Der Kommissar

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Kaum hatte der Provinzkommissar der Parteileitung (einer von jenen finsteren und wortkargen Typen, die aussehen, als ob sie dazu geschaffen wären, mit einem roten Halstuch und einer Maschinenpistole herumzulaufen) damit begonnen, Peppone und Genossen, die sich im Haus des Volkes versammelt hatten, zu «aktivieren», als Smilzo außer Atem erschien.

«Das Zeug aus Amerika ist da!» rief er. «Es sind Aufrufe her-außen, die Bedürftigen sollen ihre Pakete im Pfarrhof holen. Weiße Teigwaren, Kondensmilch, Marmelade, Zucker und Butter! Der Aufruf hat überall Eindruck gemacht.»

Der Kommissar fragte, was eigentlich der Aufruf besage, und Smilzo berichtete:

«Das väterliche Herz des Heiligen Vaters usw. usw., und alle Bedürftigen können sich an den Herrn Pfarrer, Don Camillo, wenden usw. usw.»

«Alle Bedürftigen?»

«Alle ohne Unterschied.»

Peppone ballte die Fäuste.

«Ich wußte, daß dieser verfluchte Pfarrer zu einem Schlag ausholt! Sie nützen die Armut aus, diese Schufte! Man muß etwas tun!»

«Sorge dafür, Genosse!» befahl der Kommissar. «Laß alle Zellenleiter zusammenrufen!»

Die Zellenleiter kamen, ganz außer Atem, und Peppone klärte sie über den Schachzug der Reaktion auf.

«In einer halben Stunde sollen alle Genossen wissen, daß ich jeden zu Brei schlage, der nur eine Stecknadel annimmt! Smilzo, du hältst vor dem Pfarrhof Wache und rührst dich nicht von dort. Mach nur die Augen gut auf und schreib in deinem Notizbuch alle auf, die ein Paket abholen kommen!»

«Gut so, Genosse», stimmte der Kommissar ernst zu. «In solchen Fällen muß man mit größter Entschiedenheit vorgehen.»

Den ganzen Tag stand eine Schlange vor dem Pfarrhaus, und Don Camillo platzte vor Freude, weil die Sachen gut und ausgiebig und die Leute zufrieden waren.

«Ihr müßt mir dann sagen, ob die Sachen, die euch die Kommunisten geben, besser sind als diese!» spottete Don Camillo.

«Die Roten geben einem nur einen Sack voll Lügen!» antworteten alle.

Auch unter den Roten gab es Arme, aber keiner zeigte sich, und das war Don Camillos einziger Kummer, weil er sich auch für sie schon einen eigenen Satz ausgedacht hatte: «Eigentlich gebührt dir nichts, denn du hast ja schon von Stalin einen Haufen bekommen. Aber es soll dir trotzdem schmecken, Genosse, da hast du dein Paket!» Es erschien aber keiner von ihnen. Und als man ihn darauf aufmerksam machte, daß Smilzo, hinter einem Baum versteckt, die Namen der Leute aufschrieb, die sich Pakete holten, begriff Don Camillo, daß er seinen famosen Satz für sich behalten könne.

Um sechs Uhr abends waren alle «normalen» Armen versorgt, und es blieb nur noch der für die «besonderen» Armen vorgesehene Haufen. Da ging Don Camillo zum Altar und vertraute sich Christus an.

«Jesus», sagte er, «siehst Du diese Sachen?»

«Ich sehe sie, Don Camillo. Mir geht das alles sehr ans Herz, denn es sind arme Leute, bedürftig wie die anderen, und dennoch gehorchen sie ihren Führern mehr als ihrem Hunger. Und so nehmen sie Don Camillo die Genugtuung, sie mit seinem Spott zu demütigen.»

Don Camillo senkte das Haupt.

«Christliche Nächstenliebe heißt nicht, den Bedürftigen vom Überfluß zu geben, sondern mit ihnen das Nötige zu teilen. Der Heilige Martin teilte seinen Mantel mit dem Armen, der vor Kälte bebte; das ist christliche Nächstenliebe. Aber auch wenn du dein einziges Brot mit einem Hungernden teilst, darfst du es ihm nicht hinwerfen, wie man einem Hund einen Knochen zuwirft. Man muß mit Demut geben und dem Hungrigen danken, daß er dir erlaubt, an seinem Hunger teilzunehmen. Was du heute getan hast, war nur Wohltätigkeit, und es war nicht einmal dein Überfluß, sondern Überfluß anderer Leute, den du an Bedürftige verteilt hast. Deine Handlungsweise ist also kein Verdienst. Du warst keineswegs demütig, wie du hättest sein sollen, sondern dein Herz war voll Gift.»

Don Camillo schüttelte den Kopf.

«Jesus», flüsterte er, «mach, daß diese Unglücklichen kommen. Ich werde nichts zu ihnen sagen. Ich hätte zu ihnen auch nichts gesagt, wenn sie schon früher gekommen wären. Ich weiß, Du hättest mich schon rechtzeitig erleuchtet.»

Don Camillo ging in den Pfarrhof und wartete. Als aber eine Stunde verging und sich niemand sehen ließ, schloß er Tor und Fenster.

Es verging noch eine Stunde. Es war schon acht Uhr vorbei, als jemand an die Tür klopfte. Don Camillo beeilte sich, sie zu öffnen. Straziami stand draußen, einer der Getreuesten Peppones, und Straziami war düster und drohend wie immer.

Straziami blieb regungslos und schweigend auf der Schwelle stehen.

«Das ändert keinen Zoll an dem, was ich über Sie, Ihre Freunde und über meine Wahlentscheidung denke», stotterte er zugleich. «Das sage ich Ihnen, damit Sie sich keine Illusionen machen.»

Don Camillo nickte zustimmend. Dann nahm er aus dem Kasten eines der übriggebliebenen Pakete und reichte es Straziami.

Der Mann nahm das Paket und versteckte es unter dem Mantel. Er ging aber noch nicht.

«Nur los, Hochwürden», rief Straziami ironisch. «Jetzt haben Sie das Recht, sich über den Genossen Straziami lustig zu machen, der heimlich kommt, um sich ein Paket mit dem Zeug aus Amerika zu holen.»

«Es wird besser sein, du gehst durch den Garten nach Hause», antwortete Don Camillo.

Peppone und der Provinzkommissar saßen gerade beim Abendessen, als Smilzo kam.

«Es ist schon ein Viertel nach acht, und der Pfarrer ist schlafen gegangen.»

«Alles in Ordnung?» erkundigte sich Peppone.

Smilzo zögerte ein wenig.

«Im allgemeinen ja.»

«Drück dich klar aus!» befahl ihm der Provinzkommissar mit harter Stimme. «Berichte genau und schau, daß du nichts vergißt.»

«Während des Tages sind alle möglichen Leute in den Pfarrhof gekommen, und ich habe ihre Namen aufgeschrieben. Dann habe ich vor einer Viertelstunde einen kommen gesehen, den ich in der Dunkelheit nicht gut erkennen konnte.»

Peppone ballte die Fäuste.

«Los, Smilzo, heraus damit! Wer war es?»

«Ich glaube, es war einer von den Unsrigen...»

«Wer?»

«Ich glaube, er sah Straziami ähnlich. Aber aufrichtig gesagt, ich könnte es nicht beschwören.»

Schweigend beendeten sie das Abendessen. Dann erhob sich der Kommissar.

«Wir gehen nachschauen», sagte er. «Man darf die Dinge nicht so lassen.»

Straziamis Bub war der magere und blasse Kleine mit den großen Augen, den Don Camillo einmal bei einem Streich erwischt hatte und dem er doch nichts antun konnte, weil er so gebrechlich und schwach war. Ein Bub, der wenig sprach und viel schaute. Jetzt saß Straziamis Bub am Küchentisch und blickte unentwegt mit aufgerissenen Augen auf seinen Vater, der finster und drohend mit dem Messer eine Dose Marmelade aufmachte.

«Später», sagte die Mutter. «Zuerst die Nudeln, dann die Kondensmilch mit Polenta und erst nachher die Marmelade.»

Die Frau brachte die Schüssel auf den Tisch und begann die rauchenden Nudeln umzurühren. Straziami ging weg, ließ sich an der Wand zwischen Kredenz und Herd nieder und betrachtete nun von weitem wie ein Schauspiel den Buben, der mit großen Augen bald den Händen der Mutter folgte, bald auf die Marmeladedose und die Kondensmilch schaute, wie verloren mitten in all dieser Herrlichkeit.

«Kommst du nicht?» fragte die Frau ihren Mann.

«Nein, ich esse nichts», murmelte Straziami.

Die Frau setzte sich zum Buben und wollte gerade Nudeln auf seinen Teller geben, als die Tür aufgerissen wurde und Peppone mit dem Provinzkommissar in die Küche trat.

Der Kommissar blickte auf die Nudeln und drehte die Dosen um, um die Aufschriften an ihnen zu lesen.

«Woher hast du diese Sachen?» wollte er von Straziami wissen, der aufgestanden war und mit bleicher Miene auf ihn sah.

Der Provinzkommissar wartete ein wenig auf die Antwort, diese kam aber nicht. Dann faßte er mit äußerster Ruhe die vier Ecken des Tischtuches zusammen, hob das Bündel vom Tisch, machte das Fenster auf und warf alles in den Graben.

Der Bub zitterte, hielt sich die beiden kleinen Hände vor den Mund und schaute entsetzt auf den Provinzkommissar. Die Frau war an die Wand geflüchtet, und Straziami, mitten in der Küche stehend, die Arme unbewegt vor der Brust, war wie versteinert.

Der Kommissar ging. Unter der Tür drehte er sich um.

«Kommunismus ist Disziplin, Genosse. Wer das nicht versteht, soll gehen.»

Die Stimme des Kommissars rüttelte Peppone wach, der, an die Wand gelehnt, mit offenem Mund zugesehen hatte und dem alles wie ein Traum vorgekommen war.

Sie gingen schweigend Seite an Seite mitten durch die dunklen Felder, und Peppone konnte es kaum erwarten, wieder im Dorf zu sein.

Vor dem Gasthaus Zur Post reichte ihm der Kommissar die Hand.

«Morgen früh um fünf fahre ich ab», sagte er. «Gute Nacht, Genosse.»

«Gute Nacht, Genosse.»

Peppone marschierte unmittelbar zum Hause Smilzos.

«Den muß ich mit Fußtritten behandeln», dachte er. Als er aber vor Smilzos Tür stand, taumelte er ein wenig und kehrte um.

Zu Hause fand er seinen Buben noch wach im Bettchen vor.

Der Bub lachte ihn an und streckte ihm die Arme entgegen, aber Peppone ließ sich nicht aufhalten.

«Schlafe!» sagte er nur.

Und er sagte es mit einer harten, bösen und drohenden Stimme, um keinen Verdacht aufkommen zu lassen, nicht einmal vor sich selbst, daß er wehmütig an die aufgerissenen Augen des Buben Straziamis dachte.