EINUNDZWANZIG

Als Chas aus dem Saal gezerrt wurde, weg von Narcise und Giordan, begriff er, dass ihm gerade ein Wunder widerfuhr – genau wie an jenem Tag, als die Katze über die Straße gerannt war, den Unfall verursacht und ihm so ermöglicht hatte, sich zum ersten Mal in Moldavis Haus einzuschleichen.

Er hatte immer noch seinen Pflock, den er, während sie mit Belial zum Speisesaal gegangen waren, in seinem Hemdsärmel versteckt hielt ... und er war sich sicher, dass er mindestens einen seiner Wärter hier mit Hilfe des Überraschungsmoments erlegen konnte.

Als er ein Stolpern fingierte, ließ ein rasches Wenden des Handgelenks den Pflock in seine Hand gleiten und lockerte auch den Griff des Wächters zu seiner Linken. Als er sich wieder aufrichtete und zum Stehen kam, hatte er die Spitze des Pflocks schon im Anschlag. Er fand den gesuchten Punkt mit der gleichen Leichtigkeit und Kraft wie sonst auch, und er sprach ein stilles Stoßgebet.

Bis der andere Wächter begriff, was da vor sich ging, hatte Chas ihn schon mit dem Gesicht nach vorne gegen die Wand geschleudert und hielt ihm den Pflock an den Rücken. „Schaff mich hier raus“, sagte er. „Ich will wissen, wie man hier herauskommt.“

Er musste hier herauskommen, damit er wieder zurückkommen konnte, um Narcise zu befreien. Und er wusste genau, wie er das tun würde, was er finden musste ... denn es war ihm dort drinnen wie Schuppen von den Augen gefallen.

Er hatte Cezars Asthenie entdeckt.

Während er alles genauestens beobachtete, dem Zeitpunkt an, zu dem er und Narcise die Privatgemächer ihres Bruders betreten hatten, und dort Cezars Reaktion auf ihre Anwesenheit bemerkte, hegte Chas den Verdacht, dass etwas nicht in Ordnung war. Moldavi schien so erfreut, sie beide zu sehen ... bis sie in das Zimmer hineingingen.

Dann hatte er sie fast augenblicklich wieder hinausbeordert. Geleite meine Schwester zum Speisesaal, hatte er Belial befohlen.

Und jedes Mal, wenn Narcise ihm näher kam, war Moldavi langsamer geworden und hatte sich verändert. Sein Atem, seine Stimme, ja selbst sein Körper war plötzlich angespannt. Er hatte versucht, es zu verbergen, aber Chas war es gewohnt, nach Anzeichen von Schwäche zu suchen, bei der Beute, die er jagte.

Aber Chas hatte das Rätsel noch nicht ganz gelöst, bis sie in das größere Zimmer kamen ... der, wie ihm später aufging, Moldavi einen größeren Raum gab, in dem er mit seiner Asthenie eingesperrt war. Und dann hatte er fast sofort den Befehl zu geben, Narcise zu entkleiden ... und ihre Kleider waren aus dem Zimmer zu entfernen.

Warum würde er das tun? Es sei denn, es war etwas darunter, was er aus dem Zimmer fortschaffen musste? Und natürlich, ohne dass jemand Verdacht schöpfte.

Und in dem Moment offenbarte Chas sich die Lösung. In der Vision von Sonia war auch Narcise vorgekommen, und es war auch klar, dass Cezar eine Mischung aus Angst und Bewunderung für seine Schwester empfand ... aber sie hielt auch einen Fächer aus Elfenbein in der Hand.

Und in ihren Kleidern, sie hatte ein Korsett getragen ... mit der Vorderschließe aus Elfenbein, die Chas ihr geschenkt hatte.

Es war Elfenbein. Moldavis Asthenie war Elfenbein.

*

Das Nächste, was Narcise ins Bewusstsein schwamm, war das Gesicht von Chas, finster und voller Sorge und zornig, das auf sie herabblickte.

„Mein Gott, Narcise“, sagte er, streichelte ihr die Wangen, bevor er sie in seine Arme nahm und hochhob, seine Augen schimmerten feucht. „Ich kam, so schnell ich konnte. Kannst du ... bist du ... Heilige Mutter Gottes ... Narcise.“

Die Federn waren verschwunden ... der Schmerz war fort ... die Lähmung und die Schwere waren abgeklungen. Ihr Körper war an Stellen wund, und taub an anderen ... aber sie konnte atmen. Und denken.

Und sich erinnern.

Sie kämpfte sich hoch, löste sich aus seiner Umarmung. „Giordan“, hauchte sie und blickte sich panisch um. Hatte sie ihre Gelegenheit verpasst? Hatte sie ihn aufs Neue verloren?

Chas’ Gesicht veränderte sich, und er trat einen Schritt zurück, so dass sie den gebräunten Körper sehen konnten, der zusammengesackt an der Wand hing, die Arme über dem Kopf. Giordans Gesicht schaute halb nach oben, seine glitzernden Augen verschlangen sie, und als ihre Blicke sich trafen, erkannte sie unbändige Erleichterung in seinem.

Sie glitt von dem Tisch herunter, auf dem sie lag, ihre Knie immer noch zittrig, und das Zimmer drehte sich auch noch in wilden Kreisen um sie. Etwas Nasses strömte ihr von der Schulter, und da war Blut und Nässe an anderen Stellen. Ihre Arme taten weh, ihr Rücken fühlte sich an, als wäre er verbrannt worden. Sie sah Belials Körper leblos auf dem Boden. Sein Kopf lag in einer Lache von dunklem, rotem Blut. In der Nähe. Der Verwesungsgestank war grauenvoll.

Chas fing sie in seinen Armen auf, als sie gerade zu Boden sacken wollte, und sagte, „bleib hier. Ich kümmere mich um ihn.“ Seine Worte waren kurz angebunden und angespannt, wie all seine Bewegungen, und Narcise fühlte mit jeder Faser ihres Herzens Reue, als sie seinen Schmerz begriff.

Sie sah zu, wie er Giordan befreite, sah wie dieser zusammensackte und vornüber kippte, als Chas ihn von den Fesseln losschnitt, die ihn aufrecht gehalten hatten, und sie musste sich vom Tisch wegbewegen, um ihm näher zu kommen. Schon jetzt nahm die Schwäche ab, ihre Beine wurden wieder stärker und ihr Verstand klarer.

Sie sah sich in dem Zimmer um, und da sah sie zum ersten Mal weitere Körper – tot, Vampyrkörper ... und dann sah sie ihren Bruder.

Er saß auf einem Stuhl auf dem Podest, an seinen Stuhl gefesselt, und umgeben von schmalen weißen Gegenständen.

Er war nicht tot ... aber er bewegte sich nicht.

Und auf einmal hatte sie Giordan in ihren Armen, seinen schweren, tröstlichen Körper, warm und willkommen, der an ihr herabglitt – und sie musste mit sich ringen, damit sie nicht unter Tränen der Beschämung niederbrach.

Wie viel Zeit hatte sie vergeudet? Wie viel hatte sie verloren? Sie war so mit sich selbst beschäftigt gewesen – sie, das einzig Wichtige, im Mittelpunkt...

„Ich werde mich um alles hier drinnen kümmern“, sagte Chas, der sich von ihnen abwandte. „Kümmere du dich um ihn. Ich denke er ... er braucht...“ Die Stimme versagte ihm, und er ging mit etwas ruckartigen Schritten davon.

„Mir geht es gut“, murmelte Giordan in ihr Haar, aber sein Arm hielt sich an ihr fest, und er stützte sich viel zu schwer auf sie, um wirklich als „gut“ durchgehen zu können.

Sie roch Gerüche an ihm, die sie nicht näher untersuchen wollte, und, während sie blinzelte, um wütende, entsetzte Tränen abzuwehren, half sie ihm aus diesem hässlichen Saal, ohne ihren Bruder eines Blickes zu würdigen.

Sie wusste, wohin es gehen sollte, und nahm ihn mit in ihre eigenen Privatgemächer. Ein kleiner Stachel von Schuldgefühl saß ihr im Fleisch, als sie Chas zurückließ, und sie schwor, sie würde, sobald sie Giordan versorgt hatte, wieder zurück zu ihm gehen.

Aber er war schwach, seine schöne, goldene Haut nur noch aschfahl, und sie wusste, er würde eine Stärkung brauchen, trinken müssen, bevor er seine Kraft wiedererlangen konnte. Wie viel Blut hatte Cezar von ihm genommen? Hatte es noch weitere gegeben, die von ihm getrunken hatten?

Was war sonst noch vorgefallen?

Die Gerüche und die Wunden an seinem Körper erzählten ihr mehr, als sie wissen wollte, und Narcise zwang ihren Verstand, hier wegzusehen, es sich nicht vorzustellen oder daran zu denken, und erinnerte sich an die verschwitzte, graue Farbe in seinem Gesicht. Er war jetzt in Sicherheit. Cezar würde ihm nichts tun ... keinem von ihnen beiden ... je wieder.

Als sie ihn sanft auf das Bett niederlegte, ließ Giordan sie nicht los, und sie fiel mit ihm auf das Bett, ihre Beine stießen unbeholfen aneinander, ineinander. Nackte Haut an nackter Haut, ihre Brüste drückten gegen seinen Oberkörper, seine warmen Arme locker um ihre Hüften geschlungen.

„Narcise“, murmelte er, seine Lippen bewegten sich wieder, da, an ihrem Haar, „bist das wirklich du? Bist du zu mir zurückgekommen?“

„Giordan“, antwortete sie ihm, wobei sie sich von ihm löste, um auf ihn herabzuschauen, „Es tut mir Leid. Ich weiß nicht einmal, was... Ich weiß, nichts, was ich sage, wird Geschehenes ungeschehen machen, nichts kann dafür entschädigen ... aber ... es tut mir so Leid. Ich habe es nicht verstanden. Ich habe nicht–“ Die Stimme brach ihr am Ende, und zurück blieb Verzweiflung. Wie könnte er ihr je vergeben? „So ... Leid.“

Das Mal an ihrer Schulter jagte ihr erneut eine scharfe Welle von Schmerz durch den Körper – oder vielleicht hatte es nie aufgehört, das zu tun. Aber wie dem auch sei, jetzt fühlte sie es.

Und zusammen mit dem Schock dieses Schmerzes kam auch ein unwahrscheinliches Gefühl der Befriedigung. Wenn es Luzifer missfiel, dann musste es hier um etwas Gutes gehen.

Und vor einer Weile hatte es auch aufgehört, nur um sie selbst zu gehen.

„Ssssch“, sagte er. „Sag jetzt ... nichts.“

„Bist du verletzt? Was kann ich...“

Er bedeckte ihren Mund mit seinem, seine Lippen waren warm und fest, passten sich ihren mit einer Sanftheit an, bei der sie laut schluchzen wollte. Seine Hände glitten an ihrem nackten Körper hoch, sanft und doch besitzergreifend.

„Belial“, sagte er und löste sich abrupt, sein Gesicht war jetzt hart. „Er–“

„Er ist tot“, erwiderte sie. „Chas...“ Sie schüttelte den Kopf und presste die geschwollenen Lippen aufeinander.

„Ich hätte ihn selbst getötet. Dabei zuzusehen, wie–“ Seine Stimme wurde leiser, verstummte, und er schaute zu ihr hoch, seine blaubraunen Augen weit offen und von Schmerz erfüllt. „Ich wusste, was Cezar vorhatte. Ich habe versucht, ihn davon abzubringen, Narcise.“

„Beim Schicksal, ich weiß, dass du es versucht hast“, entgegnete sie ihm wild. Schuldgefühle und Scham fraßen sie fast auf. „Giordan, es gab nichts, was du hättest tun können–“

„Ich hätte alles getan–“

„Aber das hast du“, weinte sie. „Das hast du schon. Und ich habe es nicht gesehen, ich war zu ... ich habe nicht, ich konnte nicht verstehen ... was du getan hast.“

Er hielt sie fest umarmt, aber sie konnte das Zittern und die Schwäche in seinen starken Armen fühlen. Sie drückte einen Kuss auf eine der Wunden an seiner Schulter, schmeckte die Überreste von köstlichem, warmem, sauberem Lebensblut. Begehren und Zärtlichkeit strömten durch sie hindurch, und er erschauerte unter ihren Lippen.

„Du musst trinken“, sprach sie zu ihm, löste sich erneut und schob ihre eigenen Bedürfnisse und Begierden erst einmal beiseite. „Du bist kaum imstande, deine Arme zu heben.“

„Nein“, murmelte er. „Du bis alles, was ich brauche. Ich habe niemals gedacht–“

„Bitte Giordan. Erlaube mir.“ Sie hob ihren Arm und bot ihm den an, und im gleichen Moment bewunderte sie die starken, glatten Muskeln an seiner Brust, hie und da einige dunkle Haare. „Genau, wie du es für mich getan hast.“

Er schüttelte den Kopf. „Ich kann nicht. Narcise. Ich kann nicht.“ Er drehte das Gesicht weg, sein Mund fest geschlossen, seine Nasenflügel bebten, als würde er zugleich versuchen, ihren Duft einzufangen und ihn auszusperren.

Etwas Scharfes und Hartes schnitt ihr ins Herz. Er hatte von Rubey getrunken. Sie wusste, das stimmte ... sie hatte gewittert und den Beweis an ihm gerochen.

Wenn er sie liebte, warum wollte er dann nicht das annehmen, was sie ihm anbot? Ihr Herz schlug wild, ein unangenehmes Gefühl stach ihr in die Eingeweide, sie suchte nach etwas, um sich zu schneiden, die Haut zu ritzen ... genau wie er es getan hatte, als sie sein Angebot, das gleiche Angebot wie hier von ihr, ausschlug, vor zehn Jahren.

Ein Lebensalter für manche. Aber nur ein kurzer Augenblick für einen Drakule.

„Bitte“, sagte sie und wollte ihm nur helfen, und zugleich wollte sie such die letzten Überbleibsel von Belial von sich streifen, die sich ihr in die Haut eingezeichnet hatte.

Sie rieb grob mit ihrem Arm über die Ecke von ihrem Nachttisch, und das reichte aus: dort war jetzt eine zarte, rote Linie zu sehen, aus der kleine Tropfen Lebensblut perlten.

„Narcise.“ Er hielt die Luft an, und sie hielt ihm den Arm unter die Nase ... aber selbst da noch drehte er sich von ihr weg. „Ich kann nicht. Du verstehst nicht... Ich habe mich geändert, Ich kann nicht.“

Aber dann erzitterte er, tief innen, als er einmal Atem holte. Sein Bauch und sein Oberkörper zuckten angstvoll an ihrem, und auf einmal war sein Mund auf ihr ... schloss sich um ihren Arm.

Seine Zunge glitt an der schmalen Wunde entlang, hinterließ eine feuchte, heiße Spur hinter sich, und Narcises Begehren erblühte, wuchs in ihr, schoss ihr tief nach unten.

Sie rollte und drückte sich gegen ihn, zuckte leicht auf, als er seine Zähne in die weiche Seite ihres Unterarms hineingleiten ließ. Das Strömen ihres Blutes in seinen warmen Mund hinein, seine feuchte Zunge, wie sie das Lebensblut schmeckte, bereitete ihr hier die gleiche Lust, wie wenn sie ihre Zähne in seine Venen versenkt hätte.

Sie schmeckte seine salzige Haut, spürte das Rasen und das Hämmern seines Blutes, als es im gleichen Rhythmus wie ihres schlug. Seine Augen waren geschlossen, sein Gesicht angespannt vor Erleichterung, während er trank–

Giordan setzte sich abrupt auf, schleuderte ihren Arm weg und erhob sich schwankend vom Bett. Er tastete nach dem Tisch, bekam dort eine kleine Schüssel zu fassen, gerade noch rechtzeitig, um sich in diese zu übergeben.

Narcise erstarrte, stocksteif. Hasste er sie so sehr, dass er nicht einmal...

Langsam schälte sie sich aus der warmen Stelle des Bettes, in der sie beide gelegen hatten, die letzten Überbleibsel der Lust waren verflogen und ließen sie zitternd und verwirrt zurück. Er saß mit dem Rücken zu ihr, seine ganze Breite, mit all diesen Muskeln, die da unter der Haut arbeiteten ... und einem Teufelsmal, das weiß geworden war. Es bedeckte seine Schulter bis hinunter an seinem Rücken, glatt und hell – als wäre er darum herum gebräunt.

Da blickte er auf, wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab und sah sie an. „Narcise“, sagte er, wobei er die Hand nach ihr ausstreckte. „Es tut mir Leid. Es liegt nicht an dir–“

„Es muss an mir liegen“, flüsterte sie, ihr Hals war plötzlich heiser und ausgedörrt. „Du hast keinerlei Probleme, von Rubey zu trinken.“

Seine Finger waren erstaunlich kräftig, und er hielt sie da an ihrem Platz auf dem Bett fest, als er sich wieder neben sie bettete. „Nein. Ich hätte es gar nicht erst probieren sollen. Ich wusste, was passieren würde ... aber ich kann dir nicht widerstehen.“ Sein Lächeln war ein bisschen wackelig und gekünstelt, was sie in noch tiefere Verwirrung stürzte.

Sie blinzelte, um die Tränen zurückzuhalten, und es kümmerte sie auch gar nicht mehr, ob sie schwach aussah. Sie war schwach. Schwach und töricht. Und was sie getan hatte, dafür gab es keine Vergebung.

Du bist die stärkste Person, der ich je begegnet bin, hatte er einmal zu ihr gesagt.

Das war, bevor er sie wirklich und wahrhaftig kennengelernt hatte.

Giordan ließ aber ihre Hand nicht los. „Nachdem das passiert war ... damals ... als ich fortgegangen bin, da war ich so finster und zornig und – nun ich war wohl etwas von Sinnen. Ich erinnere mich nicht mehr, was genau ich getan habe, aber es war brutal und böse und schwarz. Ich erinnere mich noch, in einer Gasse aufgewacht zu sein, mit einer großen Lücke in meinem Gedächtnis, alles weg, bis auf die Erkenntnis, dass ich dich nicht mehr hatte–“ Er drückte ihr die Hand. „Nein, sag jetzt nichts. Du musst erst alles verstehen.“

Narcise konnte ihm nicht in die Augen sehen, und daher starrte sie einfach auf ihre beider Hände: seine dunkle, kraftvolle, die sich um ihre schlanken, hellen Finger schloss.

„Da war eine Katze“, erzählte er weiter. „In der Gasse, und sie hat mir den Weg abgeschnitten. Ich konnte nicht an ihr vorbei. Und so blieb ich einfach liegen, bis die Sonne aufging. Völlig verloren in diesem finsteren Alptraum – ich kann nicht beschreiben, wie es war, aber es war grauenvoll. Ich habe versucht, mich vor dem Sonnenlicht zu verstecken, aber ein Teil von mir entkam dabei nicht.“ Er zeigte auf seine Schulter und lenkte ihren Blick weg von ihren Händen. „Ich habe ein gleißendes Licht gesehen, und das ist passiert. Ich dachte, meine Eingeweide ... meine Seele ... kämpften. Und so war es. Das Licht hat gewonnen.“

Narcise streckte die Hand aus, um sein Mal zu berühren, und war sich sicher, dass er das Ganze auf eine Weise erzählte, die es leichter erscheinen ließ, als es tatsächlich gewesen war. „Hast du...“, sie schüttelte den Kopf. Die weißen Linien standen nicht mehr hervor, noch fühlten sie sich anders an, als die Haut um sie herum. Die andere Farbe ließ das Mal im Grunde fast schön erscheinen, anstatt hässlich und bösartig.

„Ich war schwach und wie erschlagen, und als ich endlich den Weg nach Hause gefunden hatte, versuchte ich zu trinken. Und jedes Mal, wenn ich es versuchte...“ Er zeigte zu der Schüssel, ein seltsamer Ausdruck auf seinem Gesicht. „Da passierte das. Schließlich kam Drishni zu mir, und ich war in der Lage von ihr zu trinken. Weil sie nichts zu sich nimmt, was durch Tod oder Gewalt zu ihr kommt. Irgendwie, wegen meiner Verwandlung, erträgt mein Körper nichts Gewalttätiges oder Böses mehr. Und auch danach habe ich gemerkt, wie ich mich weiter veränderte. Auf so viele Arten und Weisen.“

„Und deswegen kannst du von Rubey trinken?“, fragte sie und wusste, dass ihre Stimme ganz steif klang. So verletzte sie all das hier.

„Sie isst kein Fleisch. Und sie bietet sich mir aus freien Stücken an.“ Seine Augen blickten forschend in die ihren. „Aber ich liebe sie nicht.“

Narcise wandte sich ab, um ihre Tränen zu verbergen. Was war sie für eine Närrin. „Und Luzifer?“

„Ich gehöre ihm nicht länger. Kritanu – ein alter Mann aus Indien, den Dimitri zu mir schickte, nachdem er von all dem hier erfuhr – sagt, dass ich eine Stufe des Mokscha erreicht habe, die den meisten Sterblichen verwehrt ist. Weil ich immer noch unsterblich bin, Narcise. Ich habe immer noch die Ewigkeit Zeit.“

Also war er nicht wie Dimitri und Voss. Sie runzelte die Stirn, es wurde ihr ein klein wenig leichter ums Herz. „Du bist kein Drakule mehr ... aber du bist auch kein Sterblicher?“

Er schüttelte den Kopf, seine Augen unverwandt auf sie gerichtet. „Ich weiß nicht, was ich bin ... aber ich weiß, dass ich wieder mir selbst gehöre, ein freier Mann bin. Und dass ich die Ewigkeit Zeit habe, um herauszufinden, was es mit dieser Verwandlung auf sich hat. Ich hoffe ... Narcise, wirst du bei mir bleiben?“

„Aber ich bin eine Drakule“, erwiderte sie ihm. Ich kann dich nicht lieben.

„Das macht keinen Unterschied, Narcise. Ich liebe dich ... und das wird sich nie ändern. Ich habe es dir schon gesagt: Du bist es. Es wird immer nur dich geben.“

*

„Er muss sterben“, sprach Chas zu Narcise, etwas später. Eine ganze Weile später, nachdem sie und Giordan sich in der Zurückgezogenheit ihres Schlafzimmers wieder restlos erholt hatten. „Deswegen bin ich hergekommen: um Cezar zu vernichten. Dann wirst du seinetwegen nie wieder Angst leiden müssen.“

Sie nickte und versuchte, sich ein Leben vorzustellen, in dem nicht der bedrohliche Schatten ihres Bruders über ihr kreiste. „Aber wie willst du das anstellen? Er hat sich so gut dagegen gewappnet, nicht einmal die Guillotine kann ihm etwas anhaben.“

„Es gibt einen Weg“, erwiderte Chas. Sein Gesichtsausdruck war schon ausdruckslos gewesen, als er zu ihr kam, und blieb es während der gesamten Unterredung – etwas, was sie bemerkte hatte, als er sie von dem schrecklichen Federumhang errettet hatte.

Wenn er sich von ihr unbeobachtet wähnte, spürte sie aber die Last seiner Blicke auf ihr ruhen: schwer. Und Ausdruck eines gebrochenen Herzens.

*

Am Tag darauf betrat Narcise den Speisesaal, um der Hinrichtung beizuwohnen. Die Diener und die gemachten Vampyre, die Teil von Cezars Haushalt waren, hatten entweder unter Chas Klinge oder durch seinen Holzpflock den Tod gefunden, oder sie waren davongelaufen, jetzt, wo ihr Herr ein Gefangener war. Es gab außer ihnen dreien und ihrem Bruder niemanden mehr hier unten.

Cezar wurde von Eisenschellen am Stuhl festgebunden, sowohl Hände als auch Füße waren fest angekettet. Er war auch an den Hüften angeschmiedet, so dass sein Oberkörper sich nicht rühren konnte, und eine Kette um seinen Kopf sorgte dafür, dass auch dieser sich keinen Zentimeter bewegen konnte.

Ihren Bruder derart angebunden zu sehen, war für Narcise ein schockierender Anblick – grauenerregend, um genau zu sein – und auch sehr beunruhigend: einen Mann zu sehen, der ihr das Leben zur Hölle gemacht hatte. Einen solchen Mann hier jetzt derart brutal unterworfen, so absolut hilflos zu sehen.

In seiner Funktion als Henker hatte Chas sich um die Vorbereitungen gekümmert, und jetzt stand er auf einer Seite des Zimmers und spitzte einen lange Holzpfahl, eigentlich eine Pike. Das Holz sah todbringend und grausam aus, und Narcise musste unwillkürlich schaudern. Giordan, der sie begleitet hatte, trug ebenfalls einen angespannten Gesichtsausdruck bei all dem zur Schau.

Schon bald wäre sie von ihrem Bruder erlöst, und auch von der Bedrohung, die er für sie und die übrige Welt darstellte. Und dann könnte sie den Rest ihres Lebens ohne Furcht leben.

„Narcise“, sagte ihr Bruder von seiner gefesselten Position aus.

Es war das erste Mal, dass er seit den gestrigen Ereignissen zu ihr sprach.

Sie ging zu ihm hin und kam vor ihm zum Stehen, und dort sah sie, wie klar und fest sein blaugrauen Augen sie anschauten. Sie saugten sich an ihr fest, und sie fühlte unbändigen Hass und Ekel für diesen Mann in sich aufsteigen, der ihr so viele Jahre ihres Lebens geraubt hatte. Ja, er hatte ihr die Unsterblichkeit verschafft – alles in allem, kein willkommenes Geschenk – und er hatte ihr so vieles andere geraubt: ein normales Leben. Familie. Den natürlichen Kreislauf von Leben und Lieben und Sterben.

Den Mann den sie liebte ... oder versuchte zu lieben ... für über zehn Jahre, einfach geraubt.

„Bist du gekommen, mir Lebewohl zu sagen?“, fragte Cezar. „Oder um mich zu verhöhnen? Ich muss dir gratulieren, Narcise. Du hast mich endlich besiegt.“

„Ich hielt es nur für höflich, dir adieu zu wünschen“, erwiderte sie und war sich bewusst, dass Chas ihr Gespräch auch hörte. „Und um sicherzugehen, dass dieses Urteil auch vollstreckt wird. Ich bedauere, dass unser Wiedersehen nur von so kurzer Dauer war, du hattest sicher auf etwas Längeres gehofft. Aber ich bedauere es nicht, dass von dir keine Kinder mehr ausgesaugt werden.“ Und du wirst nicht mehr am Leben sein, um mich zu quälen.

Sein Gesicht veränderte sich, während er sie so betrachtete, und sie sah etwas in seinen Augen aufflackern. Nicht Furcht, nicht Wut ... vielleicht etwas in der Art eines Bedauerns. „Alles was ich getan habe, war nur, dich zu bewundern, Schwester.“

„Bewundert und auch beherrscht“, rief sie ihm ins Gedächtnis zurück. „An den Meistbietenden oder an die stärkere Klinge verschachert. Was für eine Bewunderung.“

„Wie sonst hätte ich dich bei mir behalten können“, fragte er. „Bei der ersten Gelegenheit, die sich dir bot, wärst du ja fortgegangen. Ich wollte dich um mich haben. Immer. Für immer.

„Das wäre dir auch beinahe gelungen“, sagte sie, wobei ihr Hals sich wieder zuschnürte. „Was ist dir nur geschehen, mein Bruder? Wie bist du nur zu dem hier geworden? Du warst früher so ... lieb ... mir in Liebe zugetan.“

Für einen kurzen Augenblick bröckelte seine Fassade, und sie sah den wahren Cezar: einen verängstigten, unsicheren Man, voller Selbsthass. „Ich konnte nicht den finden, der ich wirklich war“, sprach er. „Ich konnte nicht hinnehmen, wer ich war.“

Aber gleich darauf war dieser zerrissene Gesichtsausdruck auch wieder verschwunden, und er setzte eine hochmütige Miene auf und erdolchte sie mit kalten Augen. „Ich hätte du sein sollen. Ich wollte du sein, Narcise. Immer geliebt, immer verhätschelt und von allen angebetet ... vollkommen an Gestalt und Aussehen. Eine Frau ohnegleichen.“

Das Herz hämmerte ihr, und Narcise bemerkte, dass Giordan jetzt neben ihr stand, ihr seine Hand unten auf den Rücken gelegt hatte. Zum Trost und als Stütze.

„Du hast immer all die Männer gehabt“, fuhr ihr Bruder fort. „Sie haben dich geliebt und begehrten dich. Immerzu. Und ich konnte auch verstehen, warum. Ich habe dich bewundert ... dich sogar geliebt ... aber ich wollte deinen Platz einnehmen.“ Cezars Aufmerksamkeit kam kurz auf Giordan zu ruhen, der hinter ihr stand. Ein Aufblitzen von Bedauern und Bewunderung war da in seinen Augen zu sehen, und seine Lippen pressten sich zusammen, zu einem Lächeln, das nichts Komisches an sich hatte. „Und dann kam er, und ich wusste, ich würde ihn an dich verlieren. Und so war es auch. Du warst“, sagte er zu Giordan, wobei er seine Augen etwas erglühen ließ, „alles was ich mir je erhofft und erträumt hatte.“

Narcise spürte das leise Zittern, das da durch Giordan lief, und sie lehnte sich etwas zurück, um auch ihm mit ihrer Nähe etwas Trost zu spenden. Seine Hand presste etwas fester gegen ihren Rücken.

Was er durchgemacht hatte. Für sie.

Schon bei dem Gedanken, und besonders hier, jetzt, im Angesicht von Cezar, und wo sie diesem die Lust an den Augen ablesen konnte, selbst noch als er sich anschickte zu sterben, schon dabei wurde ihr Übel vor Bitterkeit und Ekel.

Wie konnte Giordan ihr jemals vergeben, dafür, dass sie alles missverstanden hatte? Dass sie an ihm gezweifelt hatte?

„Und so trete ich dem Tod entgegen, Narcise, immer noch mit Neid auf dich in meinem Herzen“, sagte Cezar mit seiner lispelnden Stimme. „Was für eine Ironie.“ Er schloss die Augen.

Narcise wandte sich ab, ihr Magen rebellierte. Es war an der Zeit.

Chas war da, hatte alles schweigend beobachtet. „Ich bin bereit“, sagte er und warf Cezar einen Blick zu. „Lasst uns das hier zu einem Ende bringen.“ Er hatte sich schon zum Gehen abgewandt, hielt dann aber inne und kam wieder auf sie zu. „Du musst hierbei nicht zusehen. Narcise.“

„Nein“ erwiderte sie ihm. „Ich werde bleiben. Ich werde zusehen, wie es alles endet.“

Giordan, der nicht fähig war, einer solchen Tat zuzuschauen, drückte noch einmal ihre Hand und verließ, nach einem letzten forschenden Blick in ihre Augen, das Zimmer.

Chas nahm einen Stuhl und stellte diesen hinter Cezars Stuhl auf. Er kletterte auf den Stuhl, die lange, todbringende Pike in der Hand, und stand dort für einen Moment.

„Das“, so sprach er, als er den langen Pflock direkt über Cezars Kopf in Position brachte, „ist für die Kinder, die du abgeschlachtet hast, und für die Juden, die als Sündenbock haben herhalten müssen. Das ist für Narcise und die Jahre deines Missbrauchs in deinem Hause, und dafür, dass du sie zu deiner Gefangenen gemacht hast. Und dafür, dass du sie mit Hinterlist zum Pakt mit Luzifer verführt hast.“

Die Spitze schwebte jetzt genau über Cezars dunklem Kopf, und Narcise war nicht in der Lage, ihre Augen von ihm abzuwenden. Da saß er, unbeweglich, versteinert, zu keiner Bewegung fähig, von Kopf bis Fuß gefesselt, hilflos – genau wie es ihr ergangen war. Er starrte nur geradeaus, ein leises Lächeln auf den Lippen. Aber in seinen Augen leuchtete die Angst auf.

Chas würde den Pfahl in ganzer Länge runterrammen müssen, durch seinen Schädel, durch das Gehirn und den Mund, den Hals und in den Brustkorb ... und dann durch sein Herz hindurch. Narcise schloss die Augen. Gleich würde ihr Bruder getötet werden, erlöst werden von dem elenden Leben, das er hasste.

Er wäre fort, zu Luzifer verjagt. Auf immer.

Keine Angst mehr zu haben, keine Gewalt mehr...

„Lebwohl, Moldavi.“ Chas hob seine Arme, die gewölbten Muskeln aufs Höchste angespannt, und als er sich in Bewegung setzte, genau in dem Moment, schrie Narcise.

„Nein!“

Sie flog durch den Saal, warf sich gegen Chas, rammte ihn und den Stuhl, als der Pflock schon niedersauste. Sie gingen krachend zu Boden, ein wilder Haufen von Armen, Beinen, die Pike rollte klappernd über den Boden weg, als ein glühendes, weißes Feuer Narcise erfasste.

„Was zur Hölle tust du da?“, sagte Chas, der nach Narcises Schulter griff, als er sich in eine sitzende Position aufsetzte. „Was ist mit dir?“

Sie schüttelte nur den Kopf, ihr Körper zitterte. Überall in ihr schrie Schmerz auf, strahlte von ihrem Mal überallhin, fegte tobend durch sie hindurch, wie ein entfesselter Feuerball. „Ich konnte dich das nicht tun lassen“, keuchte sie, versuchte zu sprechen, schaute zu ihm hoch – durch diese rote, lichterloh brennende Pein, die immer stärker und heißer wurde. „Konnte ihn ... nicht töten.“

Er ist mein Bruder.