Haar. Ein Bild, das einen Gutsherrn vortäuscht, entfernt sogar Bismarck im Sachsenwald oder Dubslav von Stechlin spiegelt, der angeblich Bismarck glich. Und deshalb stellt sich einem nur wenig entfernt treppab steigenden Bürgerpaar, dem zwei lärmende Kinder vorauslaufen, die offensichtlich neureiche Frage nach dem gegenwärtigen Aussehen des märkischen Adels. Das alles hat der Karikaturist Th. Th. Heine mit sicher gesetzten Konturen und nur sparsamer Binnenzeichnung zu Papier gebracht. Er wußte, wie vorgestrig der Unsterbliche den Tiergarten aufgesucht und dort belustigtes Erstaunen erregt hatte. Und wir wissen, daß nicht nur im »Stechlin« der Tiergarten Platz für Spaziergänge und Kutschfahrten bietet, sondern auch Waldemar von Haldern Ruhe verspricht: Der junge Graf, der nahbei in der Zeltenstraße wohnt, hat sich unter Tiergartenbäumen eine Bank gesucht, um dort zum Entschluß, dem endgültigen Verzicht auf Stine und dem Griff nach dem Revolver zu kommen: »Eine frische Brise ging und milderte die Hitze, von den Beeten aber kam ein feiner Duft von Reseda herüber, während drüben bei Kroll das Konzert eben anhob …« Den Krollschen Musikgarten und die später gebaute Kroll-Oper gibt es nicht mehr, vieles ist abgeräumt worden, doch dem Tiergarten gelang es immer wieder, sich zu erneuern. Fonty war Zeuge.
Sein Bild stand schon immer fest, und nur die Kunstlandschaft, in der er sich bewegte, war behutsam in Phasen oder gewaltig auf einen Schlag verändert worden. Bis zum Mauerbau lag der Tiergarten, trotz der Teilung der Stadt in Besatzungszonen, für Fonty offen, dann jedoch blieben die Wanderwege annähernd drei Jahrzehnte lang alljenen versperrt, für die, wie für ihn, der Ostteil Berlins als Hauptstadt der Arbeiter- und Bauern-Macht genug sein mußte. Nun staunte er, wie üppig sich die Neuanpflanzungen der Nachkriegsjahre in Höhe und Breite verästelt und verzweigt hatten. Die auf wüstem Gelände zuerst gepflanzten, weil schnellwüchsigen Pappeln und Erlen waren inzwischen Buchen und Eichen, Ahorn und Trauerweiden gewichen. Hier Einzelbäume auf dicht umsäumten Wiesen, dort hainartige Baumgruppen, dann wieder geschlossene Gehölze, Uferbepflanzungen, niedrig gehaltenes Gebüsch. Natürlich fehlten nicht die dem märkischen Boden heimischen Nadelbäume und Birken. Und die gesamte, vom Brandenburger Tor bis zum Landwehrkanal und dem dahinter liegenden Zoologischen Garten gestreckte Anlage war, wie vom Baumeister Lenné entworfen, von beiderseits bepflanzten Alleen durchzogen: hier, bis zum Zeltenplatz hin, siebenmal unterschiedlich von Kastanien, Rüstern, Platanen und so weiter bestanden, dort der Länge nach über den Kleinen und Großen Stern hin durchkreuzt oder von Doppelreihen beschattet, wie die Hofjägerallee, die gleichfalls zum Großen Stern führte. Doch zwischen den vom Verkehr überlasteten Schnellstraßen und beiderseits der ehemaligen Siegesallee, dann Straße des 17. Juni, eröffnete ein Netz ruhig verlaufender Wanderwege den Ausblick auf freie Wiesenflächen, Teiche und Seen. Sie führten zum Rosengarten oder über die Luisenbrücke und erlaubten, von Denkmal zu Denkmal zu wandern, von Goethe zu Lessing, von Moltke zu Bismarck und weiter bis in den Englischen Garten hinein, den der Schloßpark Bellevue begrenzte und in dessen Nachbarschaft die der westlichen Halbstadt teure Akademie der Künste bis vor kurzem ihre Ruhe gepflegt hatte, doch seit dem Fall der Mauer vom Zeitgeist aufgestört und ums Selbstvergnügen gebracht war; gab es doch in der östlichen Stadthälfte gleichfalls eine Akademie der Künste, und beide Versammlungen, die während Jahrzehnten einander gemieden hatten, blickten nun, verlegen grimassierend, weil zur Einheit verurteilt, auf eine preußische Institution zurück, deren Sekretär einst der Unsterbliche gewesen war, wenn auch ein halbes Jahr lang nur, so schnell hat ihn das Akademiewesen angewidert. Fonty pflegte seine Vorlieben. Gerne wanderte er vom Denkmal Friedrich Wilhelms III. zum Lortzingdenkmal und suchte von wechselnden Parkbänken aus unverstellte Blicke übers Wasser bis hin zur Rousseau-Insel. Und wie wir wissen, gab es dort eine Lieblingsbank, die im Halbschatten stand, mit einem Holunder hinter der Rückenlehne. Manchmal lief er bis zur Fasanerieallee und den bronzenen Skulpturen Hasenhetze und Fuchsjagd, dann weiter zum Neuen See, den der Landwehrkanal speiste und der ab Anfang Mal von Ruderbooten belebt war. Hier sah er von Uferbänken aus zu und war voller Gedanken an Ruderpartien, an denen er teilgenommen oder deren Verlauf sich literarisch niedergeschlagen hatte, etwa die Kahnfahrt in Stralau am zweiten Ostertag, später auf der Spree bei Hankels Ablage, doch ganz zu Anfang ist es ein stiller Seitenarm der Elbe gewesen, auf dem zu zweit gerudert wurde; und immer war, ob vorgeahnt oder nacherlebt, Lene Nimptsch dabei, die von Frau Dörr »Leneken« gerufen wurde. Das waren seine Lieblingsplätze. Selten überquerte Fonty die Hofjägerallee, um eine »Volkslied« genannte Skulptur aufzusuchen; denn ganz in deren Nähe hätte er am Rand des Tiergartens sich selbst als marmornes Denkmal sehen müssen, wie er von hohem Rundpodest barhäuptig, mit beschädigtem Stock und in preußischer Haltung über alles hinwegschaut.
So, als einem versteinerten Beamten, wollte er sich nicht begegnen. Dann lieber doch und immer wieder den Großen Weg lang zum stillen Wasser um die RousseauInsel. Dort konnte nach einigem Stillsitzen – mit blühendem oder reifem Holunder im Rücken – dieser besondere Blick in wechselnde Zeit genossen werden, etwa in die um 1836, als in Wilhelm Roses Apotheke »Zum Weißen Schwan« seine Lehrzeit begann. Das war kurz nachdem er noch als Gewerbeschüler beim Bruder des Vaters, dem Pumpgenie Onkel August, zum ersten Mal Emilie Rouanet gesehen hatte. Weil unehelich geboren, hieß sie außerdem Kummer, nach ihrem Pflegevater. Ein verwildert anmutendes Kind, dem ein Eierkiepenhut zu Gesicht stand und das er verschreckt haben mochte, wie ihn das Mädchen auf ersten Blick erschreckt hatte. Schon damals hätte er Emilie bei der Hand nehmen und, falls das Kind ihm gefolgt wäre, durch den noch unfertigen Tiergarten über sandige Reitwege führen können, bis hin zur Aussicht auf die so frühzeitig nach einem Philosophen benannte Insel; wie er im Frühling 1846, dem Jahr nach der Verlobung, mit Emilie Rouanet-Kummer einen Ruheplatz gesucht und eine Tiergartenbank mit Blick auf die Insel des rabiaten Aufklärers und Pädagogen gefunden hat.
Im Rückblick sah sich Fonty neben der Einundzwanzigjährigen, die nicht mehr wild und schwarzäugig einer Ziegenhirtin aus den Abruzzen glich, sondern mit graublauen Augen die Welt märkisch normal einschätzte und ihr kastanienbraunes Haar zur Frisur getürmt trug: reif zur Ehe. Zu jener Zeit galt die Gestaltung des Tiergartens durch den Gartenbauarchitekten Lenné als abgeschlossen. Nach seinen Plänen war die Umgebung der Rousseau-Insel zur Ruhe gekommen. Alles grünte wie vorbedacht. Und der Große Weg führte am See vorbei zur Großen Sternallee, wie er vierzig Jahre später noch immer verlief, als die Tochter Martha, Mete gerufen, den Vater manchmal durch den Tiergarten zu dessen Lieblingsplätzen begleitete; doch sobald sich Fonty so rückgespult und in längeren Bildsequenzen mit Mete sah, konnte er nicht verhindern, daß ihm im Zeitsprung die neunjährige Martha Wuttke über den Weg lief, gefolgt von Theo Wuttke, der immerfort »Mete, komm!« rief. Das war kurz vorm Mauerbau. Vater und Tochter hatten zuvor den Großvater, Max Wuttke, in dessen Kellerwohnung am Hasensprung besucht. Dann sah er sich wieder allein durch den Tiergarten laufen, diesmal als verstörten Revoluzzer. Das war wenige Wochen nach dem Begräbnis der Märzgefallenen, als selbst der König gezwungen war, den Hut zu ziehen.
Übrigens fand die Hochzeit mit Emilie RouanetKummer gut zweieinhalb Jahre später, am 16. Oktober 1850, mit einem Festessen am Rande des Tiergartens statt, nahe der Bellevuestraße in einem Restaurant namens »Georgischer Garten«; ein Vergnügungslokal, das seiner geschützten Lage und guten Küche wegen sowohl vor wie nach der Revolution viele Gäste anzog. Die Tunnelbrüder hatten für ein Geschenk gesammelt. Von den Jugendfreunden der Leipziger und Dresdner Zeit war einzig Wolfsohn dabei. Als nach drei Jahrzehnten in der Potsdamer Straße 134 c das runde Datum gefeiert werden wollte, hieß es in einem der alles ausplaudernden Briefe: »Nur wenige Freunde nahmen Anteil an unserem mittlerweile ›Dreißigjährigen Krieg‹ …« Doch Fonty sah von seiner Lieblingsbank aus nicht nur Familie kommen und gehen. Er sah Lepel an seiner Seite, sah Storm und Zöllner, traf zufällig Heyse und Spielhagen, schwadronierte mit Ludwig Pietsch; später, viel später saß er mit Schlenther und Brahm auf einer Bank: endloser Theaterklatsch. Zu wechselnden Jahreszeiten erlebte er sich zwischen und nach drei Feldzügen, die bald Einigungskriege genannt wurden, von wechselnden Manuskripten beschwert, die jeweils Schlacht- und Landschaftsbeschreibungen zum Inhalt hatten; eine langjährige Plackerei, die nichts außer Ärger einbrachte und deren unablässiges Wortgetümmel er dennoch in den Tiergarten schleppte, um es, ein wenig verschlimmbessert, wieder nach Haus und in wechselnde Wohnungen zu tragen. Erst als er den Akademiekrempel hinter sich hatte und endlich, doch zu Emilies Leid, ein freier Schriftsteller war, sah er sich mit anderem Gepäck unterwegs: Leichthin geplauderte Romandialoge trug der Unsterbliche als Tiergartenausbeute hoch ins Mansardenloch der Potsdamer Straße, nun ein betagter Anfänger, um die Sechzig, dann auf die Siebzig zu und drüber weg. »Vor dem Sturm« wurde hier ausgetragen. Was an Novellen und Romanen unfertig im Kasten lag, tickte auf Spazierwegen weiter: »Bin für Überschriften, das heißt, auch im Leben für Ruhepunkte; Parks ohne Bänke können mir gestohlen bleiben …« Doch als die Familie sagte: »Überschriften sind altmodisch«, schlug er seinem Verleger für alle »L’Adultera«-Kapitel Zahlen vor; aber es blieb bei den Überschriften. Und als nach »Grete Minde« und »Ellernklipp« Kritik an zu vielen »und’s« aufkam, hielt er dagegen: »… bilde mir ein, ein Stilist zu sein, der seinen Stil aus der Sache nimmt, die er behandelt, und so ist es mit den vielen ›und’s‹ …« Und so bis zuletzt. Kaum hatte »Effi Briest«, vorabgedruckt, ihr trauriges Ende gefunden, war er schon mit dem alten Stechlin unterwegs: im Überrock und mit Stock und Hut, zielstrebig von der Hausnummer 134 c aus in Richtung Königin-LuiseBrücke, immer mit Rex und Czako im Gespräch, immer scharf auf Pointen, wiederholt Gundermanns »Wasser auf die Mühlen der Sozialdemokratie« gießend, abermals vor der »großen Generalweltanbrennung« warnend und die Domina Adelheid im Kloster Wutz mit spitzen Worten reizend, die ihrem Bruder Dubslav, dem alten Stechlin, heimzahlt: »Sage nichts Französisches. Das verdrießt mich immer.« Und dann lange nichts mehr. Friedhofsruhe. Die Denkmäler. Der vom Sohn für lumpige achttausend Reichsmark verscherbelte Nachlaß. Ihm nachplappernder Professorenfleiß. Von ihm beschimpfte Pedanten: »Lederne Fachsimpler, sie sollten fördern und verwüsten alles …« Den einen war er zu preußisch, den anderen nicht preußisch genug. Jeder schnitt sich das passende Stück heraus: mal hübsch zum »Wanderer durch die Mark« gestutzt, mal aufs »Heitere Darüberstehn« verkürzt, mal als Balladendichter gefeiert, mal als Revolutionär wiederentdeckt oder parteilich gestrichen. Schulen wurden nach ihm benannt, sogar Apotheken. Und weiterer Mißbrauch. Schon war er in Schulbüchern abgetan, schon galt er als verstaubt, schon drohte Vergessen, als endlich dieser junge Mann in Luftwaffenblau aufkreuzte, sich allein oder in Begleitung auf die besondere Tiergartenbank setzte und ihn, immer nur ihn, einzig den »Unsterblichen« im Munde führte.
Heißt Wuttke und Theo dazu. Kommt aus Neuruppin und zeigt sein Geburtsdatum, den 30. Dezember 1919, als Ausweis vor. Hat seiner Verlobten, Emmi Hering, die die Haare hochgekämmt trägt und im kleingeblümten Kleid zur Fülle neigt, Altes und Neues aus Frankreich zu berichten. Anfangs nur Gravelotte und Sedan, dann aber Schlag auf Schlag: Blitzsiege, Umfassungsschlachten, Guderians Panzer, Lufthoheit bis zu den Pyrenäen, Sedan und Metz diesmal fast kampflos gefallen, über die Marne weg, Paris, Paris! Und dann die Fernsicht von der Atlantikküste über normannische und bretonische Ebbestrände nach England rüber, zum feindlichen Vetter. Und Frankreichs Küste vorgelagert die Inseln, zu denen Oléron zählt und besonders ist: viele stimmungsvolle Berichte. Denn immer wieder kommt er als Fronturlauber oder kurz nur auf Dienstreise zurück, führt Emmi verlobt am Arm durch den Rosengarten, vorbei am Lortzingdenkmal und ist mit ihr schon einmal rund ums Wasser und über Brücken gelaufen, ganz hingegeben dem pädagogischen Zauber der Insel: Freiheit und Tugend, das beißt sich oder gebiert Wohlfahrtsausschüsse und Fallbeilurteile; Robespierre war Rousseaus folgsamster Schüler …
Doch des Luftwaffengefreiten Berichte, die er der Braut, die hübsch und ein wenig plapprig ist, wie vom Blatt flüstert, sind in dem verwitterten Nest Domrémy auf Spurensuche. Dort hat er Mannschaften und Offizieren literaturgeschichtliche Vorträge gehalten: Wo Schillers ›Jungfrau von Orléans« geboren wurde … Warum »La pucelle« unsterblich ist … Und wie der Unsterbliche, auf der Suche nach Jeanne d’Arc, im Verlauf des siebziger Krieges samt Rotkreuzbinde und fataler Pistole als preußischer Spion hopsgenommen wurde und in Gefangenschaft geriet. Immer wieder kommt er mit neuen Reiseimpressionen, die ihm die Verlobte säuberlich abtippt. Berichte aus Besançon, Lyon, schließlich aus den Cevennen, wo er sich nach hugenottischen Fluchtburgen umgesehen und in Gefahr gebracht hat. Doch immer noch berichtet er siegesgewiß und kulturbeflissen, obgleich er, vor letztem Marschbefehl, den Tiergarten in verletztem Zustand erlebt hat und seit Stalingrad alle Fronten rückläufig sind und die Braut Emmi schwanger ist und Tante Pinchen auf Heirat drängt … Dann kam der Luftwaffengefreite und Kriegsberichterstatter Theo Wuttke nicht mehr. Erst nachdem im Tiergarten der Kahlschlag beendet war, Bombentrichter neben Bombentrichter voll Wasser stand, alle Denkmäler nur torsohaft überlebt hatten, die Tiergartenbänke, die Luisenbrücke und die Kroll-Oper zerstört waren, als alles, was um den Zeltenplatz an Herrlichkeit gewesen war, in Trümmern lag und nur noch, wie zum Hohn, die Siegessäule ragte, als der Krieg aus war, kam er wieder: zurück aus französischer Gefangenschaft, Lager Bad Kreuznach, deshalb ausgehungert und klapprig in Uniformresten und auf der Suche nach seiner Verlobten, die er mit Georg, dem Söhnchen, bei Emmis Tante Pinchen unter bombenbeschädigtem Dach fand und im Nachholverfahren Oktober 1945 heiratete. Gleich nach der Trauung mußte das junge Paar auf Holzsuche gehen, denn Tante Pinchens Kohlenkeller war, bis auf staubige Reste, leer. Und da das Schlachtfeld des Tiergartens für die Wuttkes und hunderttausend andere Berliner nur noch aus restlichem Brennholz bestand, wurden selbst Wurzelstöcke gerodet, nichts blieb.
Diese und weitere Rückblenden erzwang die Lieblingsbank. Nachdem er sich mit Axt, Fuchsschwanz und Bollerwagen auf Suche nach letzten Stubben und Strünken gesehen hatte, rührte ihn ein Familienbild: Gleich zehntausend anderen beackerten er und Emmi mit Spaten und Hacke eine Parzelle, während das Söhnchen Georg zwischen den Eltern mit einem Schäufelchen herumlief. Sie pflanzten Kartoffeln, säten Rübensamen aus, denn ab April 46 wurde das kahlgeschlagene Tiergartengelände vom Brandenburger Tor bis hin zum Flakbunker am Zoo parzelliert. Das geschah laut Magistratsbeschluß; so groß war die Not, so hart der Winter von 46 auf 47. Viele starben weg, auch Pauline Piontek, geborene Hering, die ihren jüngeren Bruder, Emmi Wuttkes Stiefvater, der mit seiner Frau wahrscheinlich in Breslau zu Tode gekommen ist, um nur zwei Jahre überlebt hat. Noch keine sechzig war Tante Pinchen, als sie den Wuttkes ihre Dreieinhalbzimmerwohnung auf dem Prenzlauer Berg hinterließ, ein Umstand, der beide für kurze Zeit glücklich machte. Erst jetzt, nach den Notjahren, kehrte Fonty von seinen Ausflügen in die Vergangenheit zurück. Erstaunt sah er, daß des Großgärtners Peter Josef Lenné Traum, den kein knauseriger König und keine Berliner Zerstörungswut hatte löschen können, nun endlich und nach immer neuen Pflanzstufen, Wegeplänen und Wasserregulierungen in Erfüllung gegangen war: Um ihn stand alles in Maigrün, zusehends gingen Millionen Knospen auf, Vogelstimmen, so reich gemischt, daß selbst die Amsel Mühe hatte, für ihre Strophen Gehör zu finden. Hinter ihm begann der Holunder in Fächern aufzublühen. Und weil das Wasser um Rousseaus Insel gleichfalls und anregend belebt war, sah Fonty sich versucht, den Lennéschen Traum abermals in Fortsetzungen zu träumen, als wäre nichts geschehen, als hätte es weder Krieg noch Verwüstung gegeben, als werde der Landschaftspark so ungekränkt in Schönheit verharren, wie er ihm immer schon Augenweide und Zuflucht gewesen war; da wurde ihm plötzlich alles fremd: Aus anderer Welt standen Kinder, zwei Türkenmädchen mit streng gebundenen Kopftüchern, vor ihm und der Tiergartenbank, auf der er glaubte, seit frühesten Apothekerjahren zu sitzen. Beide Mädchen blickten ernst. Sie mochten zehn oder schon zwölf Jahre alt sein. Beide gleich groß und gleich ernst, denn sie sahen ihn an, ohne sein Lächeln aufnehmen zu wollen. Da sie nichts sagten, wollte auch er kein Wort riskieren. Nur Vogelstimmen und fernes Rufen überm Wasser. Weit weg lärmte die Stadt. Lange blieb es fremd zwischen Fonty und den türkischen Mädchen. Die Kopftücher faßten dunkelfarbig ovale Gesichter ein. Vier Augen blieben auf ihn gerichtet. Langsamer Wimpernschlag. Nun auch die Amsel stumm. Schon wollte Fonty einen freundlich fragenden Satz bilden, um die Stille aufzuheben, da sagte das eine Mädchen in kaum berlinerndem Deutsch: »Können Sie uns bitte verraten, wie spät es ist?« Sogleich war alles weniger fremd. Fonty suchte unterm Mantel nach seiner Taschenuhr, zog diese, ließ sie golden aufspringen, las, ohne zur Brille greifen zu müssen, die Zeit ab und verriet sie den Mädchen, die mit gelerntem Knicks dankten, sich abwendeten, davongingen, nein, nach wenigen Schritten davonliefen, so schnell, als müßten sie die verratene Zeit eilig in Sicherheit bringen.
Als er wieder mit sich allein war, glaubte Fonty, ganz ohne abwegige Gedanken oder versuchsweise gedankenlos zur Rousseau-Insel schauen und den Enten, zwei Schwänen und anderen Wasservögeln, unter ihnen einem Haubentaucher, zusehen zu können; aber er blieb nicht allein. Nicht, daß sich jemand neben ihn setzte und ein Gespräch übers Wetter begann. Kein Rentner, keine gichtkrumme Oma und keine aus vorigem Jahrhundert noch immer ansässige Amme – »Die Spreewälderinnen riechen alle milchsauer« – wurde ihm lästig. Niemand mußte als kompakte Person Platz nehmen, um ihn ins anekdotische Erzählen und Durchhecheln ganzer Tischgesellschaften zu bringen. Er blieb, selbst wenn er allein saß, im Gespräch. Diesmal kam kein Plauderton auf. Gezwungen zuzuhören, hatte er Hoftallers gleichbleibend abrechnende, dabei nicht strenge, eher trocken Papier auswertende Stimme im Ohr. Als Tallhover setzte er wieder einmal dort an, wo es weh tat, beim HerweghClub. Die Leipziger Zeit. Und schon war er, ohne Sachsen verlassen zu müssen, in der Salomonis-Apotheke des Dr. Gustav Struve und sogleich bei der anfangs revolutionär, dann romantisch gestimmten Gärtnerstochter Magdalena Strehlenow, bei Ruderpartien auf der Elbe, Dresden und die Folgen: »Na ja, so schlimm war es nun auch wieder nicht. Notfalls konnte man Lepel anpumpen. Man war frei, hatte das Wacheschieben als EinjährigFreiwilliger beim Garderegiment ›Kaiser Franz‹ hinter sich, gleichfalls die ungeplante Urlaubsreise, diesen total verrutschten Zweiwochenabstecher nach England. Und endlich war mit nein Staatsexamen erster Klasse – gratuliere! - die Approbation als Apotheker verbrieft. Mehr oder weniger glücklich verlobt waren wir, ohne allerdings der zukünftigen Braut die Dresdner Geheimnisse zu flüstern. Feige weggedrückt wurden die Kahnfahrten, das liebestolle Gebumse, das Kindergeplärr. Statt dessen hat unser Achtundvierziger mit nem rostigen Gewehr rumgefuchtelt. Dabeisein ist alles! Und trotzdem: wir haben nicht zugegriffen. Sosehr uns ein paar Tunnelgedichte und später der konspirative Herwegh-Club mißfallen mußten, nix geschah, nicht mal ne Abmahnung. Na, weil wir ausgelastet waren, besonders ich. Als Kriminalkommissar hatte man mich auf das überall Epigonen heckende Objekt Georg Herwegh angesetzt, und das mit nein Signalement, das mein Biograph zu Recht ›lächerlich‹ nennt. Als aber in der ›Dresdner Zeitung‹ nach und nach neunundzwanzig politische Korrespondenzen erschienen, deren Autor chiffriert auftrat, sahen wir uns doch gezwungen, ne Akte anzulegen: Kennwort ›Fontaine‹. Las sich teils überspannt, teils scharfmacherisch, hatte durchweg Preußens Polizeistaat am Wickel, gab zwar nichts Neues her, aber gefährlich waren diese Rundumschläge schon …«
Fonty hörte das alles in sich hinein. Wer ihn im Vorbeigehen auf der Tiergartenbank gesehen hätte, wäre bei verlangsamtem Schritt Zeuge seines Kopfschüttelns und seiner Grimassen geworden: ein alter Mann mit sich und anderen im Streit. Ab und zu rief er: »Alles Mumpitz!« Und: »Autodidakten übertreiben immer!« Er widersprach: »Irrtum, Tallhover! Schon Pietsch hat bestätigt, daß ich in ›Zwischen Zwanzig und Dreißig‹ weder mich noch andre geschont habe …« Er holte zur Gegenrede aus: »Freut mich, daß es mit Ihrem Gedächtnis so kolossal hapert. Unser erstes Kontaktgespräch fand nicht vor, sondern bald nach meiner Eheschließung statt. Und zwar im Spätherbst fünfzig, kurz vor Auflösung des ›Literarischen Kabinetts‹. Wir trafen uns hier im Tiergarten, genauer, beim Kahnverleih In den Zelten. Sie wollten unbedingt aufs Wasser. Aber mir war nicht nach Rudern. Also setzten wir uns in den Biergarten Moritzhof Die letzten Kastanien fielen. Weißbier und Blätterfall. Und gleich nach dem ersten Schluck lag mein Dossier auf dem Tisch, nicht dick, aber ausreichend …« Wenn Fonty nach solchen Erklärungen schwieg oder so tat, als sei er nur noch an Entenfamilien und einem besonders fleißigen Haubentaucher interessiert, gelang es ihm dennoch nicht, außer stumm taub zu sein. Jemand sprach auf ihn ein. Wenn nicht Hoftaller, dann Tallhover. Dessen unbekümmertes Nörgeln war nicht abzustellen: »Nicht im Spätherbst, gleich nach Ihrer letzten Tollerei, dem mißglückten Versuch, auf selten Schleswigs gegen die Dänen den Kriegshelden zu mimen, Ende August fünfzig habe ich Sie vorladen müssen. Treffpunkt Tiergarten stimmt. War das ne Hitze! jedenfalls konnte der Bräutigam schon kurz vor der Hochzeit mit unserer Unterstützung rechnen. Ab September wurden Sie als Lektor im ›Literarischen Kabinett‹ von der Regierung bezahlt. Wurde Zeit, daß Sie unter die Fittiche kamen. In jeder Beziehung. Privat sorgte Ihre gestrenge Emilie, offiziell standen Sie unter Aufsicht des Herrn von Merckel; Ihr Gönner, gewiß, aber auch unser Mann. Ein Zensor höchster Güte, wie es ihn heute in unserer Branche kaum noch gibt. Wußte ne Menge, war rundum gebildet, ist mir unerreichtes Vorbild gewesen. Der konnte nicht nur Soldaten gegen Demokraten reimen, der hatte mehr auf dem Kasten. Sein Fürsorgeprinzip, knapp, aber regelmäßig zu zahlen, wirkte beispielhaft. Jedenfalls war Ihre junge Frau froh, endlich mit nein festen Gehalt rechnen zu dürfen. Ein Jahr später war ja schon George, der Stammhalter, da …« Inzwischen bot, zwischen Enten, der Haubentaucher ein Gegenprogramm. »Laß ihn quasseln!« mag Fonty sich gesagt haben. »Immerhin erschienen meine gesammelten Gedichte. Und was Merckel betrifft, bahnte sich freundschaftlich kollegialer Umgang an …«
»Aber ja doch. Von Familie zu Familie, später mit Briefwechsel hin und her. Niemand hat sich so liebevoll um Ihren armen, vom Vater vernachlässigten Sohn Theo gekümmert wie die Merckels. Kein Wunder, wenn bei solcher Protektion nicht ein Posten frei gewesen wäre, und zwar bei der ›Centralstelle für Presseangelegenheiten‹, einem nur lässig verdeckten Zensurbetrieb, dem sich unsere verkrachte Existenz – bei all dem Gejammer zu Haus – fügen mußte, zumal ihm nach Rastatt die letzten revolutionären Hahnenfedern gerupft waren. Hinkeldey hieß Berlins Polizeipräsident …« Der Haubentaucher war weg und plötzlich wieder woanders da. Fonty ließ sich überraschen. Nach jedem Abtauchen verwettete er sich. Gerne wäre auch er so unberechenbar mal hier, mal dort, nach Lust und Laune – sei’s für Minuten nur weg gewesen: »Alles furchtbar richtig, Tallhover! Habe mich verkauft, damit ein Wunsch in Erfüllung ging. Endlich mal raus aus den ledernen Zwängen. Über Köln, Brüssel, Gent und Ostende nach London, wenn auch mit ministeriellem Knüppel am Bein. War meine erste richtige Englandreise, denn die allererste, diese zwei Wochen auf Pump, zählt nicht. Mußte mir allerdings, trotz Auftragskorrespondenzen, ein Zubrot verdienen, gab Sprachunterricht! So schlecht bezahlt war ich. So elend lohnte Preußen meinen kleinen Verrat. Was wollen Sie noch, Tallhover! Sie ewiger Kriminalkommissar. Verduften Sie endlich. Wir sitzen hier nicht auf dem Verhörsofa. Sie Wiederkäuer! Weg! Auf Distanz, bitte! Das ist mein Tiergarten. Hier stand schon immer meine Lieblingsbank. Die Rousseau-Insel ist meine, einzig meine Augenweide. Und mein Haubentaucher ist das!« Linkshändig machte Fonty scheuchende Gesten, wie von Fliegen belästigt. Mit rechter Hand hatte er den Spazierstock gefaßt, mit festem Griff, daß er zitterte. Ein zorniger Greis, der in die Luft hieb. Türkenfamilien gingen in ihrer Ordnung vorbei: die Männer zuerst, dann Frauen und Kinder. Immer wieder Türken mit Einkaufsnetzen und Plastiktüten. Fonty versuchte, den Kopftüchern der Frauen und Mädchen – viele waren schwarz oder weiß, einige mehrfarbig – einen dem schottischen Farbspektrum vergleichbaren Sinn abzulesen.
Nachdem abermals eine türkische Großfamilie ohne Blick für seinen Kampf mit dem Dämon vorbeigezogen war, rief er: »Hören Sie, Tallhover! Außer mir gehört der Tiergarten denen da. Die Wege, die Wiesen, die Bänke, alles. Das hier ist zweifelsohne türkisches Terrain. Hab ich gelesen: Nach Istanbul und Ankara gilt Berlin als drittgrößte türkische Stadt. Und immer mehr kommen. So viele bringt selbst Ihresgleichen nicht unter Kontrolle. Kapiert? Die neuen Hugenotten sind Türken! Die werden hier Ordnung schaffen und System reinbringen; Ihres hat gestern abgedankt, meines schon lange. Zwar schrieb ich, bevor man mich zum Zuarbeiter der Zensur machte, an meinen Freund Friedrich Witte: ›Ich verachte diese feige, dumme und gemeine Sorte Politik und drei- und sechsfach die Kreaturen, die sich dazu hergeben, diesen Schwindel zu verteidigen, und tagtäglich ausrufen: Herr von Manteuffel ist ein Staatsmann! Sie könnten mir meine frühere Stellung wieder antragen, ich will sie gar nicht …‹ – aber ein halbes Jahr später mußte ich dennoch Lepel beichten: ›Habe mich heut der Reaktion für monatlich 30 Silberlinge verkauft. Man kann nun mal als anständiger Mensch nicht durchkommen. Ich debütiere als angestellter Skribifax bei der Adler-Zeitung mit Ottaven zu Ehren von Manteuffel. Inhalt: Der Ministerpräsident zertritt den Drachen der Revolution!‹ Doch als mich in London der Gesandte von Bunsen, ein Liberaler natürlich, gegen Manteuffel aufwiegeln wollte, hab ich, bei aller Neigung, widerstanden und schrieb meiner Emilie, die natürlich voller Angst war, ich könnte den Krempel hinschmeißen: ›Von Manteuffel leben und gegen ihn schreiben wäre die Steigerung der moralischen Ruppigkeit …‹ Dann starb in Berlin das zweite Kind, das ich nie gesehen habe. Ein Elend war’s. Nicht mehr Giftmischer, dafür Skribifax unter Aufsicht. Und das immerfort, ob bei der Reichsluftfahrt oder beim Kulturbund. Immer hattet ihr eure Finger drin, damit meine durch und durch verkrachte Existenz … Selbst jetzt noch, wo doch die Mauer weg … Darf gnadenhalber Akten schleppen und muß beiseite gucken, wenn ihr … Dabei nie allein, sogar im Paternoster nicht … Und gäbe es nicht den Tiergarten, die vielen Türken, den Haubentaucher …«
Danach brummelte Fonty nur noch vor sich hin. Einen Furz ließ er streichen und noch einen. Den Kopf mit dem fusselnden Weißhaar vornübergebeugt, so saß er, beidhändig auf den Stock gestützt, die nervös zuckende Unterlippe verdeckt. Gealtert, als ginge es aufs Ende zu, wollte ihn kein Gedanke beleben, nur Flucht treppab, immer weiter zurück.
Wer langsam vorbeiging, hätte einzelne Wörter, auch Halbsätze mitnehmen können; und wir vom Archiv wären in der Lage gewesen, seinen Sprachfluß zu entziffern. Vieles gab sich als Zitat aus des Unsterblichen Reisebrief »Jenseits des Tweed« zu erkennen, den er nach dem dritten und längsten Englandaufenthalt schrieb, als er, gemeinsam mit seinem Freund Lepel, Schottland besuchte: »Als wir High-Street entlang … An allen Ecken Hochlandsöhne mit Kilt und Plaid … Waren wohl Werbeoffiziere von den Highlanders …« Danach war er nicht mehr auf Edinburghs Pflaster unterwegs, sondern lebte zur Zeit Jakobs IV. Um Ritterlichkeit ging es und um »Bell-the-Cat«. Mit geschultem Ohr ließ sich aufschnappen: »An Jakobs Hofe war Spens von Kilspindie … In Stirling Castle beim Weine flogen … Des Hauses Douglas wachsende Macht … Der Hieb war tödlich, traf in die Weiche …« Dann sah er nur noch dem Haubentaucher zu, der mal da, mal weg war. Dessen Wiederholungen langweilten nie. Selbst als er aufstand, sich dem Ufer näherte und aus der Manteltasche heraus Enten mit Brotkrusten fütterte, war er mehr beim Haubentaucher und dessen Künsten. Nichts konnte ihn ablenken. Zwar steckte in der anderen Manteltasche gerollt »Der Tagesspiegel« und meldete Wählergebnisse aus den anschlußbereiten Ländern, doch Fonty hatte vom Arbeiter- und Bauern-Staat Urlaub genommen. Aktuelles, das er als Theo Wuttke wahrnahm, wenn es ihn hart genug anstieß, zählte im Tiergarten nicht; dort blieb er rückläufig unterwegs: schon wieder in Schottland, von Stirling Castle nach Loch Katrine …