Sieg der Volksfront
Smilzo drehte das Radio ab, und das Schweigen lastete auf dem großen, halbdunklen und kalten Zimmer.
Seit vielen Stunden hatten die Männer des Parteistabes unruhig auf die Verlautbarung gewartet, und als sie nun durchgegeben wurde, fand keiner die Kraft, etwas £u sagen.
«Na und, was machen wir jetzt?» fragte schließlich Bigio.
«Das ist heikel», antwortete Peppone. «Darum dürfen wir die Ruhe nicht verlieren. Das erste, was wir tun müssen, ist, die "Wachsamkeit zu erhöhen. Wir kennen nicht die Absichten unserer Gegner, und darum müssen wir vor allem die Listen und Dokumente in Sicherheit bringen.»
In Wirklichkeit rührten die Gegner keinen Finger; sie beschränkten sich darauf, den Tod des Vaters aller Völker nüchtern zu kommentieren: «Wieder einer weniger!»
Als ein Lockspitzel Don Camillo geschickt aushorchen wollte, zuckte dieser mit den Achseln.
«Diese Angelegenheit geht nur ihn selbst an; er soll schauen, wie er sich nun mit dem lieben Gott stellt.»
«Nach meiner Ansicht war er ein Mensch, der so viel für die Armen getan hat, daß er direkt in den Himmel kommen wird», erwiderte der Lockspitzel.
«Wenn der liebe Gott die Verwaltung des Himmels dem Herrn Roosevelt anvertraut, kann es sein, daß Stalin in den Himmel kommt», murmelte Don Camillo.
Peppone begriff, daß die Wachsamkeit weniger nach außen als innerhalb der Partei verstärkt werden müsse.
«Unsere Leute hat der Schmerz über den Verlust unseres großen Führers umgeworfen», sagte Peppone. «Wir müssen sie aufrichten, elektrisieren!»
Er beschloß, sofort eine Art Gedenkaltar errichten zu lassen; und dieser Gedenkaltar wurde vor dem Haus des Volkes aufgebaut. Ein großes Bildnis des großen Führers umgab eine reiche Draperie von roten Fahnen, und es wurde von einem riesigen Stern aus elektrischen Birnen beleuchtet.
Als der Altar fertig war, sagte Peppone zu den Männern seines Stabes:
«Es muß euch klar sein, wir dulden keine Herausforderungen, von welcher Seite sie auch kommen mögen. Der Augenblick ist heikel, die Gegner glauben, den Kopf hoch tragen zu können. Wir müssen ohne Zaudern handeln. Bringt den Leuten bei, daß sich nichts geändert hat. Geht überall herum mit offenen Augen - und Ohren auf! In den einfachen Fällen greift ein! In den verwickelten Fällen erstattet sofort Bericht!»
Und der verwickelte Fall trat sofort ein. Smilzo erstattete darüber Bericht.
«Capo», sagte Smilzo, «darf die Partei die alte Desolina verprügeln?»
Die alte Desolina war dreiundachtzig Jahre alt und schaute wie eine Reklame für Nierenleiden aus.
«Rede keinen Blödsinn!» antwortete Peppone. «Was hat die alte Desolina damit zu tun?»
«Sie hat damit zu tun, denn es ist ihre Schuld, daß die ganze Gegend über uns hellauf lacht.»
Peppone konnte noch immer nicht verstehen.
«Was hat diese Unglückliche denn getan?»
«Sie hat einen Zettel ausgestellt, und alle kommen, um ihn zu lesen.»
«Ein Manifest gegen die Partei?»
Smilzo breitete die Arme aus.
«Capo, das ist schwer zu erklären. Geh zum Haus der Desolina, und du wirst selbst sehen.»
Sie machten sich auf den Weg und standen bald mitten in der Menge, die sich vor dem kleinen Laden der alten Desolina angesammelt hatte und kicherte. Als die Leute Peppone sahen, gingen sie ihres Weges, denn Peppone machte ein Gesicht, das nichts Gutes versprach, und alle trugen diesem Umstand Rechnung.
Im Schaufenster des kleinen Ladens war von innen ein Zettel angebracht, und als Peppone las, was auf dem Zettel geschrieben stand, ballte er die Fäuste und ging hinein.
Desolinas Laden war ein Loch, in dem man sich kaum rühren konnte; ein schlecht zusammengezimmerter Ladentisch und ein Gestell mit vier bunten Schachteln bildeten das gesamte Inventar des Unternehmens. Das Warenlager bestand aus einigen Käsestücken, einigen Knopfkartons, ein paar Nadelbriefen, einem Bund Schuhbänder, zwei Gläsern mit bunten Karamellen usw.
Desolinas kleiner Laden war wegen einer Spezialität wichtig, für die sie das Monopol für die ganze Gegend besaß.
Desolina war nämlich imstande, aus jedem beliebigen Ereignis und jedem beliebigen Traum die besten Lottonummern herauszufinden; und so besuchte ein Haufen Leute Desolinas Laden. Und nicht umsonst, weil die Alte mehr als einmal die Nummern richtig erraten hatte.
Als sie Peppone eintreten sah, hob Desolina die Augen. Sie war eine ruhige alte Frau, die sich über nichts wunderte und nicht aus der Ruhe zu bringen war.
«Hören Sie einmal», meinte Peppone. «Was bedeutet dieser Zettel im Schaufenster?»
«Das steht darauf geschrieben», erklärte die Alte. «Es sind die Nummern des Toten.»
«Und warum haben Sie den Zettel mit den Erklärungen ausgestellt?» erkundigte sich weiter Peppone.
Die Alte schüttelte den Kopf.
«Es war ein ständiges Aus und Ein. Alle wollten die Nummern des Toten und die Erläuterung der Nummern wissen. Es war nicht mehr auszuhalten. Da hab ich den Zettel mit den Nummern und den Erklärungen ausgestellt.»
Smilzo mengte sich ein.
«Das ist keine Erläuterung, das ist eine Herausforderung!» rief er.
Die Alte schaute ihn verwundert an. Sie nahm den Zettel aus dem Schaufenster und legte ihn auf den Ladentisch.
«Für mich ist alles klar», sagte Desolina und las den Zettel laut vor.
«Die Nummern für Stalins Tod: 23 - Bandit; 18 - Blut; 62 -Verwunderung; 59 - Fröhliches Ereignis.»
Desolina schaute zu Peppone auf.
«Was finden Sie daran auszusetzen? War er ein Bandit oder nicht? Und wenn er ein Bandit war, dann ist 23 die richtige Nummer.»
«Reden Sie keinen Blödsinn!» schrie Peppone. «Er war der größte Ehrenmann auf der Welt, er hat eine Menge Gutes für die Armen getan!»
Die Alte schüttelte den Kopf.
«Er war exkommuniziert, ein Gottloser, ein Antichrist, der viele Priester und viele Leute, die nicht so dachten wie er, umgebracht hat. Er war also ein Bandit, und seine Nummer ist 23. Und weil er ein Bandit war und weil er Millionen von Menschen hat umbringen lassen, ist die zweite Nummer 18, weil die zweite Nummer Blut bedeutet. Und die dritte Nummer ist 62, was Verwunderung bedeutet. Tatsächlich waren alle Leute über seinen Tod verwundert. Wer gegen ihn war, wunderte sich, daß ihn der liebe Gott so lange hat leben lassen. Die Leute von seiner Partei waren verwundert, daß eine so allmächtige Person sterben kann wie ein ganz gewöhnlicher Mensch. Und dann ist noch das fröhliche Ereignis da: Wenn der Tod eines solchen Kerls kein fröhliches Ereignis ist, was soll dann überhaupt die Welt noch erfreuen? Es genügt übrigens, mit den Leuten zu sprechen, um zu sehen, wie sie alle zufrieden sind. Darum ist die vierte Nummer 59 und bedeutet: Fröhliches Ereignis.»
Peppone schäumte vor Wut. «Desolina, wenn ich wollte, könnte ich Sie verhaften lassen!» rief er. «Das ist eine schamlose Verleumdung, eine schmutzige politische Herausforderung!»
«Das sind die Nummern des Toten», erwiderte ruhig das alte Weiblein. «Wer sie spielen will, soll sie spielen, und wer sie nicht spielen will, soll es bleiben lassen.»
«Sie werden diesen Zettel aus dem Schaufenster nehmen und ihn nicht mehr ausstellen!» schrie Peppone.
Die Alte zuckte mit den Achseln.
«Ich bin dreiundachtzig Jahre alt», seufzte sie, «und das ist das erste Mal, daß jemand so unverschämt gegen mich gewesen ist. Nehmen Sie nur den Zettel. Das bedeutet, daß ich die Nummern des Toten nunmehr mündlich verkünden muß.»
Peppone steckte den Zettel in die Manteltasche und ging zur Tür. Dann drehte er sich um.
«Desolina», sagte er mit ruhiger Stimme, «Sie machen das Ganze für irgendeinen Gauner, der sich Ihrer bedient, um uns zu beleidigen. Das ist nicht schön von Ihnen.»
«Ich mache das für niemanden», erwiderte die Alte. «Ich mache es nur für das Lotto. Das sind die Nummern des Toten, und ich werde sie jedem nennen, der mich um sie fragt.»
Peppone schüttelte den Kopf.
«Desolina, Sie halten mich für dumm. Seien Sie aufrichtig! Jemand hat Ihnen diese Nummern beigebracht, vielleicht der Pfarrer... Und was der Pfarrer sagt, ist für Sie das Evangelium, weil Sie zur Kirche halten. Wenn Sie die Nummern des Toten nennen wollen, dann nennen Sie andere Nummern! Nehmen Sie sich in acht!»
«Und wenn ich die Nummern des Toten nennen soll, dann kann ich keine anderen nennen als diese. Das sind die Nummern des Toten!» erwiderte die Alte erbost. «Es gibt keine andern. Bandit, Blut, Verwunderung, Fröhliches Ereignis, 23, 18, 62, 59. Ich verstehe mein Geschäft. Es gibt keine anderen Nummern.»
Später berichtete das Überwachungskommando, daß es vor Desolinas Laden ein großes Gedränge gab. Auch aus den benachbarten Dörfern kamen Leute, die von der Alten die Nummern des Toten mit «Erläuterung» haben wollten.
«Diese Verdammten wollen gar nicht die Nummern, sie wollen nur die Erläuterungen!» rief Smilzo.
«Das geht nicht so weiter!» schrie Peppone, in bestialische Wut gebracht. «Das ist eine unerträgliche Herausforderung! Man muß etwas dagegen tun!»
Brusco, der nur im Notfall sprach, ließ seine Stimme hören.
«Was mich betrifft, ich würde inzwischen auf diese Nummern setzen...»
Peppone sprang auf und faßte ihn an der Brust.
«Brusco», brüllte er, «ich hoffe, du scherzt!»
Brusco breitete die Arme aus.
«Capo, sag, was du willst, bis morgen haben wir Zeit. Ich gehe morgen früh in die Stadt und setze auf diese Nummern, ohne daß jemand etwas davon weiß.»
«Brusco, du jagst mir Angst ein!» sagte Peppone empört.
«Capo», antwortete Brusco. «Politik soll Politik bleiben, Lotto aber Lotto. Ich kümmere mich bei Desolinas Nummern nur um die eine Seite der Sache, die mit dem Lottospiel etwas zu tun hat. Tatsache ist, daß Desolina oft die richtigen erraten hat und sie wirklich herauskommen können.»
«Sie können nicht herauskommen!» brüllte Peppone. «Sie beruhen auf Lüge und schmutziger propagandistischer Spekulation!»
Inzwischen war es Abend geworden, und die Sitzung löste sich ohne weiteres Gerede auf.
Der peinliche Zwischenfall mit Brusco hatte Peppone über alle Maßen aufgeregt, und als er im Bett lag, konnte er nicht einschlafen und wetzte unruhig unter der Decke, als ob er eine lebendige Katze gefressen hätte.
Er hörte die Uhr auf dem Kirchturm die Stunden schlagen. Er hörte alle Stunden schlagen, und als es halb sechs schlug, warf jemand von der Straße einen Stein gegen die Fensterläden.
Peppone schaute zum Fenster hinaus, es war Brusco.
«Capo, brauchst du etwas? Ich geh in die Stadt.»
Peppone warf ihm ein kleines Päckchen zu.
«Terno und Quaterno in allen Kreisen», sagte Peppone mit schlecht verhaltener Wut. Dann schlug er die Fensterläden zu und legte sich wieder ins Bett. Und erst jetzt konnte er einschlafen.
Er stand sehr spät auf und blieb zu Hause. Um halb sieben Uhr abends kam Smilzo dahergelaufen.
«Capo, hast du Radio gehört?»
«Nein.»
«Große Neuigkeiten! Komm sofort ins Parteiheim!»
Als Peppone sein Amtszimmer betrat, kam ihm Brusco ganz aufgeregt entgegen.
«In der Mailänder Runde wurde ein Terno gezogen!»
Peppone wischte sich den Schweiß ab.
«Ich gewinne dreihundertfünfzigtausend Lire!» sagte er. «Und ihr?»
«Dasselbe, wir haben alle dieselben Nummern gespielt wie du.»
«Gut... Stellt euch nur vor, wenn ein Quaterno herausgekommen wäre!» stammelte Peppone. «Welche Nummer ist nicht gezogen worden?»
«Die 62, die Verwunderung!» erklärte Bigio.
«Das konnte man sich vorstellen!» bemerkte Brusco. «Bandit, Blut, fröhliches Ereignis, das hatte einen Sinn. Die Verwunderung war aber schlecht! Was gibt es da schon zu wundern, wenn eines Tages ein alter Mann stirbt?»
Lungo bekam den Befehl, Türen und Fenster zu verrammeln und etwas zu essen und trinken zu holen.
Sie aßen und tranken in Peppones Arbeitszimmer, und um ein Uhr nachts aßen und tranken sie noch immer.
Schlag eins schenkte sich Smilzo ein Glas ein und erhob sich.
«Trinken wir auf die Gesundheit unseres großen Vaters!» rief er mit feierlicher Stimme. «Denken wir daran, daß wir unseren Terno nicht gewonnen hätten, wenn er nicht gestorben wäre!»
«Er ist nicht tot, denn sein Werk lebt weiter und ist ewig!» ergänzte Peppone und hob sein Glas. Dann fuhr er fort, den Rest des Schinkens aufzuschneiden.
Diese Nacht wehte ein heftiger Wind durch die Straßen. Aber er kam nicht von der Steppe. Es war ein heimatlicher Wind.