Der Bann der Angst bricht

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Spocchia, der Unnachgiebige, jener, der bereits seine Burschen für die zweite Welle der Weltrevolution bereithielt, der in Glaubensfragen hie und da den Mut hatte, selbst Peppone zu widersprechen, war im Nebenberuf der Barbier von Molinetto. Man erzählte sich häßliche Dinge über ihn und sagte, daß er einiges auf dem Gewissen habe. Nur Proletarier ließen sich von ihm, der übrigens auch ein wenig Schneider war, bedienen, und das einzige Mal, als ein Herr aus der Stadt, Gast bei weiß Gott wem, nichtsahnend seinen Laden betrat, zwinkerte Spocchia den wartenden Genossen zu, ließ den Unglücklichen Platz nehmen und begann ihn zu rasieren. Als er halb fertig war, legte er das Rasiermesser fort.

«Das übrige lassen Sie sich vom Priester rasieren», sagte er, während die ganze Bande sich halb totlachte.

Spocchia haßte Don Camillo auf Leben und Tod, weil er überzeugt war, dieser Priester sei schuld daran, daß Peppone viele Dinge bleiben ließ oder nur halb machte.

Schon seit einiger Zeit beteuerte er ständig unter Seufzen, wie gerne er Don Camillo rasieren würde. Und tausendmal, wenn er irgendjemanden von den Seinen des Bartes entledigte und mit dem Rasiermesser in der Gegend des Adamsapfels angelangt war, seufzte er:

«Wenn du Don Camillo wärst, würde ich jetzt keine Lira für deine Haut geben!»

Und siehe da, an einem Samstag am späten Nachmittag, als der Laden gedrängt voll war, ging die Tür auf, und Don Camillo erschien. Peppone, Brusco, Bigio, Smilzo, Lungo, Fulmine und weitere acht oder zehn, die nicht zur Bande gehörten, waren da.

Don Camillo hatte einen zweifingerlangen Bart; er nahm den

Hut ab und hängte ihn an einen Nagel, dann setzte er sich auf den einzigen noch freien Sessel.

«Guten Abend», sagte er ruhig. «Man sagte mir, es sei dir viel daran gelegen, mich zu rasieren. Da bin ich nun.»

Alle schauten ihn bestürzt an. Spocchia gab keine Antwort, sondern biß die Zähne zusammen und fuhr fort, Pellerossa zu rasieren. Don Camillo zündete eine Zigarre an und schaute sich um. Außer einem Bild Lenins gab es ein Bild Stalins, eins von Garibaldi, eins von Mazzini und eins von Karl Marx.

«Bei so vielen Bärten und Schnurrbärten hast du wohl genug zu tun!» rief Don Camillo. «Schöne Kundschaft, geradezu international. Leute, die gut zahlen.»

Er tat, als ob er erst jetzt Peppone bemerkt hätte.

«Oh, entschuldigen Sie, ich habe Sie nicht gleich gesehen. Guten Abend, Herr Bürgermeister.»

«... Abend...»

Peppone vertiefte sich in eine Zeitung. Don Camillo aber, einmal in Fahrt, war schlimmer als Fulmine, was schon etwas heißen will, denn der Name bedeutet Blitz.

«Äh», seufzte er, «wie rasch die Jahre vergehen! Erinnerst du dich, Spocchia, wie du in die Kirche ministrieren gingst?»

«Jugendsünden», zischte Spocchia. «Wenn ich mich nicht irre, sehen Sie mich jetzt schon eine ganze Weile nicht mehr in der Kirche. Es werden wohl zehn oder zwölf Jahre sein.»

«Und ich dachte, ich hätte dich erst kürzlich an einem Abend gesehen.»

«Sie täuschen sich, Don Camillo!»

«Kann sein, es war dunkel, und ich kann mich geirrt haben. Jedenfalls mußt du aber den Wunsch haben, deinen alten Pfarrer zu sehen, weil mir die Leute unentwegt erzählen, daß du, ich weiß nicht was, zahlen würdest, wenn du mich einmal rasieren könntest. Das wirst du wohl nicht leugnen.»

Spocchia wischte das Rasiermesser an der flachen Hand ab.

«Das ist wahr», murmelte er düster.

«Man hat mir außerdem gesagt, du hättest dich einige Male geäußert, du würdest viel dafür geben, mir einmal einen Anzug zu machen.»

«Einen Anzug aus Tannenholz mit Zinkfutter», knurrte Spocchia. «Den würde ich Ihnen gerne machen.»

«Ich verstehe, mein Sohn», antwortete lächelnd Don Camillo. «Wenn man aber Anzüge aus Tannenholz machen will, muß man ganz genau Maß nehmen.»

Pellerossa war fertig. Spocchia legte das Rasiermesser fort und wandte sich an Don Camillo.

«Hochwürden», sagte er finster. «Was haben Sie hier zu suchen?»

Don Camillo stand auf und nahm auf dem frei gewordenen Sitz Platz.

«Ich bin gekommen, um mich von dir rasieren zu lassen.»

Spocchia erbleichte, soweit er noch blasser werden konnte. Dann band er Don Camillo ein Handtuch um den Hals und begann ihm das Gesicht einzuseifen. Er seifte lange ein, zog lange das Messer am Riemen ab und begann dann, Don Camillo zu rasieren.

Es wurde ganz still, man hörte das Rasiermesser schaben, und alle hielten den Atem an. Das Rasiermesser ging einmal und zweimal über die Wange, unter der Nase hin, über das Kinn. Es war ein Bart aus Eisendraht, und in der Stille surrte das Rasiermesser wie eine Mähmaschine.

Schon ging die Klinge hin und her unter Don Camillos Kinn, sie spazierte über seine Kehle. Ein Haarbüschel auf dem Adamsapfel gab ihr eine Weile zu schaffen.

Gegenrasur. Alaun. Scharfeinspritzen, Puder.

Smilzo, der die ganze Zeit über unbeweglich rittlings auf dem Stuhl gesessen und die Zähne in die Lehne gedrückt hatte, erhob den Kopf, entspannte die Nerven und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

Peppone spuckte energisch die Titelzeile und den Leitartikel der Unità aus, die er, ohne es zu merken, während der Zeit gekaut hatte.

«Bravo, Spocchia», rief Don Camillo und stand auf. «Du bist ein Künstler. Noch nie habe ich eine so leichte Hand erlebt. Die Probe für den Anzug aus Tannenholz kannst du ohne mich machen.»

Er drückte ihm Geld in die Hand, nahm den Hut, den ihm Smilzo reichte, grüßte die Gesellschaft und zeigte auf das Bild des Towarisch mit dem Schnurrbart, bevor er den Laden verließ.

«Es würde ihm nichts schaden», riet er, «wenn du ihm den Schnurrbart ein wenig stutzen würdest.»

Nach Hause zurückgekehrt, erstattete Don Camillo Christus Bericht, aber letzten Endes schien Christus nicht allzusehr überzeugt.

«Don Camillo, war es wirklich notwendig, hinzugehen und diesen Menschen mit deiner Prahlerei herauszufordern?»

«Ich glaube schon», antwortete Don Camillo.

Als Don Camillo den Laden verlassen hatte, rasierte Spocchia einen nach dem anderen, und schließlich blieb er mit Peppone allein, schloß die Außentür und nahm den Arbeitsmantel ab.

«Siehst du, nun haben wir es», sagte Spocchia und zündete sich eine Zigarette an.

«Ich verstehe nicht», murmelte Peppone.

«Peppone, ich bin nicht zum Scherzen aufgelegt. Die Sache ist klar - er ist gekommen, um uns herauszufordern. Während er da war, waren vielleicht die Carabinieri draußen. Vielleicht sind sie immer noch draußen.»

Peppone schob den Hut nach hinten.

«Spocchia», rief er, «drück dich klarer aus. Ich verstehe kein Wort.»

Spocchia drückte die Zigarette aus und warf sie in eine Ecke.

«Es ist klar, daß man mich verdächtigt und meine Spur verfolgt. Oder war man damals vielleicht nur zufällig da oder aus Sicherheitsgründen, der liebe Gott mag es wissen. Tatsache ist, daß man mir an jenem Abend eine Garbe nachgeschossen hat, daß ich flüchten und mein Fahrrad in einem Graben lassen mußte und daß am nächsten Tag das Fahrrad nicht mehr im Graben lag.»

Peppone zuckte mit keiner Wimper.

«Hast du damals auf Don Camillo geschossen?» fragte er leise.1

«Ja.»

«Das war eine Schweinerei, Spocchia!»

«Es war eine Schweinerei, daß ich ihn nicht umgelegt habe. Die eigentliche Schweinerei war aber die erste, als ich damals auf den Pizzi geschossen hatte. Nur der Bub hat mich gesehen, die Frau konnte mich nicht sehen. Sie war zu weit vorne. Der Bub hat mir aber gerade ins Gesicht gesehen. Ich sah ihm in die Augen. Eine Kugel auch für ihn hätte genügt, und jetzt wäre alles in Ordnung. Ich war ein Idiot. Er muß es seiner Mutter gesagt haben. Die Mutter hat bestimmt nichts ausgeplaudert. Ich habe ihr einen ziemlich klaren anonymen Brief geschrieben. Der Bub hat aber auch mit dem Priester gesprochen, ich habe ihn mehr als einmal beobachtet. Und tatsächlich, der Pfarrer hat dann seinen verfluchten Zeitungsartikel geschrieben; die ganze schöne Geschichte mit dem Selbstmord ist ins Wasser gefallen, und alles ist aufgeflogen.»

Peppone war blaß vor Wut. Er faßte Spocchia am Rockkragen und schüttelte ihn.

«Warum hast du auf Pizzi geschossen, du Idiot, du? Wer hat dir den Befehl erteilt?»

«Ich war hinter dem Fenster, das auf die Felder schaut; als ich sah, daß Pizzi die Pistole auf dich richtete, habe ich dich verteidigt.»

«Mich braucht niemand zu verteidigen, am wenigsten du! Ich hatte befohlen, nur dann zu den Waffen zu greifen, wenn ich es ausdrücklich sage!»

«Es ist nun geschehen. So habe ich wenigstens eine alte Rechnung mit diesem Idioten beglichen. Jetzt geht es darum, mir aus der Verlegenheit zu helfen. Wenn Don Camillo heute abend hergekommen ist und vor den Leuten so gesprochen hat, so heißt das, daß er sich sicher fühlt. Die Sache war bestimmt mit dem Carabinieri-Wachtmeister besprochen, ich möchte darauf schwören. Er wollte mich persönlich herausfordern, um die Partei aus dem Spiel zu lassen. Aber nun muß die Partei eingrei-fen, sie muß mir helfen.»

Peppone schaute ihn finster an.

«Die Partei? Warum soll sich die Partei in deine Schweinereien einmengen?»

«Peppone, du hast den Trupp geführt, es war dein Lastwagen, du bist in die Küche hineingegangen, und dich haben Pizzis Frau und sein Bub gesehen. Und du bist der Bürgermeister und das

Haupt der Parteisektion, du trägst die Verantwortung, und du vertrittst die Partei.»

Spocchia war außer sich, und Peppone beruhigte ihn. «Moment, Moment!» sagte er. «Nur keine Märchen. Es kann sein, daß Don Camillo nur deswegen zu dir gekommen ist, um zu prahlen. Vielleicht hat er Verdacht geschöpft, besitzt aber keine Beweise und versucht, dich aus der Ruhe zu bringen. Wenn sie Beweise hätten, dann hätten sie dich schon längst geschnappt. Schließlich hat dich nur der Bub gesehen, und sein Ja ist nicht mehr wert als dein Nein.»

Spocchia schwitzte.

«Niemand hat es gesehen!» rief er. «Niemand außer diesem verfluchten Buben!»

«Ein einziger Zeuge ist nicht eine trockene Feige wert, du brauchst nur zu sagen, daß du mit den anderen zusammen beim Lastwagen geblieben bist, während ich allein - ja, das ist wahr -hineinging, um mit Pizzi zu sprechen. Wir waren fünfundzwanzig, warum sollten sie sich gerade auf dich versteifen?»

«Der Bub hat mich gesehen.»

«Einer allein zählt nicht.»

«Und die Sache mit dem Fahrrad?»

«Fahrräder sprechen nicht. Sei still und ruhig. Morgen reden wir noch darüber.»

Um Mitternacht leuchtete der Mond auf dem Schnee, und es war taghell. Ein Mann suchte den mageren Schatten unter den Hecken. Als er in den Hof des Pizzi-Hauses kam, schlich er sich an die Tür heran und versuchte sie aufzumachen. Dann wollte er ein Fenster im Erdgeschoß öffnen, zog eine Leiter unter der Veranda hervor und lehnte sie an die Mauer.

Die Leiter machte Lärm, weil sie auf dem gefrorenen Schnee ausglitt; ein Fenster ging auf, und jemand schrie: «Wer ist da?»

Nun ließ der Mann die Leiter fallen, ergriff eine Maschinenpistole und begann wie ein Verrückter auf die Fenster zu schießen und zu brüllen: «Verflucht! Ich bringe euch alle um!» Aus einem Fenster im Erdgeschoß schob sich der Doppellauf eines Jagdgewehres, zwei Schüsse fielen, trafen auf fünf Schritte Entfernung den Mann mitten in die Brust und streckten ihn in den Schnee.

Dann kamen Leute, auch Peppone erschien. Der kleine Pizzi hatte noch immer die Doppelflinte in der Hand, denn er war es, der geschossen hatte. Und als der Wachtmeister kam, sagte der Bub:

«Es ist Spocchia, er hat meinen Vater umgebracht. Ich habe es gesehen.»

Jetzt, da er tot war, stellte sich heraus, daß ihn auch Pizzis Frau gesehen hatte, die nun den anonymen Brief vorzeigte. Dann wollte ihn auch ein Verwandter gesehen haben, der damals auf dem Weg von den Feldern nach Hause war. Dann auch andere.

Unterdessen rieb sich jener, der im Graben Spocchias Fahrrad gefunden hatte, vergnügt die Hände, denn nun gehörte das Fahrrad ihm.

Peppone schrieb sechzehn «Erklärungen», die man auf der Ankündigungstafel hätte aushängen sollen, zerriß sie aber alle, spuckte drauf und schrieb: «Wer stirbt, zahlt; die Rechnung ist beglichen!»

Don Camillo widmete der Angelegenheit sechzehn Worte: «Der Krieg hat die Menschen verdorben. Man darf nicht von Schuldigen, sondern nur von Opfern sprechen.»

Niemand sprach mehr davon, und alle lächelten einander zu, als ob ein Alptraum von ihnen gewichen wäre, denn der Bann der Angst war nunmehr gebrochen.