EPILOG
„Ein Avatar“, sagte Kritanu in seinem präzisen, melodiösen Akzent. „Du musst kurzzeitig als eine Art von Avatar fungiert haben, Giordan, als du diese Kraft und Energie an Narcise weitergegeben hast. Das ist die einzige Erklärung, die ich dafür habe.“
Er war ein alter Mann, vielleicht siebzig oder achtzig, mit Haaren so schwarz wie die von Narcise. Er trug sie hinten an seinem Nacken zu einem glatten, langen Pferdeschwanz zusammengebunden. Seine Haut hatte die Farbe dunkler Tropenhölzer und war glatt, fast ohne Falten, und seine Augen waren hellwach und schwarz, wie Perlen von Gagat. Giordan war ihm zum ersten Mal vor ein paar Jahren begegnet, als er nach langer Abwesenheit nach England zurückkehrte, denn Kritanu war ein Freund von Dimitris Tante Iliana.
Giordan und Narcise saßen, zusammen mit allen anderen, mit Kritanu in Dimitris Arbeitszimmer, nachdem sie vor zwei Tagen endlich aus Paris zurückgekehrt waren. Sie hatten fast zwei Wochen darauf verwendet, Cezars Haushalt aufzulösen und Vorkehrungen für ihn zu treffen.
„Was ist ein Avatar?“, fragte Narcise und rückte noch näher in den warmen, vertrauten Halbkreis von Giordans Arm. Er roch nach tröstlicher Ruhe und warmem Sonnenschein und Sinnlichkeit, und sie konnte es kaum erwarten, ihn in das Zimmer zu verschleppen, das sie sich hier teilten und – buchstäblich – bei ihm anzubeißen.
„Ich habe jede verdammte Religion erforscht und Schriften aus allen Zeitaltern, und doch ist es mir nicht gelungen, es zu begreifen. Ein Avatar ist ein Wesen himmlischen Ursprungs, der hier unten auf Erden in Erscheinung tritt“, sagte Dimitri. Man konnte die Ungläubigkeit in seiner Stimme fast greifen. „Ein Gott, der in menschlicher Form auf die Erde gekommen ist. Du meinst das nicht ernst. Giordan? Ein Avatar?“
Kritanu lächelte, seine Augen mussten auch verschwörerisch lachen. „Ich will damit ganz und gar nicht sagen, dass Giordan in irgendeiner Weise ein menschgewordener Gott ist. Denn das wäre ganz und gar unmöglich. Aber, lediglich für einen kurzen Augenblick, hat er wie durch ein Wunder, als eine Art Tunnel für Narcise fungiert, und das Mokscha, das er erlangt hat, ließ es zu, dass eben jenes Fenster sich auch für Narcise öffnete. Sie musste bereit und willens sein, es aus freiem Willen heraus zu durchschreiten.“
„Selbstverständlich“, antwortete Dimitri hier, wobei seine Stimme immer noch skeptisch klang. „Wenn Giordan also bereits vor zehn Jahren diese Stufe der Erleuchtung erlangt hat, warum zum Teufel hat er sie nicht auch auf mich übertragen können, der ich schon so lange verzweifelt danach gesucht habe?“
Maia, die gerade in diesem Eigenblick mit einem Tablett in der Hand zur Tür hereingekommen war, sagte, „weil dich nicht die gleiche Seelenverwandtschaft mit Giordan verbindet wie Narcise. Außerdem wolltest du nicht nur von Luzifer frei sein – du wolltest auch wieder sterblich sein, Gavril. Du musstest wieder sterblich werden. Damit du mit mir zusammen sein kannst.“ Sie setzte das Tablett ab und warf ihm einen schelmischen Blick zu.
„Eine weise Frau mit Namen Wayren sagt hier immer sehr gerne, dass – wenn wir wirklich und wahrhaftig für etwas bereit sind – dann erhalten wir alles, was wir uns so sehr wünschen“, sagte Kritanu und nahm eine Teetasse, die aber keinen Henkel hatte, von Maia entgegen. Er schloss beide Hände um die Tasse und atmete den Duft ein – etwas Exotisches, wie Jasmin, dachte Narcise bei sich. „Jeder von uns hat seinen Weg, den er gehen muss. Ich behaupte auch nicht, dass ich alles davon verstünde.“
„Und Cezar ist also immer noch am Leben?“, sagte Maia, während sie sich neben Dimitri niederließ, womit sich Narcises Verdacht erhärtete, dass es bald noch eine Hochzeit im Hause Woodmore geben würde, nach Voss und Angelica. „Ihr habt ihn also am Leben gelassen?“
Narcise spürte, wie ein weicher, trauriger Schmerz sie beim Gedanken an Chas überkam, immer noch in Paris, wo er sich um die Einzelheiten der Vorkehrungen für Cezar kümmerte. Er hatte darauf bestanden zurückzubleiben ... vielleicht, weil er ihr neues Glück mit Giordan nicht mitansehen wollte. Er versäumte vielleicht sogar die Hochzeiten seiner beiden Schwestern. Narcise Magen zog sich zu einem bitteren Klumpen zusammen, als sie daran dachte, wie elend und verlassen er ausgesehen hatte ... die sorgsam nüchternen, beherrschten Augen, als sie nach ihrer Feuerprobe wieder erwacht war, und die zwei Männer – die sie alle beide liebten – an ihrer Seite vorgefunden hatte.
Und sie hatte nur einen von ihnen beiden wahrhaftig gewollt.
Chas wäre mit ihr niemals wirklich glücklich geworden. Er konnte nicht hinnehmen, wer sie war ... oder wer sie gewesen war; es hätte immer zwischen ihnen gestanden, das, was er als ihre Verfehlung betrachtete. Und er war so verliebt in ihre Schönheit, dass er den Rest von ihr nur schwer wahrnahm – ihre Stärke, ihre Bedürfnisse ... wer sie wirklich war, hinter diesem makellosen Gesicht und dieser vollkommenen Gestalt.
„Ja. Cezar befindet sich jetzt in einem sehr streng bewachten Gefängnis. Eines Tages wird Narcise ihn vielleicht einmal besuchen wollen“, antwortete Giordan, während er auf sie herabschaute. „Wo du ihm doch das Leben gerettet hast.“ Seine Augen leuchteten warm, Zärtlichkeit und Bewunderung lagen darin. Und wieder fühlte sie sich daran erinnert, wie er sich die Zeit genommen hatte, die viele Zeit, seine Geduld, und dass er sein Leben riskiert hatte, um sie zu umwerben und um all die Schichten von Misstrauen abzutragen. Vor all den Jahren.
Dem Himmel sei Dank hatte er ihr ihre Blindheit verziehen.
„Chas kümmert sich um die Einzelheiten. Moldavi wird recht komfortabel leben können, aber seine Gemächer und die Flure um sie herum, werden mit Elfenbein ausgeschlagen sein. Er wird nicht entkommen können“, fuhr Giordan fort.
Narcise zuckte mit den Schultern und betrachtete ihre Hände, die in ihrem Schoß lagen. „Ich habe begriffen, dass ich seine Hinrichtung nicht zulassen konnte. Selbst nach allem, was er getan hat, ich konnte diese Entscheidung nicht fällen. Denn der Tod ... das ist auch das Ende aller Hoffnung auf eine Veränderung. Und wenn man betrachtet, was Voss und Dimitri und selbst Giordan und mir widerfahren ist...“ Sie schaute hoch. „Ich nehme an, es gibt immer Hoffnung auf Veränderung.“
„Es ist recht interessant darüber nachzudenken, was mit der Idee von Karma geschieht, wenn man unsterblich ist“, setzte Kritanu da auch noch nach. „Denn wenn wir glauben, dass wir einen endlosen Zyklus von unzähligen Leben zur Verfügung haben, um Ursache und Wirkung, Verwirklichung und Veränderung zu begreifen, dann... Nun, bei einem unsterblichen Wesen... Du wirst eine Ewigkeit Zeit haben, diese außergewöhnliche Situation zu betrachten und zu sehen, was mit deinem Bruder geschieht. Jetzt, da auch ihm die Chance gegeben wurde, sich zu ändern.“
Dimitri sagte zu Narcise, „und wer weiß ... vielleicht wird Cezar dir einmal helfen, auf irgendeine andere Art, irgendwann in der Zukunft.“
*
Später, als sie wieder allein in ihrem Schlafzimmer waren, kuschelte Narcise sich an die Wärme von Giordans goldenem Körper. Er streichelte ihr mit der Hand das Haar glatt, von ganz oben an ihrem Kopf, bis hinab, dorthin, wo die schwarze Fülle sich neben ihnen auf dem Bett wie zu einer Pfütze sammelte. Seine Berührung war vertraut und tröstlich, und sie schloss die Augen bei der Wonne, die sie dabei empfand, und fragte sich, ob sie ihm auch von der anderen Veränderung, die in ihr vorgegangen war, erzählen sollte. Ihr Körper schien wieder zu vollem Leben erblüht, und tat alles, was der Körper einer gewöhnlichen Frau tat.
„Möchtest du heute Abend ausgehen?“, fragte er. „Wir könnten schauen, ob uns etwas Aufregendes unterkommt.“
Narcise lachte leise. Sie hatte ihm erzählt, wie sie sich gefühlt hatte, als sie ihre Angreifer da abgewehrt hatte, nachdem sie aus dem Rubey’s verschwunden war. Ihr war es durch den Sinn gegangen, dass sie ihre große Kraft und ihre Fähigkeiten als Kriegerin dazu einsetzen könnte, derlei nicht nur zum Vergnügen und auch öfter zu tun. Sie wäre eine Art Beschützerin des Nachts auf den Straßen, bereit den Schwachen und Hilflosen bei jeder Gelegenheit beizustehen.
Es würde ihrem Leben einen Sinn geben. Und auch wenn sie nicht gewalttätig sein konnte nur um der Gewalt willen, oder um jemand anderem ein Leid zuzufügen, könnte sie ihre Kraft doch für die Schwächeren einsetzen – indem sie Frauen half, die, wie sie selber es auch erlebt hatte, überfallen wurden oder der Gewalt von anderen ausgeliefert waren. „Ich denke, das wäre sehr aufregend. Vielleicht könnten wir nach Seven Dials gehen ... wenn ich mich recht entsinne, gibt es da eine Schenke, in der sich Schurken und anderes zwielichtiges Gesindel ein Stelldichein geben – und auch einige von Luzifers Halbdämonen. Der Name ist mir gerade entfallen.“
„Der Silberkelch. Was immer du willst“, sprach Giordan und ließ eines seiner muskulösen Beine zwischen ihre gleiten. „Ich habe nichts gegen einen guten Kampf einzuwenden. So dann und wann.“ Er lächelte und zeigte ihr die – langen – Zähne.
Keiner von ihnen beiden würden je vor einem Kampf wegrennen – solange es nicht Gewalt um der Gewalt willen war. Oder den Tod bedeutete. Narcise hatte herausgefunden, dass auch sie nur noch von denen trinken konnte, die lediglich Nahrung zu sich nahmen, die nichts mit Gewalt zu tun hatte. Mokscha war eine mächtige Angelegenheit.
Und Giordan hatte sie ihr gegeben.
„Ich werde dich, wann immer du gehen willst, zu Cezar begleiten“, sagte er, während er mit jenen scharfen Zähnen an ihrem empfindsamen, langen Hals entlangfuhr. Sie erschauerte und löste sich dann von ihm, als ihre Venen in Vorfreude pulsierten und pochten.
„Es macht dir nichts aus ... nach allem, was vorgefallen ist?“, fragte sie und beobachtete ihn jetzt ganz vorsichtig. „Ihn zu sehen?“
Er schüttelte seinen Kopf, drückte diese dichten, braunen Locken noch tiefer gegen das weiße Kissen. „Jetzt, da ich dich habe, macht es nichts mehr. Es war alles für dich, Narcise. Ich könnte alles ertragen, wenn ich nur wüsste, dass du auf der anderen Seite auf mich wartest.“
Sie musste ihre Augen wieder fest verschließen, weil Schuldgefühle und Elend wieder in ihr aufstiegen, schnell und machtvoll, einen Klumpen wie Blei in ihrem Magen. „Ich wünschte, ich wäre anders gewesen.“
Aber er schüttelte nur wieder mit dem Kopf und berührte ihr Gesicht. „Siehst du denn nicht? Es war nur, weil das alles geschehen ist, dass ich bereit war, mich zu ändern ... diesen Frieden zu finden. Und dann, als du bereit warst, habe ich ihn dir gegeben. Wenn du an jenem Tag mit mir gekommen wärst ... nachdem ich mit Cezar zusammen war, wären wir heute nicht hier, mit dem Zeichen des Lichts auf unserer Schulter. Ohne das Teufelsmal.“
Narcise setzte sich abrupt auf, die schwere Last der Schuld und der Scham fiel wie eine dunkle Wolke von ihr ab. „Glaubst du das ehrlich und aufrichtig?“
„Aber natürlich tue ich das“, sagte er und schaute zu ihr hoch. „Oft findet man erst nach einer großen Verzweiflung und großen Opfern das, was man wirklich braucht. Und in einem unsterblichen Leben sind zehn Jahre kaum ein Wimpernschlag.“
Sie lächelte, und es fühlte sich für sie so an, als wäre die Sonne selbst, mit all ihrer Wärme ins Zimmer gesprungen. „Was für ein wundervoller Mann du bist, Giordan. Ich liebe dich ... für immer.“
„Ich habe dich vom ersten Augenblick an geliebt, beim ersten Blick. Es gibt niemand anderen, mit dem ich die Ewigkeit verbringen will, außer dir, Narcise.“
„Und wie wäre es mit einem Kind?“
Er erstarrte und sah sie mit schockierten, weit aufgerissenen Augen an. „Aber du kannst nicht...“
Ihr Lächeln wurde noch breiter. „Ich weiß zufällig, dass sich noch etwas an mir verändert hat ... und ich denke, das ist jetzt durchaus möglich.“
„Dann schlage ich vor, dass wir das sofort in Angriff nehmen“, sagte er, wobei er sich zielstrebig auf sie rollte. „Denn dann habe ich zwei Frauen, mit denen ich liebend gerne die Ewigkeit verbringe.“
„Was, wenn es ein Junge wird?“
„Das wird es nicht. Ich kenne mich in derlei Dingen aus ... erinnere dich, bitte? Ich war beinahe ein Avatar.“
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