DRITTES BUCH
16 Nach Stralsund und weiter
Seine Sommerfrischen, Bäderreisen, Zufluchten in mittlerer Preislage; nicht immer standesgemäß, doch stets mit Manuskript im Gepäck: wiederholt liegengebliebene Novellen, bestellte Aufsätze für Rodenberg, erste Korrekturbögen. Wir lesen Klagen über muffige Zimmer, spät polternde Gäste, kläffende Hunde, das Wetter. Von überall her richtet er Briefe an Verleger, Redakteure und Freunde wie Hertz, Stephany und Friedlaender; wenn er allein verreist ist, an Frau und Tochter: »Es geht mir hier gut, wie unberufen immer, wenn ich Berlin den Rücken kehre …« Kurz bevor seine Novelle »Schach von Wuthenow«, die er bald nach der Drucklegung des ersten Romans entworfen hatte, ab Juli 82 in der Vossischen Zeitung vorabgedruckt wird, gibt er aus Thale am Harz seinem Sohn Theodor Bescheid, dessen Prinzipienreiterei ihn schon oft, besonders aber auf politischem Feld in Position gebracht hatte: »Die Elsässer gehörten zweihundert Jahre lang zu Frankreich, und wenn sie nun schließlich sagen: ›Erwin von Steinbach hin, Erwin von Steinbach her, die Franzosen gefallen uns besser als die Deutschen‹, so ist nicht viel dagegen zu sagen …« Im August 1883 beendete der Dreiundsechzigjährige auf Norderney nach »L’Adultera« einen weiteren Ehebruchroman, »Graf Petöfy«. Von dort aus schreibt er an Emilie: »Du beklagst Dich über meine Weitschweifigkeit. Die Weitschweifigkeit aber, die ich übe, hängt doch durchaus auch mit meinen literarischen Vorzügen zusammen. Ich behandle das Kleine mit derselben Liebe wie das Große …« Für anderer Leute Leiden wußte er Rat: »Wenn man die Gicht hat, ist Berlin besser als Krummhübel«, doch ihn zog es wiederholt und oft »nervenpleite« ins Riesengebirge. Von dort aus, wo er die Vorarbeit zu einem Manuskript unter dem Titel »Quitt« nach einem Stoff beginnt, den ihm sein Brieffreund Friedlaender als schlesische Förster- und Wilderergeschichte mitgeteilt hat, schreibt er Anfang Juni 85 an Emilie, die in Berlin geblieben ist: »… habe die neue Novelle entworfen, soweit man etwas entwerfen kann, zu dem noch überall das Material fehlt. Von der ersten Hälfte gilt dies halb, denn sie spielt hier in der Gegend, von der zweiten – die bei den Mennoniten in Amerika spielt – ganz …« Übrigens wohnte der Amtsrichter Dr. Georg Friedlaender in Schmiedeberg, nah bei Krummhübel; man sah sich häufig. »Mit einem Silberstein kann man Fragen durchsprechen, mit Prinz Reuß nicht. Also hoch Silberstein! Oder Friedlaender …« Als ihn mit Korrekturbögen beruflicher Ärger in der Sommerfrische einholt – »Sein Eigenes immer wieder zu lesen, strapaziert nicht bloß, sondern verdummt auch« –, teilt sich sein Mißmut in einem Brief mit, den er am 18. Juli 87 an Friedrich Stephany richtet, der »Irrungen, Wirrungen« in Fortsetzungen abdrucken will und nun des Autors Kommentar zu den miserablen Fahnenabzügen der Vossischen Zeitung lesen muß: »Macht das, was ich wünsche, Doppelarbeit, so macht es Doppelarbeit!« 1891, im Jahr vor der Nervenkrankheit, ist er den August über in Wyk auf der Nordseeinsel Föhr: »Noch bin ich keinem Menschen begegnet, mit dem ich fünf Worte hätte sprechen mögen …«, klagt er seiner Tochter Martha. Leider liegen dem Archiv ihre Briefe an den Vater nicht vor; nur aus Zitaten – »… die Wendung ›vielmotivige Mogelpläne‹ ist Dir geglückt …« – wissen wir, daß Metes Briefstil dem seinen angepaßt war. Wenn Fonty über Martha Wuttke sagte: »Schriftlich ist sie besser als mündlich«, vermuteten wir ein verschollenes Zitat. Aus Bad Kissingen Briefe und immer wieder aus Karlsbad, von wo aus er, zum letzten Mal mit Frau und Tochter in Kur – das war Anfang September 98 –, seinem Sohn Friedel antwortet, der seit »Stine« und »Frau Jenny Treibel« des Vaters Bücher verlegt: »Was Du mir von Kritiken schickst, hab ich durchgelesen oder richtiger überflogen. Stellenweise zum Totlachen war Otto Leixner in der ›Täglichen Rundschau‹. An einer Stelle schreibt er: ›Er (Th. F.) mußte fünf Jahre auf sein Bräutchen warten.‹ Danach muß Leixner ein Sachse sein …« Wieder zurück in Berlin, verlobt sich endlich Mete mit dem Architekten Dr. Fritsch. Der ihm seit Jahren gewogene Kritiker Paul Schlenther berichtet: »Zur Feier der Verlobung seiner ihm geistesverwandten Tochter war ein kleines, feines Essen bereitet worden. Nur neun Personen. Der Alte in seiner herrlichen, lieben Greisenschönheit Mittelpunkt und Seele der Unterhaltung …« Vier Tage später war der Alte oder, wie wir zu sagen gewohnt sind, der Unsterbliche tot.
Nach Martha Wuttkes Trauung mit dem Bauunternehmer Heinz-Martin Grundmann und dem anschließenden Festessen, zu dem, weil Professor Freundlich und Frau abgesagt hatten, nur zehn, Hoftaller mitgezählt, elf Personen versammelt waren, reiste das frischvermählte Paar sogleich ab und folgte der Devise des Brautvaters: »Wenn auch nur kurz, Hochzeitsreise muß sein.« Sie fuhren in Grundmanns BMW über Schwerin, wo sie kurz Halt machten, um die zukünftige Wohnung mit Seeblick zu besichtigen, dann weiter nach Lübeck und Puttgarden auf Fehmarn, nahmen von dort die Fähre nach Rodby und waren zwei Stunden später in Kopenhagen, für dessen Sehenswürdigkeiten drei Tage genug sein mußten. Anschließend stiegen sie, wie vorbestellt, im »Hotel Praestekilde« in Keldby auf der Insel Mon ab. Doch auch die Brauteltern hielt es nicht in der immer noch heißen Stadt. Dem im Haus der Ministerien halbtags angestellten Aktenboten stand Genesungsurlaub bei voll ausgezahltem Gehalt zu; seine Frau sollte ihn begleiten. Und da der Sohn Friedel die Eltern nur kurz in der Kollwitzstraße besuchte und es überaus eilig hatte, nach Wuppertal zurückzukehren, mußte die Abreise nicht verschoben werden. Es kam zu keiner klärenden, geschweige denn versöhnlichen Aussprache. Steif saß man sich im Poggenpuhlschen Salon gegenüber. Jeder auf seine Weise verletzlich. Vorsichtig abwägende Worte. Eine Einladung an die Eltern, etwa zum Kuraufenthalt im Sauerland, wurde nicht ausgesprochen. Fragen nach Teddy und dessen Frau sowie nach deren Kindern aus erster Ehe bekamen kaum Antwort. Friedel wich jeder familiären Annäherung aus. Nur als Verleger war er gesprächig: Das Verlagsprogramm müsse sich nun, nach Öffnung der Märkte, global orientieren. Eine Geschichte der Herrnhuter und ihrer weltweiten Missionsarbeit sei in Vorbereitung. Nun, nach dem Debakel der materialistischen Lehre, dürste die Menschheit nach religiöser Sinngebung. »Unsere Stunde!« rief er. Als der Sohn ging und nur einen Verlagsprospekt zurückließ, sagte Theo Wuttke zu seiner Frau: »Der ist uns, glaube ich, auch verloren. Im Grunde steht man zu seinen Kindern nicht anders als zu anderen Menschen. Da helfen keine Erziehungskunststücke. Na, vielleicht rappelt er sich doch noch und verlegt seines alten Vaters Vorträge, gehalten in schwieriger Zeit. Bin mir aber nicht sicher, wenn ich meinen Herrn Sohn so selbstgerecht daherreden höre. Was heißt hier Unrechtsstaat! Innerhalb dieser Welt der Mängel lebten wir in einer kommoden Diktatur. Glaub mir, Emilie, da drüben, ob nun in Wuppertal oder Bonn, wird auch nur mit Wasser gekocht.« Emmi weinte eine halbe Stunde lang, dann begann sie zu packen. Wir vermuten, daß sie das nunmehr feststehende Reiseziel allen anderen Kurorten, die Fonty erwogen haben wird, vorgezogen hat. Krummhübel im Riesengebirge, ein Städtchen, das heute, weil seit Kriegsende in polnischem Besitz, Karpacz heißt, und Karlsbad als Karlovy Vary schienen einige Erwägungen wert; jetzt, mit Westgeld, war man dort König. Nicht nur Emmi lehnte Thale am Harz ab. Bad Kissingen, Norderney und Wyk auf Föhr schieden aus Kostengründen aus. Doch darin waren sich Theo und Emmi Wuttke einig: Seeluft sollte Vorrang haben. Soviel sich im Verlauf der Wendezeit verändert haben mochte, die Ostsee hatte man noch immer in greifbarer Nähe; zudem sprachen die längere Krankheit und die anstrengenden Hochzeitsvorbereitungen für einen Aufenthalt an der Küste. Mit dem ihm verbliebenen Nachdruck war Hoftaller, der unbedingt behilflich sein wollte, der Meinung, daß sich von Fontys langjähriger Tätigkeit als Kulturbundreisender durchaus ein Anspruch auf »exquisite Ferienortlage« ableiten lasse. Er wolle sich über Beziehungen nützlich machen. Noch verfüge er über Kontakte. Und schon legte er als Beweis einen Brief auf den Küchentisch. »Habe mir erlaubt, ohne aufdringlich sein zu wollen, ein wenig vorzusorgen. Nehme an, daß auch Sie, liebe Frau Wuttke, mit diesem baltischen Capri zufrieden sein werden.« Die Nachricht kam von der Ostseeinsel Hiddensee und besagte, daß hinter der Villa Seedorn, dem Hauptmannhaus benachbart, ein Gästezimmer mit Kochgelegenheit und wohnlichem Nebenraum frei sei, gleich hinter den Buchen. Dort habe der werte Herr Wuttke, wie man sich gut erinnere, schon mehrmals übernachtet, zuletzt, nachdem er ein zahlreiches Publikum mit pikanten Hinweisen auf die Praxis der preußischen Zensur überrascht habe. Man freue sich auf das Wiedersehen. Die Nachsaison habe, wie jeder Liebhaber der Insel wisse, ihre besonderen Reize. Ohne Hoftallers verdeckte Dienstleistung zu erwähnen, schrieb die Leiterin der vielbesuchten Gedenkstätte: »Das Werk des großen Dichters wird auch diese Wendezeit überleben. So spürbar die veränderte Lage ist und so erstaunt wir feststellen, wer hier neuerdings anlandet und sich als kauffreudig zu erkennen gibt, wir bleiben weiterhin dem gemeinsamen Kulturschaffen verpflichtet. Herzlich willkommen auf unserer Insel!«
Uns war das Hauptmannhaus eine vertraute Adresse. Oft hat man von dort aus Anfragen ans Archiv gerichtet. Nicht selten haben Mitarbeiter kurze und längere Inselferien mit Studienaufenthalten verbunden. Dort kam man auf vogelfreie Gedanken. Von dieser Trauminsel aus öffnete sich uns zumindest der Horizont. Ein Nahziel mit Fernblick. Und wie üblicherweise wir, so reisten Theo und Emmi Wuttke bis Stralsund mit der Bahn und nahmen von dort aus das Schiff.
Von Berlin-Lichtenberg über Pasewalk. Noch hieß die Reichsbahn nicht Bundesbahn. Weil untauglich für ein schnelles Geschäft, sollte sich die Übernahme dieses Relikt aus vorsozialistischen Zeiten noch lange hinauszögern; und da der Kulturbundreisende Fonty jahrelang den Schienenweg genommen hatte, konnte er als ein Stück Reichsbahn gelten, so zurückgeblieben sah er aus, so verlangsamt und schäbig abgenutzt kam er sich vor: »Bin untauglich für schnelle Anschlüsse; das gilt auf Bahnhöfen wie in der Politik.« Weil aus Gewohnheit sparsam, reisten die Wuttkes zweiter Klasse. Der Zug kam verspätet aus Leipzig. Bis Stralsund hatten sie ein Abteil für sich. Wir hätten uns gerne dazugesetzt, waren aber indirekt dabei, weil Emmi uns später die Bahnfahrt miterleben ließ: »Ziemlich langweilig die Landschaft, immer dasselbe. War aber trotzdem gut, daß man rauskam endlich. Die Hitze in der Stadt, immer mehr Autos, und was man jetzt überall von Ozon redet. Außerdem hat die Hochzeit meinen Wuttke, aber mich och ziemlich mitgenommen. Das ganze Drum und Dran, und daß unser Friedel bei uns dann kein einziges herzliches Wort gefunden hat. Nur immer auf uns runtergeguckt. War auf der Hochzeit schon so. Richtig hochnäsig sind die alle. Zum Schluß hätt es beinah noch Krach beim Bezahlen gegeben. Aber das hat sich, wie Martha sagt, Vater nich nehmen lassen. Wer sind wir denn, daß man uns dauernd wie arme Schlucker behandelt. Na, dieser Grundmann. Mein Gott, wie der redet! Als müßt man uns alles dreimal erklären. Dabei freundlich. Sagt zu mir gnädige Frau und hochverehrte Emmi. Kann einfach über alles reden und weiß sogar Dinge, die er nich wissen kann. Warum manches schlimm und anderes nich so schlimm, und wie das wirklich war beim Kulturbund, nämlich manchmal, wie Martha immer gesagt hat, von Weltniveau, und warum sich mein Wuttke dafür so angestrengt und verdient gemacht hat, daß sie ihn paarmal sogar mit ner Ehrennadel in Silber ausgezeichnet haben. Doch dieser Grundmann sagt immer nur ›Verstehe‹, och wenn er rein nischt kapiert hat und am liebsten hören will, daß wir von früh bis spät gelitten und uns wie im KZ gefühlt haben. Und seine Tochter, die ganz schön keß is, redet och über alles weg. Erklärt meinem Wuttke, der ja nie ins westliche Ausland gedurft hat, wo überall sie gewesen is: Klar doch, Paris, Rom und jede Menge griechische Inseln. Und paarmal London, einmal sogar bis Schottland rauf. Und stellen Sie sich vor: Sogar auf Ball is das junge Ding gewesen, auf Ball! Mein Wuttke hat nur gestaunt, dann aber prompt sein Gedicht, na, das von den balinesischen Frauen, aufgesagt, alle Strophen. Aber hinterher, als die alle und die Adlige och endlich weg waren, hat er gesagt: ›Ganz nett die Leute aus dem Westen, aber kolossal anstrengend.‹ Und als wir dann fuhren, haben wir erst mal gelacht alle beide, weil mein Wuttke nun och ›gnädige Frau‹ und noch so paar komische Sachen zu mir gesagt hat, die die Bunsensche von sich gegeben hat: ›Recht anständig, der Wein hier …‹ oder: ›Richtig niedlich, diese Frau Scherwinski. So natürlich. Dergleichen gibt es bei uns im Westen schon lange nicht mehr …‹ jedenfalls haben wir unsern Spaß gehabt. War doch ne schöne Hochzeit! Och wenn mir dieser Grundmann mit seinen zehn Großbaustellen und seinen Witzen über unsere Plattenbaukästen ziemlich auffen Wecker gegangen is, als wenn die drüben nich och Mist gebaut hätten. Konnt ma ja sehn von weitem schon: Britz, Buckow und wo noch überall. Und wie die Potsdamer Straße aussieht! Nee, wissense, nee! Mein Wuttke hat zwar über unsere Martha gesagt, die wird ihren Grundmann schon zurechtstauchen, wo sie nu katholisch is und mitreden kann, aber besorgt war er trotzdem. ›Was die da in Schwerin groß aufziehen wollen, diese Grundstückmakelei, und was er sonst noch vorhat, Industriepark und Erholungspark in ökonomischökologischer Symbiose, gefällt mir gar nicht. Alles Mumpitz! Erinnert mich kolossal an anno einundsiebzig, als mit Frankreichs Golddukaten die preußische Renommiersucht hochgepäppelt wurde. Gründerjahre nannte man das. Alles Fassade und hinten raus Mietskaserne. Skandale und Pleiten. Kann man in der Vossischen nachlesen: der Börsenkrach anno dreiundsiebzig. War eine einzige Baustelle, die Stadt. Und überall Grundmanns, wenn sie auch Treibel hießen, Kommerzienrat waren und in Berliner Blau machten …‹ Sie wissen ja, wie mein Wuttke redet, wenn er auf sein Einundalles kommt. Was der gesagt hat, paßt immer. Und manchmal paßt es sogar. Sie vom Archiv haben ja mitgekriegt, wie ihm sein oller Petöfy in die Tischrede gerutscht ist. ›Entsage!‹ Und das auf ner Hochzeit. Aber auf der Bahnfahrt waren bis Pasewalk nur die Treibels dran. Was hab ich gelacht, als mir mein Wuttke das berlinische und hamburgische Getue vorgespielt hat: ›Was ist denn wohl schöner, die Alster bei der Uhlenhorst oder die Spree bei Treptow?‹ Und die aufgeblasene Frau Treibel hat er flöten lassen: ›Dieser furchtbare Vogelsang hat wie ein Alp auf mir gelegen …‹ Darin ist er groß. Und immer so direkt, als ob er gestern noch mit nein Bleistift das alles persönlich gekritzelt und mir zum Abtippen vorgelegt hat. Aber gelacht hab ich schon. Nur, daß er diese Corinna Schmidt aussein Roman, die ja an sich ne flotte Person is, andauernd mit unserer Martha verglich, fand ich wieder mal ziemlich daneben, weil er damit alles noch schlimmer macht. Immerzu: Corinna hin, Mete her. Dabei soll diese Mete, die ja der Liebling von seinem Einundalles gewesen is, zum Schluß Selbstmord gemacht haben, vom Balkon runter, das arme Ding, weil ihr Mann viel älter als sie war und ihr einfach weggestorben is und weil sie sowieso nervenkrank war, ähnlich wie unsere Martha … Jedenfalls hab ich gesagt: ›Was soll nun werden, Wuttke! (Hab aber eigentlich was ganz anderes, nämlich die Einheit gemeint, von der alle geredet haben und die für uns dieser Krause ausgehandelt hat. Aber er hat geglaubt, ich hätt nach der Ehe mit Grundmann gefragt. ›Was soll schon werden‹, hat er gesagt, ›wird sich hinziehen wie jede Ehe und schlecht und recht sein. Hatte vor, meine Tischrede, die ja wohl bißchen daneben war, auf den hinter jeder Ecke lauernden Ehebruch zu bringen. Wollte mit ’L’Adultera’ anfangen und den Faden von der couragierten Melanie über die kränkelnde Cécile bis hin zur armen Effi spinnen, habe dann aber auf deine Empfindlichkeit, meine liebe Emilie, Rücksicht genommen und meiner frisch konvertierten Tochter etwaige Wünsche nach katholischem Glück mit dem protestantischen ’Entsage!’ wegzublasen versucht. Doch zurück zu deiner Frage. Was soll schon werden? Ehekrise, Ehekräche, Ehebruch! Ein immergrünes Thema. Werde schon morgen Einschlägiges an unsere Mete schreiben. Werde ihr raten, das Glaubensbekenntnis ihres gar nicht so üblen Pfaffen zu beherzigen und tapfer zu zweifeln. Bleibe dabei: Zweifel ist immer nichtig!‹ Und dann hat mein Wuttke doch noch gemerkt, daß ich nach ganz was anderem gefragt hab. ›Was nun werden soll? Falls du das Einigvaterland gemeint hast, keine Ahnung. Da mußt du, sobald wir zurück sind, meinen altvertrauten Kumpan fragen, der wußte schon immer im voraus, wie es schiefgehen würde, jedesmal. Der hat, wie man heute sagt, den Durchblick und ist kolossal auf dem laufenden. Ich hab schon zu oft danebengetippt, aber Hoftaller, der hat den richtigen Riecher. Schon als Tallhover, als der Eisenbahnzug quer durch Deutschland mit Lenin drin …‹ Ich hab ihn nur noch reden lassen und nischt mehr gesagt, nur aussem Fenster geguckt und mich ziemlich gelangweilt. Denn das kannt ich schon alles. Nee, nich nur die Landschaft draußen, auch die Geschichten von früher. Als wir in Pasewalk hielten, hab ich ihn kurz dran erinnert, daß er hier sowas wie Kreissekretär hätt werden können, aber da hätten Sie meinen Wuttke mal hören sollen: ›Pasewalk – nie! Hier hat doch dieser österreichische Gefreite im Lazarett gelegen und beschlossen, Politiker zu werden. Hier hat angefangen, was noch lang nicht zu Ende ist. Selbst mein altvertrauter Kumpan konnte mich nicht überreden. Pasewalk? Niemals, hab ich gesagt. Hat dann auch nicht mehr gedrängelt, hat eingesehen sogar …‹ Da hab ich nur lachen gekonnt: ›Nee, Wuttke, der kennt kein Einsehen nich. Der hat doch schon wieder überall seine Finger drin.‹ Und daß er och noch auf Martha ihre Hochzeit gekommen is-, war ganz nach Plan. Steht plötzlich in Schlips und Anzug da, hat ein Päckchen mit Schleife drum, sagt: ›Für die Genossin Braut‹ und feixt dabei, als wüßt er mehr, als man von sich selber weiß. Nen richtigen Schauer hab ich gekriegt, als er auf einmal bei Friedel stand und auf den eingequasselt hat, als wär nie was Schlimmes gewesen … Als hätt er nich unsre Jungs und och Martha bespitzelt, als die sich mit ihrem Grundmann im Hotel heimlich … Jedenfalls war, als wir in Stralsund ankamen, immer noch schönes Wetter, doch nich so heiß wie in Berlin, weil ja vom Wasser ein Lüftchen ging. War richtig zum Aufatmen …«
Grob geschätzt sind es über siebentausend Briefe gewesen, die gesammelt wurden und zum Teil wieder verlorengingen; denn an die tausend Handschriften aus seiner Feder gehören zu den Verlusten, die uns der letzte Krieg brachte. Gelegentlich taucht die eine oder andere Originalschrift wieder auf und erzielt auf Auktionen stolze Preise, doch können wir nur selten mitbieten. Glücklicherweise fanden sich in einem Tresor – natürlich in einem jüdischen – einige Tagebücher, darunter das Londoner, das mehr als nur Arbeitskladde ist. Anderes bleibt weg: so die Korrespondenz mit Wolfsohn und die frühen Briefe an die Verlobte; bald nach Emilies Tod folgte die Familie ihrem Wunsch und hat alle verbrannt. Hinzu kommt der Geiz der preußischen Kulturbehörden; denn als die Erben anno 35 glaubten, einen Teil des Nachlasses versteigern zu müssen, gingen bereits Kostbarkeiten unübersichtlich in fremde Hände über, zum Beispiel Entwürfe; ein für die Forschung besonders bedauerlicher Verlust, denn viele seiner Briefe, selbst solche, die sich wie spontane Niederschrift lesen und reich an augenblicklichen Einfällen sind, wurden bis ins launige Detail erarbeitet, sogar jene, die von politischem Zorn diktiert zu sein scheinen, etwa sein emotionaler Ausbruch, der am
6. Mai 1895, dem Geburtstag jenes Kronprinzen zu Papier kam, der gottlob nie Kaiser werden sollte: »Mein Haß gegen alles, was die neue Zeit aufhält, ist in einem beständigen Wachsen, und die Möglichkeit, ja die Wahrscheinlichkeit, daß dem Sieg des Neuen eine furchtbare Schlacht voraufgehen muß, kann mich nicht abhalten, diesen Sieg des Neuen zu wünschen …« Als Kommentar dazu steht an anderer Stelle: »Habe oft hart am Rande des Hochverrats geplaudert …« Einer seiner Biographen, Hans-Heinrich Reuter, der unserem Archiv über Jahrzehnte hinweg auf recht eigenwillige Weise verbunden gewesen ist, hat diese und andere Briefstellen mit Bedacht in den Vordergrund gerückt und aus deren Radikalität die Existenz des ersten deutschen Arbeiter- und Bauern-Staates als historisch konsequent abgeleitet, ohne deutlicher als notwendig zu werden; es ging ihm wohl darum, das kulturelle Erbe zu festigen. Ähnlich wie der Kulturbundreisende Wuttke, der seine Vorträge nie ohne Beschwörung der »kulturellen Errungenschaften« abschloß, hat sich Reuter, der übrigens freundschaftlich mit Fonty in Korrespondenz stand, eine Brücke zurück ins neunzehnte Jahrhundert gezimmert, über die beide – und sei es mit listig ausgewählten Briefzitaten – den Fortschritt und den Humanismus, mithin den »Sieg des Neuen« paradieren ließen. Und Reuter war es, der unserem Epistolographen mit gewagtem Satz nachsagte: »Er würde zur großen deutschen Literatur gehören, auch wenn von ihm nichts überliefert wäre als seine Briefe.« Über Storm, Keller und Hebbel stellt er ihn und spricht von »europäischen Briefen«, die an Voltaire und Diderot, an Lessing oder Swift und Scott zu messen seien. Wir vom Archiv stimmen dem gerne zu, indem wir, mit Reuter, den zur Höchstform entwickelten Plauderstil betonen, zum Beispiel dort, wo er am 12. Mai 1884 aus strenger Arbeitsklausur in Hankels Ablage an seine Frau schreibt und beiläufig die Qualität der Tinte, »lauter kleine Klümpchen«, beklagt: »… Wovon man doch alles abhängig ist? Die ganze Schreiblust ist hin. Mein Zimmer ist reizend, und der Blick über den Vorgarten fort auf den starkbewegten Strom und die Heide dahinter erquickt mich. Die Luft ist ozonreicher als nötig und macht mich fiebrig; es weht eine starke Ostbrise, dennoch fühle ich, daß meine Nerven sich dabei erholen. Nur die Tinte! Geht das so fort, so können all the perfumes of Arabia mich nicht wieder gesund machen. Auch vor der Nacht habe ich ein ahnungsvolles Grauen – es sieht alles sehr mäusrig aus …« Und ähnlich spontan wirkend verplauderte er politische Ärgernisse, etwa, wenn er in einem Brief an Mete den Konflikt des Kaisers mit Bismarck, den er als »Mogelant« sieht, in eine Anekdote kleidet und zum Schluß befindet: »Er hat die größte Ähnlichkeit mit dem Schillerschen Wallenstein (der historische war anders): Genie, Staatsretter und sentimentaler Hochverräter. Immer ich, ich, und wenn die Geschichte nicht mehr weitergeht, Klage über Undank und norddeutsche Sentimentalitätsträne …« Dieses Urteil übernahm Fonty in einem Brief, gerichtet an Martha Grundmann, geborene Wuttke; denn kaum auf Hiddensee angekommen, verspürte er, während Emmi die Koffer auspackte, unwiderstehliche Schreiblaune; außerdem stieß ihn aus einer liegengebliebenen Zeitung politischer Ärger an: »Sperre ja selten mein Ohr in Richtung Bonn auf, doch wenn sich der gegenwärtige Kanzler der Deutschen in Sachen Einheit überhebt und als regierende Masse in die Nähe Bismarcks rücken läßt, muß diesem Vergleich insoweit zugestimmt werden, als ich in beiden kolossale Mogelanten sehe …«
Weiter steht in dem Brief an seine Tochter, die er als »Meine Mete« anredet: »Die Buchen vor unserem Quartier stehen immer noch unbeschadet. und auch sonst ist auf der Insel von kommender Einheit nichts zu bemerken, es sei denn, daß die Zigarettenreklame am Klosterschen Bollwerk -›Go West!‹ -allgemein richtungweisend sein will; was nun tatsächlich für meinen aus bester Laune gestifteten Brief zutrifft, den ich, wie verabredet, nach Stege auf Mon schicke, damit Du ihn postlagernd vorfindest. Inzwischen werdet Ihr Kopenhagen, die Glyptothek, Thorwaldsens kalte Marmorpracht und, im Gegensatz dazu, das äußerst lebendige Tivoli abgehakt haben. Grundmann ist sicher mehr an Baulichkeiten interessiert, Dich jedoch vermute ich auf den Spuren des so liebenswürdigen wie labilen Grafen Holk und der feuerzüngigen Ebba Rosenberg, die ja keine Rosenberg-Gruszczynski, sondern eine Enkelin des schwedisch-königlichen Leibjuden Meyer-Rosenberg gewesen ist und alle Vor- und Nachteile des jüdischen an sich hatte, weshalb ihr der arme Holk nicht gewachsen war, zumal ihn beiläufig die mit der Geheimpolizei vertrauliche Kapitänstochter Brigitte durch ihr laszives Benehmen verwirrt hat. Jedenfalls bin ich begierig, von Dir zu hören, ob Kopenhagen noch immer ein Sündenpfuhl ist und die Dänen so fidel wie dazumal sind. (Übrigens kam ›Unwiederbringlich‹ auf dänisch unter dem Titel ›Grevinde Holk‹ heraus.) Mama und ich erreichten Stralsund -oder was von der einst Schönen und selbst von Wallenstein nicht Bezwungenen geblieben ist – im guten alten Reichsbahntempo, so daß wir einerseits Eure Hochzeit und deren Gäste verplaudern und andererseits das Motorschiff ›Insel Hiddensee‹ gerade noch rechtzeitig erreichen konnten; zu meiner Zeit setzte man mit dem schmauchenden Dampfer ›Swanti‹ über. Und weil in Eile, haben wir von der Stadt am Strelasund, die uns, trotz einiger Goldzähne, auffallend lückenhaft anlächelte, nur wenig gesehen, denn pünktlich um 14 Uhr 30 legten wir ab. Einige restliche Speicher blieben zurück. Schnell rückte uns Altefähr näher, das schon auf Rügen liegt. Bei prächtigem Wetter und minimalem Seegang genoß Mama die Überfährt vorbei an grünen und roten Bojen und die Sicht auf den Gellen. Mit schwarzen, später schwarzgelben Wimpeln begrüßten uns erste Reusen, auf denen Kormorane saßen. Nach knapp zweistündiger Fahrt legten wir in Neuendorf, bald in Vitte an und folgten dabei der Fahrrinne zwischen Bojen, die den Weg wiesen. Zwischen Vitte und Kloster machte ich Mama auf die im waldigen Hügelland gelegene Lietzenburg aufmerksam, die weniger durch den Bildhauer Oskar Kruse als durch die Puppenmutter Käthe Kruse bekannt ist. Und Immer wieder Kormorane in ständig wechselnden Flugformationen, die uns vor dem Hintergrund der langgestreckten Insel entzückten und bei Mama, die ja eigentlich gegen Seefahrten ist und selbst bei stabilem Wetter Stürme befürchtet, kindliche Freude aufkommen ließen. ›Guck nur, guck nur!‹ rief sie und wollte gar nichts anderes sehen. In Kloster angelandet, stand dann am Bollwerk zwar nicht ein Enkel des alten Gau, den sie, wenn Du Dich an Deinen Inselbesuch mit Zwoidrak erinnerst, ›Schipperöbing‹ genannt haben, doch ziemlich wortkarg karrte uns ein Fischersohn die Koffer im Bollerwagen zum Hauptmannschen Anwesen, ein, wie ich finde, allzu klotziger großbürgerlicher Bau, in dessen Windschatten wir in der Gästewohnung Quartier nahmen, weit genug weg von aller touristischen Neugierde. Übrigens ist es dasselbe Doppelzimmer, in dem ich Anfang der siebziger Jahre ein verregnetes Wochenende überstanden habe, nachdem mein Vortrag ›Literatur und Zensur in Preußen vor und nach dem Wegfall der Sozialistengesetze‹ nur ängstlichen Beifall gefunden hatte, zumal ich mir als Zugabe einen Vergleich zwischen Hauptmanns ›Die Weber‹ und Müllers ›Die Umsiedlerin‹ erlaubte. Während der nachfolgenden Aussprache mit dem Publikum, zu dem einige Inselprominenz gehörte, gab es zwar deutliche Winke mit dem Zaunpfahl, doch scharf geschossen wurde nicht. Die beiden Zimmer sind unverändert schlicht möbliert, mit Kochnische für Mamas Blasentee, blauweiß karierten Gardinen und einem Ledersessel, der von vielen Inselgästen erzählen könnte, unter ihnen illustre, die sich gegenwärtig gewiß ungern an ihre Unsterblichkeitszertifikate für den damals schon kränkelnden Sozialismus erinnern werden. Kann man im Gästebuch nachlesen. Etliche drollig gereimte Ergebenheitsadressen. Fand auch mich rückblätternd mit letzter Eintragung vom Mal einundsiebzig: ›Ein Hauptmann brachte dem Kaiser Verdruß, uns ist ein Müller ’ne harte Nuß.‹ Dies Verslein lesend, möchte ich nunmehr nachtragen, daß mir in beiden Fällen jeweils die jungen und radikalen Ausgaben, nämlich der WeberHauptmann und der Lohndrücker-Müller, vor Augen standen; in späteren Produktionen gewann oft das Pompöse überhand: viel inszeniertes Geschrei und wenig Wolle. Jedenfalls fühlte ich mich, kaum waren die Koffer ausgepackt, sogleich angekommen. Nur Mama fand die Zimmerchen unangemessen und behauptete, es rieche mäuserig. Du weißt, sie redet sich leicht übers Ziel hinaus und hat einen schwarzseherischen Zug, der mich oft reizt, weil ich nun mal nicht aufs Pessimistische abonniert bin. Gehe nicht, wie sie, dem Traurigen nach, befleißige mich vielmehr, alles in jenen Verhältnissen und Prozentsätzen zu belassen, die das Leben selbst seinen Erscheinungen, so auch dem Ehestand gibt. Deshalb hoffe ich, daß Du Deinem Grundmann in der Hedwigskirche weder ein himmelhochjauchzendes noch ein trübsinniges ja gegeben hast. Mama und ich haben die alte Devise, sich nach der Decke zu strecken, erst spät gelernt, nachdem uns das Leben deprimierenden Nachhilfeunterricht erteilt hat. Eine schwere Kunst: gelegentlich durch die Finger gucken und doch ehrlich bleiben; was wir natürlich auch von Deinem Grundmann erwarten, sobald es ihn ankommen wird, nach bauherrlicher Lust mit Mecklenburgs Grund und Boden zu spekulieren und sich überall, laut neuester Redensart, saftige Filetstücke rauszuschneiden. Wie ich am Hochzeitstisch beiläufig hörte, hat er zweifelsohne ein Auge auf Schwerins Schelfstadt geworfen, er sprach von einigen ›hochinteressanten Projekten‹. Nun ja! Man verzapft so gut man kann seine väterliche Weisheit, und schließlich ist doch auch diese belämmert. Warne nur vor allzu großer Happigkeit! Hier gibt man sich übrigens wohltuend freundlich, auch Mama gegenüber. Die Leiterin des Museums erinnert sich meiner Bemühungen um das kulturelle Erbe. Sie scheint mir eine Person zu sein, die sich partout nicht die Butter vom Brot nehmen läßt. Ob allerdings in heutigen Zeiten Haltung bewahrt werden kann, bleibt ungewiß. Viele Gäste hat die Insel nicht. Einige Westler, die begehrlich über die Zäune gucken. Noch immer begegnet man hier jenen von Jugend an halb ansässigen alten Damen mit Bubikopffrisuren und schräg sitzender Baskenmütze. Und selbstverständlich fehlt es nicht an Sachsen, die nach wie vor bemüht bleiben, aller Welt zu beweisen, wie unverwüstlich sie sind. Zum Glück hat Professor Freundlich mit Frau, die leider zu Deiner Hochzeit nicht kommen konnten, in Vitte Quartier bezogen. Ich weiß, er liegt Dir nicht besonders, noch weniger Mama. Mir hingegen ist sein weltläufiger Witz immer Gewinn gewesen. Diese Emigranten – der alte Freundlich ging seinerzeit nach Mexiko haben sich einen weiten Horizont bewahrt. Und als die Freundlichs, anfangs der Vater, später der Sohn, noch beim Kulturbund von Einfluß waren, fand mein Bemühen um das kulturelle Erbe jederzeit ihre Unterstützung. Schließlich bekamen beide Ärger mit der Partei. Doch wie Du weißt, passierte das jedem, der auf sich hielt. Freundlich senior starb darüber. Freundlich junior jedoch, der nun schon auf die Sechzig zugeht, hat den Verlust seiner Parteizugehörigkeit mit noblem Sarkasmus quittiert und meinen im Grund feigen Verbleib beim Kulturbund nicht krummgenommen, sondern gutgeheißen. Sein Rat hieß: ›Weitermachen, Wuttke, schlimmer kann es nicht werden.‹ Und meinen spielerischen Vergleich mit Friedlaender, den ich, von unserem Briefwechsel ausgehend, zum Vortrag ›Wiederholte Freundschaft mit Juristen‹ – umgemünzt habe, hat er mit Vergnügen gehört, als mich die Pirckheimer-Gesellschaft anläßlich seines fünfzigsten Geburtstages als Festredner nach Jena eingeladen hatte. Daß Friedlaender Ärger mit der Armee bekam, nur weil er Jude war, steht übrigens auf dem gleichen Blatt, auf dem Freundlichs Ärger mit der Partei notiert ist; doch zur Zeit bereiten ihm westliche Professoren, die sich anmaßen, seinen wissenschaftlichen Rang zu evaluieren, einigen Kummer. Man will ihn weghaben; man wollte ihn immer schon weghaben. Nun werden Mama und ich einen ersten Inselbummel wagen. Natürlich geht’s zuerst auf den nahen Friedhof, wo ja nicht nur Schluck und Gau liegen, sondern unterm Findling auch er, auf Wunsch begraben: ›Vor Sonnenaufgang‹ …«
Wir müssen dem Biographen Reuter zustimmen, wenn er die Verdienste des Briefschreibers und Theaterkritikers um den jungen Dramatiker Hauptmann aufzählt: Niemand habe wie er den neuen Ton gehört, aber auch die Gefahr des Abgleitens ins weihevoll Mystische oder in die Langweiligkeit klappriger Ritterstücke wie »Florian Geyer« erkannt.
Wenn Fonty also das Hauptmanngrab besuchte, den Findling »zwar kolossal, aber doch angemessen« nannte, sich am Efeu über dem Grabhügel erfreute, einige vertrocknete Kränze bemängelte, linker Hand Feuerdorn und kurze Eiben, rechter Hand einen Weißdorn registrierte und die in den Stein gehauene Keilschrift, die nur den Namen nennt, die Lebensdaten jedoch wie überflüssiges Beiwerk ausspart, als »stolzen Anspruch auf Unsterblichkeit« lobte, ist anzunehmen, daß er -ganz im Sinne Reuters – gerne einen Kranz getrockneter Immortellen zur Hand gehabt hätte; doch war dieser Grabschmuck schon lange nicht mehr im Handel, weil angesichts des Weltzustandes viele Pflanzen, so die Immortellen, bedroht sind und überdies der Begriff Unsterblichkeit fragwürdig geworden ist. Emmi und er folgten den Grabreihen des sanft gewellten Friedhofs, der dem allmählich beginnenden Hügelland zu Füßen liegt. Vorbei an Eibenhecken. Nur wenige, vom Wind geduckte Bäume. Einheimische neben Zugereisten. Emmi hat ihn auf die vielen Gottschalk, Gau, Schluck, Witt, Schlieker und Striesow aufmerksam gemacht. Er wies auf eine schmale, spitz zulaufende Stele und wußte, daß jene zuoberst angeführte Sabine Hirschberg, deren Lebensdaten ihr nur die knappe Spanne von 1921 bis 1943 ließen, zum Widerstandskreis der »Weißen Rose« gehört hatte und sich das Leben nahm, als Verhaftung drohte. Hand in Hand, so sehen wir die Wuttkes vor wechselnden Grabstellen. Beide gingen gerne auf Friedhöfe. Hier fielen ihm, von Stein zu Stein, besonders viele Anekdoten ein, sei es zum alten Inselpfarrer Gustavs, sei es zu Solting, der so gerufen wurde, weil seine zwei Kühe auf Salzwiesen weideten. Als Emmi das Familiengrab der Felstensteins nahe der Kirche bewunderte, wirkte auf ihn der »enorme Aufwand«, besonders aber die gußeiserne Schmuckumrandung wie eine Bühnendekoration zu einem eher mittelmäßigen Theaterstück. Fonty rief: »Respekt vor dem großen Regisseur! Doch zuletzt hat er sich kolossal daneben inszeniert.« Dann blickte er sich um, wie auf Suche nach einer aufgelassenen Grabstelle.