Zwischen Berg und Ebene
Traurig sind die Tage der Verbannung im Dörflein hoch am Berg. Die Tage sind alle gleich, einer gleicht dem andern so sehr, daß man nicht einmal Lust hat, in der Frühe das Kalenderblatt abzureißen, denn es ist, als ob man die Seite eines Buches wendete, das aus weißen Blättern besteht.
«Jesus», sagte Don Camillo zu Christus am Hochaltar, «es ist traurig zum Wahnsinnigwerden. Hier oben geschieht nichts!»
«Das versteh ich nicht», antwortete lächelnd der gekreuzigte Christus. «Jeden Morgen geht die Sonne auf und gegen Abend geht sie unter. Du siehst jede Nacht Milliarden von Sternen über deinem Haupt kreisen, das Gras wächst auf den Wiesen, die Zeit setzt ihren Lauf fort, Gott ist zugegen und offenbart sich in jedem Augenblick und überall. Mir scheint, daß viel geschieht, Don Camillo. Mir scheint, es geschehen nur sehr wichtige Dinge.»
«Habe Nachsicht für die Dummheit eines armen Priesters aus der Ebene», sagte Don Camillo. Und doch folgte er jeden Tag denselben Gedankengängen, denn er war übler Laune, die mit jedem Tag schlechter wurde. Das war die einzige Neuigkeit.
Inzwischen geschah im Dorf am Ufer des großen Flusses nichts Besonderes. Es ereigneten sich aber manche sonderbaren Kleinigkeiten, die auch Don Camillo mißfallen hätten, wenn er etwas von ihnen gewußt hätte.
Das Priesterlein, das während des politischen Erholungsurlaubs Don Camillos Pfarre zu leiten hatte, war ein recht braver Kerl. Trotz seiner theoretischen Gelehrsamkeit und seiner glatten, wohlgesetzten städtischen Ausdrucksweise verstand er es, sich rasch der neuen Umgebung anzupassen; er bemühte sich nach Kräften, allen zu zeigen, daß er begriffen habe, welcher Wind hier weht und von welcher Seite man die Leute anpacken muß. Und die Leute, ob rot oder weiß, grün oder schwarz, erwiderten seine Höflichkeit und fanden sich zahlreich in der Kirche zum Gottesdienst ein, ohne aber weitere Zugeständnisse zu machen.
Niemand ging mehr zur Kommunion. «Nehmen Sie es uns nicht übel, Hochwürden», erläuterten sie dem entsetzten Priester, «wir sind aber seit undenklichen Jahren an ihn gewöhnt. Wenn er zurückkommt, werden wir auch wieder zur Kommunion gehen. Sie brauchen keine Angst zu haben, wir werden schon alles nachholen.»
Niemand heiratete mehr, alle Hochzeiten wurden auf den Tag verschoben, an dem er zurückkommen werde.
Es schien, als ob man übereingekommen wäre, daß auch niemand geboren werden oder sterben dürfe, bevor Don Camillo heimkehrt, weil seit Don Camillos Abschied tatsächlich niemand auf die Welt gekommen war und niemand diese Welt verlassen hatte, um in eine andere einzugehen. Und diese merkwürdige Geschichte dauerte viele Monate. Schließlich kam dann doch eines Tages ein Weiblein in den Pfarrhof und meldete, daß der alte Tirelli im Sterben läge. Das Priesterlein schwang sich auf das Fahrrad und eilte zum Sterbebett Tirellis.
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