SECHS
Giordan schloss die Tür hinter sich und kam nur ein paar Schritte weit, in dem engen, von Fackeln beleuchteten Korridor, bevor er anhalten musste, um sich zu sammeln. Seine verfluchten Hände zitterten ihm, verdammt, und sein Gaumen war wund, wegen Zähnen, die sich nutzlos daraus ausgefahren hatten. Luzifers Zeichen schrei vor Wut, jagte ihm eine Welle Schmerz nach der anderen durch den Körper als Reaktion auf Giordans Opfer.
Es hatte ihn viel Selbstbeherrschung und Willenskraft gekostet, um sich umzudrehen und aus dem Zimmer dort zu gehen, und wenn er sich nicht sicher gewesen wäre, dass jede seiner Bewegungen hier überwacht wurde, wäre er noch etwas länger hier stehen geblieben.
Das war auch der einzige Grund, warum er sie nicht sofort mit sich in die Freiheit hinausgezerrt hatte.
Er sah sich um, gab genau Acht, als er seine Umgebung eingehend betrachtete. Er war natürlich schon durch die gleichen Gänge gegangen, ein paar Stunden zuvor auf dem Weg hierher, als er hinter Narcise herlief ... aber verständlicherweise hatte er da keinen Kopf gehabt, auf irgendwelche Details seiner Umgebung zu achten. Im Gegensatz zu Der Kammer, die er gerade verlassen hatte, hatte er hier grob gehauene Steinwände vor sich und einen unebenen Boden. Ganz anders als der Speisesaal, der auch als Fechtarena Dienste tat.
Und natürlich dachte er auch schon fieberhaft darüber nach, wie er Narcise aus diesem Verlies befreien konnte. Er durfte hier nichts überstürzen, so sehr es ihm auch danach verlangte – ja drängte – sie zu befreien. Er musste seine Schritte sorgfältig planen.
Denn sicherlich würde Cezar ihm keinen freien Zutritt mehr gewähren, nach seinem „Gewinn“ – und, ah ja, da war es auch schon. Das Geräusch von näherkommenden Fußschritten. Jemand von einem Beobachtungsposten in der Nähe hatte wohl gehört, wie sich die Tür öffnete, oder es gab andere Anzeichen dafür, dass Giordan gegangen war. Vielleicht eine Glocke, die in einem der höhergelegenen Zimmer läutete.
„Sie verlassen uns jetzt schon, Monsieur?“
Giordan war mehr als nur gelinde überrascht, seinen Gastgeber höchstselbst mit raschem Schritt auf sich zukommen zu sehen, der diesen Patschuli-und Zedernduft mit sich in den Korridor brachte. „So ist es.“
„Ich hoffe, es entsprach alles ihren Wünschen?“, fragte Moldavi, seine Augen glänzend und seine Stimme beschwichtigend. „Es hat Ihnen alles ... zugesagt?“
„Wenn man eine Frau, die schon bei dem Gedanken, von einem Mann berührt zu werden, panisch wird, nicht als ein kleines Problem betrachtet, nun, dann hatte ich keine Probleme.“ Nur mit größter Mühe gelang es Giordan, Stimme und Gesicht nichts von seiner immensen Verachtung verraten zu lassen.
„Sie hat Ihnen aber nicht zu viele Schwierigkeiten gemacht?“ Die Augen blickten ihn genau an und glitten dann über seinen Oberkörper, als würde er nach Anzeichen für Wunden oder Verletzungen suchen. Eine unnatürlich exakt geschwungene Augenbraue hob sich, als er die Bissspuren an seinem Oberarm sah.
„Aber natürlich nicht.“ Giordan war sich ziemlich sicher, dass es in der Nacht keine Zeugen – weder deren Augen noch deren Ohren – gegeben hatte; er hätte sonst sicherlich die Anwesenheit von jemandem gerochen, der nahe genug war, um sie zu hören oder zu sehen. Aber dann, ja, er war etwas abgelenkt gewesen, also konnte er sich nicht ganz sicher sein. „Ich habe alles bekommen, was ich wollte, und jetzt bin ich damit fertig.“
„Ausgezeichnet, ausgezeichnet. Es ist nur – ich finde es ungewöhnlich, dass ein Mann meine bezaubernde Schwester früher verlässt, als er muss, hmm?“
Giordan zuckte gleichgültig mit den Schultern und erwiderte nichts, als sie weiter durch den Korridor liefen.
Moldavi fuhr einschmeichelnd fort, „stünde Ihnen denn der Sinn nach einem Gläschen mit mir? Ich habe unlängst einen hervorragenden Tropfen aus Barcelona erhalten. Sie nennen es Champagner, aber kann ja eigentlich nicht sein, wo er doch in Spanien wächst, nicht wahr?“
Giordan zögerte kurz. Er wollte nichts lieber, als die Gesellschaft dieses ekelhaften Mannes verlassen, weg von diesem finsteren, abgeriegelten Ort und zurück zu sich nach Hause ... aber je mehr Zeit er in Cezars Gegenwart verbrachte, hier, in den Hochsicherheitsgewölben unter der Erde, desto mehr könnte er über ihre Beschaffenheit und über die Gewohnheiten ihres Bewohners herausfinden ... und desto schneller würde er einen Weg finden, um Cezar sein Lieblingsspielzeug abzunehmen.
Seine Hände ballten sich zu Fäusten, wie er daran dachte, Narcise hier zurückzulassen ... aber er zwang seine Finger dazu, sich wieder aufzurollen. Geduld.
Und daher, obwohl er wirklich allein sein wollte – mit seinen Gedanken, seinen Erinnerungen, seinen Befürchtungen: seine Anteilnahme an und seine Sorge um Narcise gewann sogleich die Oberhand. „Vielleicht ... vielleicht, ja, für eine kleine Weile. Ich würde Ihren Tropfen sehr gerne kosten. Er klingt vielversprechend.“ Er hielt seine Stimme weich und sogar enthusiastisch, mit recht viel Mühe.
Moldavis Gesicht veränderte sich, eine kurze Grimasse, und seine Augen weiteten sich für einen Moment ... dann war es wieder verschwunden. „Bitte, dann, kommen Sie“, sagte sein Gastgeber in seinem holprigen Französisch. „Und wenn Sie wollen, Cale, würde ich Ihnen gerne neue Kleidung geben. Ich nehme an, Sie wollen nicht nur in Hosen wieder zu sich nach Hause gehen. Ich habe Ihren Mantel noch aus dem Speisesaal mitgenommen, natürlich, aber vielleicht darf ich Ihnen ein Hemd schenken, und auch Schuhe.“
Giordan musst seinem Gastgeber Recht geben, und stellte fest, dass er überhaupt nicht an seine nackten Füßen, Beine und Brust gedacht hatte. Ah, Narcise. Du hast mich schon zerstört. „Ich wäre Ihnen sehr verbunden.“
Als er mit Moldavi weiterschritt, dachte Giordan an die Möglichkeit, den Mann hier, auf der Stelle, zu töten. Es war eine Möglichkeit, die Sache rasch zu beenden; eine, die er schon viel zu oft in Anspruch genommen hatte, wenn die Priester das Sagen hätten. Was natürlich nicht der Fall war. Es wahr die schlichte Wahrheit: Giordan war mit Gewalt und Armut um sich herum aufgewachsen, und neigte eher dazu, einen Mann, der sich ihm in den Weg stellte, gleich umzubringen, als Zeit darauf zu verschwenden, andere Lösungen zu finden.
Das war sicherlich ein weiterer Grund, warum Luzifer ihn als eine Bereicherung der Drakulia sah.
Moldavi zu töten, würde seiner Herrschaft über Narcise ein Ende bereiten, und sie würden ihren Weg aus diesem unterirdischen Labyrinth unter den rues von Paris schon finden.
Aber Giordan musste diese Idee beiseite legen, gleich nachdem sie ihm gekommen war, aus einer Reihe von Gründen, der nächstliegende war, dass er keine Waffe bei sich trug. Es war ja nicht so, als könnte er den Mann erwürgen oder zu Tode prügeln, hinab zu seinem Schöpfer gewissermaßen, wie man es draußen auf den Straßen tun konnte. Der einzige Weg hier war entweder ein Holzpflock oder ein Schwert, das dem Mann den Kopf abschlug, und abgesehen von den hölzernen Wandleuchtern, gab es nichts anderes, was funktionieren würde. Und einen Leuchter abzureißen, ihn spitz abzubrechen und Moldavi dann damit anzugreifen ... selbst Giordan war nicht zuversichtlich, dass es schnell genug und reibungslos funktionieren würde.
Abgesehen davon, würde alles, was den Mann Verdacht schöpfen ließ, seine Chancen verderben, weiterhin Zugang zu Narcise zu erhalten.
Geduld.
„Sie haben also seit Ihrer Kindheit in Paris gelebt?“, fragte Moldavi, als sie sich einer schweren Holztür näherten.
„Ja. Obschon der Teil, in dem ich als Kind gelebt habe, ganz anders war als das Marais“, sagte Giordan mit einem trockenen Lächeln zu ihm.
„Ich selber ziehe Paris jetzt anderen Orten vor“, sagte Moldavi. „Rumänien ist rauh und wild, es hat eine eigene Schönheit, aber es ist auch dunkel und gefährlich, wenn man sich dort nicht auskennt ... und ich finde die Stadt der Lichter eine willkommene Abwechslung.“ Er trug den Schlüssel an seiner Hüfte, aber da war zusätzlich noch ein Wachtposten, um ganz sicher zu gehen.
„Obwohl ich aus geschäftlichen Gründen jetzt viel unterwegs bin, kehre ich immer nach Paris zurück, denn hier habe ich jetzt mein Zuhause“, erwiderte Giordan.
Es schien, als hätte nicht einmal der Wachtposten Zugang zu der Tür, denn es war sein Herr, der sie mit dem Schlüssel aufschloss. Aus dem, was Giordan auf seinem Hinweg und seinem Rückweg beobachtet hatte, war der einzige Zweck, dem dieser Korridor diente, Zugang zu Der Kammer zu sein, in der Narcise und er gewesen waren. Es gab keinen anderen Eingang oder Ausgang hier, keine anderen Zimmer, und ganz sicher keinen anderen Weg in das Zimmer dort, oder aus ihm heraus.
In einem plötzlichen, jähen Anfall von Horror, fragte er sich, ob man Narcise die ganze Zeit an jenem Ort der Folter einsperrte, oder ob sie auch noch andere Räume hatte, in denen sie leben durfte.
Sie gingen durch die Tür, und Giordan nahm die Einzelheiten wahr, die er auf seinem Herweg nur vage wahrgenommen hatte. Dieser unterirdische Tunnel war schon viel länger in Paris als Moldavi.
„Wie kam es, dass Sie die Katakomben als Wohnsitz ausgewählt haben?“, fragte Giordan, als sie den Korridor weitergingen. Was er wirklich damit wissen wollte, war wie Moldavi diese unterirdischen Tunnel unter seine Kontrolle gebracht hatte, in denen schon seit Jahrhunderten Halunken und Vagabunden gehaust hatten. „Ich hätte gedacht, Sie ziehen ein Château oder eine andere Art von hochherrschaftlichem Haus vor.“
Die Wände dieses Flurs waren bedeckt von säuberlich aufgereihten Schädeln, ihre leeren Augen und die Zähne ihrer Oberkiefer waren ein gespenstisches und morbides Dekor. Oberhalb jeder Schädelreihe befanden sich aufgestapelte, große Knochen – Oberschenkelknochen, nahm er an, wenn man die Größe betrachte, und die Gelenkenden davon, die nach außen in den Gang schauten. Das schuf eine höckerige Wandoberfläche, und die Lücken dazwischen wurden von Spinnen und anderen Insekten bewohnt.
Giordan versuchte gar nicht, sein Erstaunen zu verbergen, dass ein Mann so kultiviert wie Moldavi – zumindest was Kleidung und seine Auswahl an Speisen und Getränken betraf – sich für ein Leben in solch schmutziger Umgebung entscheiden würde. Aber dann ... das hier war auch ein Vampir, der Kinder bis zum Tode aussaugte und der seine Schwester nur zum Vergnügen anderer als Gefangene hielt. Er biss die Zähne zusammen, um seinen Zorn unter Kontrolle zu halten. Vielleicht würde er den Mann doch jetzt schon töten.
„Es ist ein wenig primitiv, nicht wahr?“, erwiderte sein Gastgeber und strich liebevoll mit einer Hand über einen der Schädel. „Aber ich finde es ein interessantes Thema für Gespräche. Wenigstens“, sagte er mit seinem leichten Lispeln, „sind diese hier schon lange tot, und wir haben nicht das Verrotten und den Gestank von verwesenden Körpern wie an dem anderen Ort, da, wo sie jetzt gerade hingeschafft werden ... wie war noch der Name?“
„Das Ossuarium“, antwortete Giordan, der seine Selbstbeherrschung jetzt wiedererlangt hatte. Er bemerkte, dass der schädelverzierte Korridor sich jetzt in zwei Richtungen fortsetzte und dass sie die östliche Richtung eingeschlagen hatten. „In den alten Steinbrüchen.“
Er erkannte die Tunnel wieder, auch sie waren ehemals Steinbrüche gewesen, aber diese Knochen hier mussten die ursprünglichen sein, aus dem fünfzehnten und dem sechzehnten Jahrhundert. Die Aufbewahrungsmethode dieser Knochen vor vielen Jahrzehnten waren die Inspiration für die Beseitigung der Leichen aus überfüllten Friedhöfen, die neueste Welle dieser Bereinigungen hatte dreißig Jahre vorher begonnen, aus Friedhöfen wie dem von Saints Innocents mitten in Paris.
Viele dieser unterirdischen Gänge hatte Giordan schon erkundet, noch bevor er ein Drakule wurde, und jetzt fertigte er sich gerade im Geiste einen Lageplan an. Er brachte seine Erinnerungen an das Gewirr aus Gängen zusammen mit dem Weg, den sie jetzt gerade hier gingen, dabei versuchte er, die beiden miteinander in Einklang zu bringen. Das würde sich als nützlich erweisen, falls – wenn – er Narcise zur Flucht verhalf.
Als sie an einer Kreuzung von drei Gängen kamen, schritten sie dort durch eine Tür. Hinter der Tür fanden sie sich in einer Eingangshalle wieder, die genau wie seine eigene zu Hause aussah, und Giordan begriff, dass Cezar den Knochengang nur als Verbindungsstück zwischen seiner Folterkammer und seinen eigentlichen Wohnräumen nutzte.
Dieser Verdacht erhärtete sich, als sie die Halle durchquerten, wobei sie freundlich miteinander plauderten, und Giordan Narcise roch, zwischen vielen anderen Aromen. Hier verbrachte sie offensichtlich viel Zeit, genau wie Moldavi und andere.
Das war ein gutes Zeichen. Wenn man sie hier gefangen hielt, in diesem möblierten, getünchten und gestrichenen Bereich, standen Giordans Aussichten, sie zu befreien, deutlich besser. Und er hätte auch vielleicht weniger Alpträume – von ihr, eingesperrt in ihrer Folterkammer.
„Bitte, setzen Sie sich“, bot Moldavi an, als ein Diener eine hohe, weiße Tür am Ende der sanft ansteigenden Eingangshalle öffnete. Drinnen gab es viele gemütliche Sessel und ein flackerndes Feuer. „Ich hoffe, es macht Ihnen nichts aus“, sagte sein Gastgeber und wies auf die Flammen. „Aber ich verkühle mich recht leicht, und ich ziehe es vor, in jedem Zimmer ein großes Feuer zu haben.“
„Ich finde es unter Tage auch recht klamm und begrüße daher die Wärme“, erzählte Giordan ihm.
Gläser klirrten und Moldavi bot ihm ein kleines, reich verziertes Gefäß von der Gestalt einer umgestülpten Glocke an. Sie sprachen eine Weile über das Gewürzschiff, und die ganze Zeit über hielt Giordan Augen und Nase offen, für Anzeichen von Narcise.
Aber es war dann, als Moldavi nach einem ausgedehnten Moment des Schweigens sagte, „ich muss Paris zu meinem Bedauern aus geschäftlichen Gründen für etwa eine Woche verlassen, um nach Marseille zu gehen“, dass Giordans Sinne plötzlich hellwach wurden.
Etwas prickelte ihm hinten an seinen Schultern, und er nippte an dem ausgezeichneten Schaumwein, der aus Barcelona stammte. „Reisen Sie zu Pferd oder mit der Kutsche?“, fragte er, nur um die Unterhaltung in Gang zu halten, während sein Kopf wild arbeitete. Er hielt seine Augenlider gesenkt und ließ seinen Blick absichtlich durch das Zimmer schweifen. „Ich muss Ihnen meine Bewunderung für Ihre Auswahl an Bildern aussprechen“, sagte er. „Sie haben vielleicht bemerkt, dass ich ein Mäzen von Monsieur David bin.“
„Das habe ich“, erwiderte Moldavi. „Er hat meiner Schwester Zeichenunterricht gegeben, und das dort ist in Wirklichkeit eine ihrer Arbeiten.“ Er zeigte auf ein kleines, quadratisches Gemälde, in einem Rahmen, reich verziert und so breit wie das Bild selbst.
Giordan war das Bild von einer Stadt im Mondlicht schon aufgefallen. Die Häuserzeilen schienen wütende, graue Zähne, die grob nach oben in einen dunklen Himmel stießen. Aus Höflichkeit schaute er wieder hin, und weil er nicht allzu interessiert erscheinen wollte, schaute er auch fast augenblicklich wieder weg.
„Ich sehe wenig Ähnlichkeit zwischen ihrer Arbeit und der von David“, bemerkte er, wobei er nicht nur an den Mangel an Farben dachte, sondern auch an die Auswahl des Motivs. Monsieur David verlegte sich eher auf Porträts, denn auf Landschaften, und selbst sein eindrückliches Portrait von der Ermordung seines Freunds Marat war nicht so zornig und bedrohlich wie Narcises Welt.
Wie kann sie nur so leben?
Cezar lachte kurz auf. „Ich stimme voll und ganz zu, aber die Malerei gibt Narcise eine Beschäftigung.“ Er redete von ihr, als wäre sie irgendein dummes Ding, dem man ab und an einen Knochen hinwarf.
Giordan musste zu seinem Glas greifen, um seine Meinung nicht deutlich auszusprechen ... und um sich nicht auf das widerliche Wesen neben ihm zu stürzen ... und bemerkte, dass seine Zähne drohten, laut gegen den Rand des filigranen Glases zu stoßen. Er holte langsam Luft und nippte, zwang seine Zähne wieder in ihr Gaumenbett und brachte seine Augen dazu, nicht vor Wut lichterloh zu brennen. Ruhig. „Ich nehme an, sie kann nicht den ganzen Tag mit der Fechtkunst verbringen“, brachte er heraus.
Abgesehen von seiner Überraschung, dass jenes Bild von Narcise war, erstaunte es Giordan auch, wie Moldavi seiner Schwester den Umgang mit anderen Leuten – mit Männern – gestattete, noch neben den Gelegenheiten her, wo sie um ihr Recht auf ihren eigenen Körper kämpfte. Im Laufe allgemein gehaltener Gespräche mit Moldavi und anderen aus ihren Kreisen, war er informiert darüber, dass Narcise ihrem Bruder oft bei Einladungen zur Seite saß, und natürlich auch, dass sie ihn bei den seltenen Gelegenheiten, zu denen er ausging, begleitete. Er verstand jetzt auch, warum Narcise die Arbeiten von David so gut kannte, und warum sie sich so für das Bild in seinem eigenen Salon interessierte.
„Nein, in der Tat nicht“, stimmte Moldavi ihm zu. „Aber mir ist da gerade ein Gedanke gekommen.“
Giordan hob fragend eine Augenbraue und versuchte, nicht schon wieder zu jenem finsteren, hoffnungslosen Gemälde zu blicken.
„Wie ich schon sagte, ich bin vielleicht für eine Woche nicht hier. Ich habe nicht den Wunsch, Narcise und den gesamten Haushalt mitzunehmen. Und obwohl Ihr Interesse sicherlich unterschiedliche Ursachen hat – da Sie doch beide so interessiert an Monsieur David sind, wären Sie vielleicht bereit, in meiner Abwesenheit nach Narcise zu sehen?“
Giordan wurde es kurz ganz kalt, aber er erholte sich sofort wieder, als er die Falle sah. Schlau, Moldavi, sehr schlau. Es war nicht schwierig ein angewidertes Gesicht zu machen. „ich hoffe, Sie halten mich jetzt nicht für unhöflich, wenn ich hier dankend ablehne”, sagte er mit einem abfälligen Lachen. „Ich fürchte, ich werde in den nächsten zwei Wochen sehr beschäftigt sein und muss vielleicht sogar selbst die Stadt verlassen.“ Er beobachtete den anderen Mann sehr genau und wurde belohnt, als er sah, wie diesem die Anspannung aus den Fingern wich.
Giordan hatte offensichtlich einen klugen Schachzug getan, indem er offensichtliches Desinteresse heuchelte.
Aber was auch immer Moldavi vorhatte, Giordan hatte noch etwas gelernt: Der Mann war ganz zweifellos gerissen und mit allen Wassern gewaschen.
Er würde sehr vorsichtig vorgehen müssen, bei seinen weiteren Plänen. Einem Mann wie Cezar Moldavi auch nur irgendeine Art von Information zu geben, hieß, ihm noch größere Macht zu übertragen.
Und etwas aus Verzweiflung oder übereilt zu tun, könnte sich als tödlicher Fehler erweisen.
Vertraue mir, Narcise.
Ich bete, dir möge bis zu unserer nächsten Begegnung kein Leid geschehen.
Narcise fuhr aus dem Schlaf hoch, diese Worte hallten noch in ihr wider. Überbleibsel aus Träumen. Als sie in das sanfte Kerzenlicht starrte, stieg ein bitteres Lachen in ihr hoch, so wüst, dass sie fast erschrak, und sie presste ihre Lippen aufeinander.
Vertraue mir, Narcise.
Die Hände zitterten ihr, als sie damit über ihren nackten Bauch strich, dann ihre Finger zwischen ihren Brüsten einrollte, wo ihr Herz wild schlug, sie ließ ihre Hand da liegen. Oh ja, sie hatte ein Herz, und auch wenn es jetzt in Stein eingemauert war, spürte sie immer noch seinen weichen Kern.
Was hatte Cale gemeint, als er solche Dinge sagte? Insbesondere das absurde Ich bete, dir möge bis zu unserer nächsten Begegnung kein Leid geschehen.
Drakule beteten nicht.
Und wie könnten sie sich je wiedersehen? Wollte sie ihn überhaupt wiedersehen?
Ein kleines Zwicken tief in ihr, verriet ihr, ja, das wollte sie. Sie würde. Ohne sie tatsächlich zu berühren, hatte er sie doch berührt. Er hatte an ihr Herz gerührt.
Sie kletterte aus ihrem Bett und ließ die Decken zu Boden fallen. Es war immer klamm und kalt hier, unter der Erde, wo Cezar unbedingt leben wollte. Selbst hier in ihrem eigenen Zimmer, was komfortabel ausgestattet war, mit einem angrenzenden Salon, eingerichtet mit gepolsterten Sesseln, einem Spiegel und einer Ankleide, einem Schrank und sogar einem Platz für ihre Staffelei und ihre Farben, spürte man immer noch die Kälte. Es gab natürlich keine Fenster, und der einzige Weg zu wissen, wie spät es war, bestand aus einer Uhr, die sie regelmäßig aufzog.
Ein Feuer brannte ständig in einer Feuerstelle aus Stein und Ziegeln, und nur wenn Narcise dort in der Nähe stand, war sie in der Lage, die kleinen Schauer, vor Kälte und auch aus Grauen, gänzlich zu bannen, wenn sie spürte, wie die Wärme ihr in die Glieder sickerte und das Gewand aus Spitze erwärmte, das sie anhatte.
Das orangegelbe Feuer hypnotisierte sie, und Narcise spürte, wie ihre Augen zu brennen anfingen, wegen der Hitze und weil es ihr die Augen austrocknete. Aber tief drunten in dem heißen Glühen, sah sie Giordan Cale, vor ihrem inneren Auge, aufgehängt an schweren, eisernen Fesseln, seine dunklen, intensiven Augen auf sie gerichtet.
Vertraue mir, Narcise.
Sicherlich, in jener Nacht hatte er sich ihres Vertrauens würdig erwiesen. Sie erschauerte, aber nicht vor Kälte. Nein, der Gedanke an Giordan Cale brachte ihr unweigerlich Wärme in den Leib, nicht Kälte.
Aber es war jetzt schon über eine Woche her, dass er Die Kammer verlassen hatte, die Tür hinter sich geschlossen hatte und sie dort mit ihren Gedanken und ihrer Verwirrung alleine zurückgelassen hatte – nicht zu vergessen auch mit einem warmen, befriedigten Körper. Seitdem hatte sie ihn gezeichnet und von ihm geträumt, selbst als sie sich überredete, nicht zu sehr zu hoffen ... auf irgendetwas.
Ein Holzscheit sackte im Feuer durch, laut und unerwartet, Funken stoben über den Rand der Feuerstelle. Das Geräusch brachte Narcise aus ihren Träumereien zurück in die Gegenwart: Sie war immer noch Cezar Moldavis Schwester, immer noch sein Spielzeug und seine Trumpfkarte bei Verhandlungen, und immer noch nicht willens, irgendjemandem zu vertrauen.
Nicht willens war das falsche Wort, sie war nicht in der Lage, irgendjemandem zu vertrauen.
In einer plötzlichen Aufwallung von ohnmächtiger Wut drehte Narcise sich vom Feuer weg und läutete nach Monique, ihrer Kammerzofe. Schon bald würde Monsieur David zu ihrer Zeichenstunde hier erscheinen, und er mochte es nicht, wenn man ihn warten ließ. Und seit der Ermordung seines Freundes David Marat, war er noch übellauniger und fanatischer. Insgeheim hatte Narcise schon öfter gedacht, dass ihr Bruder diesen Künstler entweder wirklich übermäßig gut für die immer noch andauernden Zeichenstunden bezahlte oder dass Cezar andere Mittel und Wege gefunden hatte, den Mann trotz seiner Arbeit für die Sache Robespierres zu zwingen, einmal die Woche herzukommen.
Es war schon eine feine Ironie: Ungeachtet der Tatsache, dass sie seine Gefangene war, behandelte Cezar sie in vielerlei Hinsicht wie eine geliebte Schwester. Sie hatte wundervolle Kleidung, nach der neuesten Mode, eine bequeme Unterkunft, Beschäftigungen, die sie an Geist und Körper beweglich hielten, und Diener zu jeder Tages-und Nachtstunde. Man lud sie ein, an den gesellschaftlichen Anlässen ihres Bruders teilzunehmen, die meistens in der sicheren Umgebung seiner eigenen Residenz stattfanden, und wurde mit dem gleichen Respekt behandelt wie er.
Das einzige, worüber sie keine Kontrolle hatte, war ihr Körper.
Aber das war etwas, was sie ändern würde. Sie musste. Und es verging kaum ein Tag, an dem sie nicht einen Plan oder eine Möglichkeit ins Auge fasste, Informationen sammelte und sie sicher in ihrem Kopf aufbewahrte. Nach Jahrzehnten des Kerkers hatten die meisten Gefangenen schon längst jedwede Hoffnung fahren lassen, zu entfliehen oder ihre Lage zu verbessern. Aber Narcise war nicht darunter. Denn schließlich war sie auch noch unsterblich. Sie hatte ewig Zeit.
Sie beobachtete und belauschte, trainierte ihr kriegerisches Können, freundete sich mit ein paar der niederen Bediensteten an und langsam, aber so unendlich langsam, schuf sie sich innerhalb ihres Kerkers ein Refugium.
Vielleicht lag es an den flammenden Reden von Monsieur David, befeuert von der Revolution jenseits ihrer Kerkermauern. Vielleicht hatte der unerschütterliche Glauben eines Künstlers, dass niemand je über einen selbst herrschen sollte, dass keine königliche Familie oder Gruppe das Recht hatte, Macht über andere auszuüben, Narcise die Hoffnung wiedergegeben. Denn wenn eine ganze Stadt, nein, ein ganzes Land sich seiner Herrscherfamilie entledigen konnte, und sich aus den Klauen einer ganzen Kaste, von der Oberschicht, befreien konnte, warum sollte eine Frau da nicht ihren ganz persönlichen Tyrannen stürzen können?
Als die Kammerzofe Monique Narcise in ein schlichtes Tageskleid hinein geholfen hatte und es mit einem Malerkittel bedeckt hatte, hatte sie kaum noch Zeit, das Haar ihrer Herrin zu einem dicken, schwarzen Zopf zu flechten.
Das Klopfen an der Tür ihres angrenzenden Salons kündigte den Besuch von Monsieur David an, und Narcise folgte ihrer Zofe in das Nachbarzimmer. Monique öffnete dem Künstler die Tür, während Narcise begann, ihre Leinwände durchzusehen, aber als sie sich umdrehte, um ihren Lehrer zu begrüßen, zögerte sie.
Verwirrt, aber schnell wieder im Besitz ihrer sieben Sinne wandte sie sich zu ihrer Zofe. „Monique, Sie können gehen. Bonjour, Monsieur.“ Etwas stimmte nicht, und ihre geschärften Sinne prickelten, neckten sie bei der seltsamen Mischung aus Düften, die in der Luft hingen. Sie schluckte, schmeckte und roch eine vertraute Gegenwart.
Der Künstler, der einen Hut mit tief heruntergezogenem Kragen trug, unter dem seine dunkelbraunen Locken noch zu sehen waren, schritt ins Zimmer, in der Hand wie immer die Ledertasche mit Farben, Pinseln und Palette. Er schien sich seit ihrer Begegnung letzte Woche, die Haare geschnitten zu haben. Sein langer Mantel, vielleicht ein bisschen zu lang für den Sommer, wallte ihm um die kraftvollen Beine in langen Hosen, als er die Tasche auf einem Tisch ablegte.
„Bonjour, Mademoiselle“, sagte er. Seine Worte waren dumpf und seltsam verzerrt, wegen eines Tumors, der ihm Mund und Wange verunstaltete, aber klangen heute vielleicht etwas tiefer als sonst. „Sollen wir anfangen? Aber nein, Sie sind noch nicht bereit für mich.“ Seine Empörung angesichts der Verzögerung war seiner Stimme gut anzuhören, und Monique, schon immer ein intelligentes Mädchen, trat rasch den Rückzug an.
David war nicht bekannt für seine Geduld oder sein Taktgefühl.
In der Zwischenzeit waren Narcise die Hände feucht geworden, und ihr Magen war in Aufruhr, angefüllt mit wirbelnden, flatternden Empfindungen. War es möglich? „Selbstverständlich, Monsieur David. Ich bin fast soweit. Ich habe nur noch nach dem Kamelhaarpinsel gesucht, Sie bestanden darauf, dass mein Bruder mir einen solchen anfertigen lässt.“
Alle ihre Pinsel hatten Griffe aus Bambus oder Metall, denn Cezar würde nichts, was einem Holzpflock ähnelte, in ihrer Reichweite zulassen. Ihre Räume wurden auch regelmäßig nach hereingeschmuggelten Gegenständen durchsucht.
Die Tür hatte sich hinter Monique geschlossen, und zum ersten Mal fanden die Augen des Mannes, immer noch im Schatten der Hutkrempe, die von Narcise. Die Iris war braun, mit blauen Einsprengseln und einem schwarzen Rand, und das letzte Mal, als sie in diese Augen geblickt hatte, brannten sie vor Begierde.
Narcises Magen schlug einen Purzelbaum, ließ sie schwankend und schwach zurück. Er war es. Sie hatte Giordan Cale unter dem Mantel gerochen, unter dem Hut, der Tasche, die auch alle nach Jacques-Louis David rochen, aber bis ihre Blicke sich trafen, war sie sich nicht sicher gewesen.
Sie schüttelte kurz warnend den Kopf, noch bevor sie sich abwandte, um ihr Malereizubehör aufzusammeln, wobei sie versuchte, ihre tauben Finger davon abzuhalten, Pinsel und Palette auf den Boden fallen zu lassen. „Ah, da wäre er“, sagte sie und hob den fraglichen Pinsel hoch. Sie konnte jetzt erkennen, jetzt, da sie ihn genauer betrachtete, dass seine rechte Wange sich wölbte – genau wie die von Monsieur David. Es veränderte seine Gesichtsform und zusammen mit der langen Krempe seines Hutes, konnte man nur wenig erkennen, es sei denn, man schaute ganz genau hin.
„Und Sie sind jetzt endlich bereit für mich?“, fragte er, immer noch mit jener dumpfen, verstellten Stimme, und sie klang auch immer noch sehr indigniert. „Aber diesen Pinsel da werden Sie heute nicht benötigen.“
Sie sind jetzt endlich bereit für mich ... seine Worte spielten mit so einigen, verborgenen, möglichen Bedeutungen darin, bei denen sich ihr die Wangen röteten. Wie bei einem kleinen Schulmädchen.
„Aber selbstverständlich, Monsieur. Ich glaube, unsere letzte Lektion befasste sich mit Perspektive.“ Als sie die Worte aussprach, war Narcise sich gar nicht sicher, ob Giordan Cale sich überhaupt auskannte, mit den Einzelheiten des Zeichnens und des Malens, und sie hoffte, es würde nicht unabsichtlich seine Maskerade entlarven.
Denn, obwohl sie in ihrem Zimmer zumindest vor neugierigen Augen und Ohren sicher war – sie wusste dies, weil sie jeden Zentimeter dieser Wände, des Bodens und der Decke abgesucht hatte, um sich Gewissheit zu verschaffen –, so wusste Narcise aber auch, dass jederzeit–
Ah. Da war es. Das Klopfen an der Tür.
„Herein“, rief sie, und bemühte sich, nicht atemlos zu klingen, während sie in ihren Farben wühlte. Cale nahm seinen Mantel ab, um ihn über einen der Sessel zu legen, aber er behielt seinen Hut auf, und sie war plötzlich nervös, dies würde zu unangenehmen Fragen führen, oder dass er ihn abnehmen musste.
Belial, Cezars Haushofmeister und Vertrauter, trat ein. „Bonjour, Monsieur David“, sagte er mit einer Verbeugung. „Was wünschen Sie heute?“ Seine scharfen Augen wanderten durch den Raum, und Narcise hielt die Luft an, betete, es fiel Cezars gemachtem Vampir nicht auf, dass dieser David einige Zentimeter größer war und breitere Schultern hatte, als der andere, und dass auch ein anderer Duft im Zimmer hing.
Cale unterbrach nicht, was er gerade tat, nämlich einen Schemel in die Mitte des Zimmers zu rücken, und vielleicht half hier auch seine gebückte Haltung, die Illusion seiner Tarnung zu wahren.
„Ich werde natürlich das Übliche nehmen“, sagte er mit seiner unbeholfenen Stimme, und in dem gleichen gebieterischen Ton, den David immer an den Tag legte. Er machte sich an dem Schemel zu schaffen, als müsste er noch das perfekte Licht dafür finden. „Mademoiselle, ich werde heute Ihr Modell sein, um unsere Lektion zur Perspektive fortzusetzen. Die Krempe und der Winkel meines Huts werden hier ausgezeichnetes Lehrmaterial sein. Genau zu diesem Zweck habe ich ihn mir auch ausgeliehen. Sie werden Kohlestifte und ein paar weiche Bleistifte benötigen. Legen Sie die Ölfarben für heute beiseite, ich sagte Ihnen doch bereits, Sie werden diesen Pinsel heute nicht benötigen. Wie oft habe ich Ihnen schon gesagt, Sie müssen erst mit den Skizzen und Zeichnungen anfangen, bevor Sie auch nur an Gemälde denken können?“
Narcise zwang sich, etwas entspannter zu sein. Er klang genau, wie Monsieur David geklungen hätte. Cale hatte das hier offensichtlich gut vorbereitet – aber was hatte er nur vor? „Ich bitte um Verzeihung, Monsieur. Es ist nur, ich habe neue Farben bestellt und hatte gehofft, sie heute benutzen zu können.“
„Dass Frauen immer so ungeduldig sein müssen, nicht wahr?“, sprach Cale zu niemandem im Besonderen, aber von Belial kam ein leises, zustimmendes Glucksen.
„Ich bin gleich wieder da, mit Ihrer Erfrischung, Monsieur“, sagte der Haushofmeister.
Er verließ gerade das Zimmer, als Cale sie anfuhr, „Mademoiselle, bitte. Sie vergeuden meine Zeit.“
Die Tür fiel hinter Belial ins Schloss, und Narcise drehte sich zu Cale. „Was tust du hier?“, fragte sie ihn leise.
„Kann man uns hier belauschen oder sehen?“, erwiderte er ebenso leise und sah sich im Zimmer um. Er hatte offensichtlich etwas im Mund, das sein Gesicht entstellte und seine Stimme veränderte, aber jetzt klang er fast schon vertraut.
„Nein, aber Belial wird gleich wieder hier sein. Wie ist das hier nur möglich?“ Narcise zitterten die Hände, sie schlotterten ihr geradezu, und sie wusste ihre Reaktion auf all das hier nicht zu deuten. Was bedeutete das? Warum war er hier? Und warum verspürte sie auf einmal eine solche Wärme und eine Heiterkeit in sich?
„Ich habe dir doch gesagt, du kannst mir vertrauen, Narcise“, sagte er, wie er da auf dem Schemel hockte. „Hol deine Zeichenbögen und fang an, oder ich fürchte, Belial wird Verdacht schöpfen. Wenn er wieder fort ist, erzähle ich dir mehr.“
Sie tat wie geheißen und spürte seine Augen auf ihr ruhen, als sie Bögen grob geschöpften Papiers hervorzog, die sich immer noch zusammenrollten, weil man sie so gelagert hatte. Ein Klumpen von schwarzer Kohle und ihre italienischen Bleistifte – zu schmal und zu kurz, um als Holzpflock durchzugehen – kam noch zu den Bögen auf ihrem Zeichentisch hinzu, sowie ein paar Steine, um die Ecken zu beschweren, und dann machte Narcise sich an die Arbeit.
Ihr fiel auf, dass Cale sich den Stuhl so hingestellt und so darauf Platz genommen hatte, dass er nicht direkt zur Tür schaute, noch war sein Gesicht von dem Tisch aus zu sehen, auf dem Belial das Tablett mit dem Kaffee und dem Gebäck abstellen würde, wenn er zurückkam. Und nachdem sie diese Details seiner umsichtigen Planung entsprechend gewürdigt hatte, zusammen mit dem absichtlich geneigten Kopf, um sein Gesicht noch tiefer unter der Krempe verschwinden zu lassen, konzentrierte sie sich auf ihre eigene Arbeit.
Trotz seiner Verkleidung, was war es doch für ein Vergnügen diesen Mann jetzt hier als Modell vor sich zu haben, den sie zuvor nur aus dem Gedächtnis hatte zeichnen können. Sie sah da auch, dass er seiner fein geschnittenen eine Art falsche Nase aus Pappmaché übergestülpt hatte, was sie etwas breiter machte, und als sie ganz genau hinsah, sah sie auch schwache Tupfer auf seinem Gesicht, welche Falten und Grübchen, also ein alterndes Gesicht vortäuschen sollten, wo keines war.
Narcise war so vertieft in ihre Arbeit, gerade dabei, die Winkel und Perspektivlinien für den Hut zu malen, die der Skizze eine räumliche Tiefe und ein genaue Abbildung vom dreidimensionalem Raum geben würden, dass sie hochschreckte, als sich die Tür öffnete und Belial hereinstolzierte.
Aber sie spürte, ohne hinzusehen, wie seine Augen den Raum erneut absuchten, und ihre Zeichnung betrachteten, und war sehr erfreut, dass sie schon so weit damit gekommen war. Der Haushofmeister setzte das Tablett auf dem Tisch ab und näherte sich ihr mit einem Gebaren, als wäre er der Herr im Hause, schaute ihr über die Schulter – etwas was er gelegentlich tat, aber niemals, wenn Cezar zugegen war. Sie hörte und spürte, wie er an der Luft um sie schnupperte, mit diesem langen Atemzug. Die Härchen an ihrem Nacken richteten sich ihr auf und prickelten, aber sie rührte sich nicht, außer, um ihre Arbeit fortzusetzen.
„Du bist sehr begabt“, sagte er, leise und viel zu nahe an ihrem Ohr, und Narcise erstarrte. „Vielleicht gibst du mir einmal Privatunterricht?“
Sie unterdrückte das Verlangen, herumzuwirbeln und diesen Hund für seine Frechheit zu Boden zu werfen. Cezar war vor drei Tagen abgereist und hatte Belial für die Zeit seiner Abwesenheit zum Oberhaupt des Haushalts ernannt. Anscheinend war dieser Vertrauensbeweis dem Mann hier aus unerfindlichem Grund zu Kopf gestiegen.
„Vielleicht lässt du mich einfach in Ruhe ... meine Arbeit machen“, entgegnete sie ihm mit zusammengebissenen Zähnen. „Dein Geruch stört mich.“
Sie spürte, wie er sich hinter ihr versteifte und dann wieder etwas entspannte. „Ist dem so?“, sagte er, offensichtlich bemüht, seine Stimme unbeschwert klingen zu lassen. „Ich kann nicht dasselbe von dir behaupten, Narcise.“ Er sog neben ihrem Ohr noch einmal tief die Luft ein. „Dein Duft ist so verlockend wie du selbst.“
„Cezar schätzt dich nicht so hoch ein, Belial“, warnte sie ihn. „Du bist ersetzbar, und ich bin es nicht.“ Es war nicht Furcht, sondern Wut, die ihre Hand hier zittern ließ. Als ob ihr Bruder es einem Diener gestatten würde, sie anzufassen. Selbst er sank nicht so tief.
Der Haushofmeister gab einen arroganten Laut von sich, aber Narcise machte sich keine Sorgen darüber, was auch immer er versuchen würde, es würde ihm nichts bringen. Und trotz ihrer Verärgerung war sie dankbar, dass er nur auf sie achtete, und nicht auf Cale.
Sie wagte einen Blick zu ihrem Modell auf seinem Schemel hin und erhaschte dort zornige Augen unter der Hutkrempe. Sie presste die Lippen zusammen, schoss ihm einen warnenden Blick zu und machte sich wieder an ihre Zeichnung. Sie brauchte Cales Zorn nicht, noch seine Einmischung in das hier.
„Du hast deine Aufgabe erfüllt, Belial“, sagte sie, während sie ihren Bleistift für die hellen, dünnen Linien beiseite legte und die schwerere Zeichenkohle nahm. „Du kannst gehen.“
„Ich lenke dich ab?“
„Nein“, sagte sie, legte die Zeichenkohle ab und fixierte ihn mit Wut in ihren Augen. „Du reizt mich dazu, dich meinem Schwert vorzustellen, auf dass du mit der Klinge enge Freundschaft schließt. Sehr eng.“
Belials Augen glühten rot auf, aber er richtete sich auf und trat von ihr weg, „Sei dir deiner Sache nicht so sicher, Narcise.“ Und mit dieser Bemerkung, von der er wohl glaubte, sie klang unheilschwanger, über die sie jedoch nur lachen konnte, stakste er aus dem Zimmer.
„Schwanzleckende Schlange“, murmelte sie. Belial war ein Idiot, der sich selbst viel zu wichtig nahm. Sie ließ ihre Wut an der Zeichenkohle aus, zerbröselte dabei eine Ecke davon, was einen unnötigen Fleck machte, als sie damit zu hart über das Papier fuhr.
„Gestattet dein Bruder all seinen Dienern, sich derartige Freiheiten herauszunehmen?“, fragte Cale leise.
„Er wird nicht wiederkommen, bis die Zeichenstunde vorbei ist“, sagte sie zu ihm. „Wir sind jetzt unter uns. Und, nein, Cezar würde solche Frechheit nicht durchgehen lassen, wenn er sie sähe. Alles muss unter seiner alleinigen Kontrolle sein, und – egal wie wichtig er ist – ein Diener, der seine Grenzen übertritt, wird sich auf der Straße wieder finden, oder man wird sich seiner auf andere Art entledigen.“
„Gut“, Cale bewegte sich, glitt vom Stuhl. Er hob eine Hand an sein Gesicht und der Klumpen in seiner Wange bewegte sich, verschwand dann, als er was auch immer es nun war, in seiner Hand auffing. „Pfirsichkerne“, sagte er und grinste ihr von der Seite aus zu. „Zwei davon, um genau zu sein.“ Er legte sie in ein Taschentuch auf dem Schemel ab. Als er seinen Hut abnahm und dann seine Locken etwas aufrichtete, dort, wo sie ihm am Schädel angeklebt waren, da wollte sie ihm nur noch dabei helfen. Ihn anfassen.
Aber Narcise blieb auf ihrem Platz sitzen, blieb auf Distanz. „Wirst du mir jetzt erzählen, was du hier tust?“ Ihr fiel eine fette, schwarze Spinne auf, die über eine der Holzdielen auf dem Boden kroch.
„Da ich bezweifele, dass dein Bruder mir gestatten wird, in einer üblichen Form um dich zu freien, habe ich beschlossen, es ist besser, ich nehme die Sache selbst in die Hand.“ Der Humor, den sie jetzt als Teil seiner Persönlichkeit verstand und begriff, blitzte in seinen Augen auf und verschwand wieder.
„Um mich freien? Bist du verrückt?“ Kein Mann freite um die Schwester von Cezar Moldavi. Sie nahmen sie sich – oder zumindest, versuchten es.
„Ich wäre schon früher gekommen, aber die Vorbereitungen haben einfach etwas gedauert. Aber letzten Endes war Monsieur David dann sehr dankbar für meine beachtliche Spende für die Sache und auch für die zusätzliche Zeit, die er nun dafür hat. Geht es dir gut?“
Sie merkte, dass ihre Augenbrauen sich zusammengezogen hatten. Er sprach so ungezwungen mit ihr; als würden sie sich bereits seit Ewigkeiten kennen, als ob sie Freunde und Vertraute wären. „Wir sind uns erst zweimal begegnet“, platzte es aus ihr heraus, und bevor sie wusste, was sie da eigentlich sagte, kam noch, „aber es fühlt sich für mich an, als würde ich dich schon viel besser kennen.“
Er hatte immer noch diese falsche Nase auf; vielleicht ließ sich diese nicht so leicht entfernen und wieder aufsetzen wie die anderen Elemente seiner Verkleidung. Nichtsdestotrotz war es ganz eindeutig Cale, mit seinem ruhigen, steten Blick und den vollen Lippen, die so unendlich zärtlich das heraustropfende Blut von ihrer Handfläche geleckt hatten. „Über nichts hätte ich mich mehr gefreut, als das zu hören, denn ich fühle mich, als würde ich dich schon seit jeher kennen ... obwohl ich dich kaum kenne, auf all die Arten und Weisen, die wichtig sind. Ich muss es wissen, Narcise ... hat es andere Schwertkämpfe gegeben, seit unserem? Und wie ist es dir bei denen ergangen?“
Sie wusste, was er sie fragte – ob es irgendwelche andere Männer gegeben hatte, und ob man ihr Gewalt angetan hatte oder nicht. „Es gibt jetzt nicht mehr viele, die tapfer genug sind, meiner Klinge entgegenzutreten“, sagte sie, als eine Art Antwort. „Nur wenige Männer sind bereit, sich der möglichen Erniedrigung auszusetzen, von einer Frau im Kampf geschlagen zu werden.“
„Was genau der Grund war, warum ich es so eingerichtet habe, dass ich gewinnen musste“, erwiderte Cale. Sein spitzbübisches Lächeln war ansteckend, selbst aus dieser Entfernung, und sie konnte nicht anders: sie musste es erwidern.
Was für eine abwegige Vorstellung: dass er hier war, um sie zu freien. Aber, tief drinnen, in dem weichsten Teil ihres versteinerten Herzens, fühlte sie eine Zwicken von Unbeschwertheit. Ein mädchenhaftes Hüpfen im kalten Herz einer bitteren, alten Vettel.
„Aber du hast meine Frage nicht beantwortet“, drängte er sie. Er lehnte sich gegen den Tisch, auf dem Belial das Tablett abgestellt hatte – immer noch etwas entfernt von ihr. Geistesabwesend stellte sie fest, dass die Spinne nun in der Mitte des Zimmers angelangt war und sich mit achtfüßiger Zielstrebigkeit auf die andere Seite zubewegte.
„Außer unserem Kampf, habe ich keinen einzigen der letzten fünf Jahre verloren“, offenbarte sie ihm. „Und davor, nach den ersten fünf Jahren in Rumänien, bevor ich meine Fechtstunden bekam, war die Nacht selten, in der ich verloren habe. Vielleicht zwei-oder dreimal im Jahr.“
Cales Augen waren jetzt ernst. „Es tut mit Leid, dass es so viele waren.“
„Mir auch. Aber es hat mich stärker gemacht“, sagte sie, nicht nur zu ihm, sondern auch zu sich selbst. „Und niemand hat mich – gegen meinen Willen – berührt“, fügte sie mit einem raschen Blick zu ihm hinzu, „seit vielen Jahren.“
„Wird Belial dich belästigen? Cezar ist nicht da, oder doch?“
Narcise wischte den Haushofmeister mit einer Hand, schwarz von Zeichenkohle, weg. „Wenn er sich ungehörig benimmt, weiß ich, wie ich mit ihm umzugehen habe.“
„Ich hege da keinen Zweifel.“
Danach sprach er erst einmal nicht, aber seine Augen glitten über sie. Sein unverhohlener Hunger war gewagt, fast dreist, aber wieder einmal tat er keinen Schritt auf sie zu. Narcise wunderte sich darüber und fühlte, wie Erwartung sie in Spannung versetzte. Und wenn sie ehrlich sein wollte, auch in Bereitschaft.
„Seid du und David Geliebte?“, fragte Cale abrupt.
Sie konnte einen schockierten Gesichtsausdruck und auch einen Schauer des Ekels nicht unterdrücken. „Nein, natürlich nicht.“
„Gut.“ Erneut nickte er. Mit einer wohlüberlegten Bewegung zerdrückte er die Spinne unter seinem Fuß, wie um seinen Worten Nachdruck zu verleihen.
Narcise blinzelte und lenkte ihre Gedanken dann in andere Bahnen. „Ich muss noch einmal fragen, Monsieur Cale, warum haben Sie solche Mühen auf sich genommen, um hier hinein zu gelangen?“
„Ich wollte dich natürlich sehen, aber ohne dass dein Bruder davon weiß“, erklärte er.
„Weil es ihm nicht gefallen würde?“ Narcise runzelte die Stirn. „Ich bin mir da nicht so sicher. Er war recht beeindruckt davon, wie du bei unserem kleinen Schwertscharmützel gewonnen hast, und ich denke, es amüsiert ihn, dass du mir darin ebenbürtig bist, was den Umgang mit Waffen anbetrifft. Er möchte mit dir Geschäfte machen.“
Cale schaute nachdenklich drein. „Ich bin nicht sicher, ob es ihm gefallen würde oder nicht, aber egal wie, ich bin nicht gewillt, ihn wissen zu lassen, dass du zu mir gehörst.“
Bei dieser Beleidigung richtete sie sich abrupt auf. „Ich gehöre niemandem.“ Maßlose Wut erfasste sie, überall, aber als er die Hand hob, ließ sie ihn sprechen.
„Ich habe gesagt, du gehörst zu mir, Narcise. Nicht, dass du mir gehörst. Wir gehören zusammen. Ich kann es fühlen, und das wirst du auch, eines Tages.“
Sie schaute weg. „Du bist verrückt.“ Aber selbst da wusste sie bereits, dass ihre Worte schwach und wenig überzeugend klangen. Die Wahrheit war etwas, was tief drinnen an ihr zog, an ihrem ganzen Sein, wenn er um sie war. Das hier war so anders als mit allen anderen Männern, die behauptet hatten, sie zu lieben, sie zu begehren, sie zu besitzen.
Das hier war anderes, denn – verdammt seien die Schicksalsgöttinnen – sie fühlte es auch.
„Er weiß, dass ich dich ihm wegnehmen könnte, weg von hier“, sagte Cale. „Er weiß, dass ich der eine Mann bin, der das schaffen könnte.“
Narcise hob skeptisch die Augenbrauen.
„Wenn du mir vertraust.“ Er lächelte, aber diesmal war da auch eine Schärfe verborgen. „Und da ich mich dir heute nicht nähern kann, oder dieses miese, kleine Ungeziefer wird uns riechen, wirst du auch heute wieder einmal einsehen, dass ich nicht beabsichtige irgendetwas von dir zu fordern, was du mir nicht aus freien Stücken gibst.“
Die aufblitzende Enttäuschung überraschte sie, und zugleich fühlte Narcise aber, wie eine Welle der Erleichterung über sie schwappte. „Deswegen hast du gefragt, ob David und ich Geliebte sind“, sagte sie trocken, ein verärgertes Zwacken löste die der Erleichterung ab.
„Nein“, sagte er.
Sie wartete auf eine Erklärung, aber er sagte nichts. Ein schweres Schweigen senkte sich über sie, eines, in dem das Summen ihres Herzens anzuschwellen schien, und seins ebenso, und sie hätte schwören können, ihre Herzen schlugen wie eins. Wärme und Sanftmut überflutete sie, und wenn sie nicht wüsste, dass es einem Drakule nicht möglich war, einen anderen mit seinem Bann zu belegen, hätte sie gedacht, dass genau das hier gerade vor sich ging.
„Und das“, sagte er nach einem langen Augenblick, und zerschnitt das Band zwischen ihnen, „sind also deine privaten Gemächer – wo du schläfst? Wo du zeichnest und Gäste empfängst?“
„Ich empfange nur sehr wenige Gäste, wie du dir denken kannst“, erwiderte sie, griff wieder nach der Zeichenkohle und nahm dann doch einen der weicheren Bleistifte stattdessen. Da war eine Stelle, die etwas mehr Schatten brauchte, aber es war in einem seiner Augenwinkel und erforderte einen ganz zarten Strich mit der Hand. „Aber ich male und zeichne hier. Es gibt ein weiteres, größeres Zimmer, wo ich meinen Schwertkampf übe.“
„Gewährt dir Cezar irgendwelche anderen Freiheiten? Reitest du aus oder gehst einkaufen oder besuchst Museen oder Cafés?“
„Ich verlasse diese Gemächer nicht ohne seine Begleitung“, erwiderte sie. „Ich habe seit Jahren nicht mehr auf einem Pferd gesessen. Er bringt Unterhaltung und Zerstreuung hierher, zu uns. Er hat Angst davor, allzu oft nach oben zu gehen.“
„Es muss mit seiner Asthenie zusammenhängen. Trotz meiner großzügigen Bestechungsversuche, hat niemand auch nur eine Ahnung, was es sein könnte“, sprach Cale. „Weißt du es?“
Sie schüttelte den Kopf. „Denkst du nicht, dass ich in der Zwischenzeit dann einen Weg gefunden hätte, dieses Wissen zu meinen Gunsten zu benutzen, wenn ich es hätte? Es ist ein immens gut gehütetes Geheimnis. Ich glaube nicht, dass außer Luzifer und Cezar irgendjemand davon weiß.“
„Aber was ist mit seinen Gemachten“, fragte Cale. „Würde es da nicht offenbar werden?“
Es war eine logische Frage, denn wenn ein Drakule einen neuen Vampir zeugte, oder machte, dann ging seine Asthenie auch auf diesen neuen Unsterblichen über. Und zusätzlich erwarb der Unsterbliche eine eigene Asthenie, nur für ihn oder für sie. Daher waren die Gemachten immer schwächer und verwundbarer, denn sie bekamen immer mehr Asthenien vererbt, je weiter man die Linie herunterwanderte, von denen, die von Luzifer selbst eingeladen worden waren.
Aber Cezar war viel zu gerissen, um so einen Fehler zu begehen. „Im Gegensatz zu den Behauptungen meines Bruders, oder was auch immer er den Leuten weismachen will, hat er keinen Vampyr selbst gezeugt. Zumindest meines Wissens hat er das nicht.“
Das überraschte Cale, und seine Brauen hoben sich schockiert. „Aber wie kann das sein? Er ist berühmt für seinen Klan aus loyalen Dienern – darunter viele Gemachte – und für seinen Einfluss selbst in der Welt der Sterblichen, hier in Paris.“
„Aber es ist wahr. Seit vielen Jahren hält er drei Drakule gefangen und zwingt sie, Vampyre zu zeugen, die er dann benutzt. Zu Anfang hat er auch mich auf diese Weise benutzt.“ Sie sprach ganz unbefangen und offen vor sich hin, während sie die untere Linie seines Ohrs ausbesserte.
Cale schien dies einen Augenblick lang verdauen zu müssen. „Sehr schlau. Und wenn die Erzeuger unter der Kontrolle von Moldavi sind, dann sind es auch die Gemachten selbst. Aber du bist seine Schwester, und du kannst nicht erraten, was es sein könnte, selbst jetzt nicht?“
„Alles was ich vermute, ist dass es etwas so Alltägliches ist, dass es ihn von der Welt der Sterblichen fernhält, außer wenn er den Ort sehr genau überwachen kann, an den er sich dort begibt.“
„Dann muss ich mich geschmeichelt fühlen, dass er meiner Einladung in meinen Klub nachgekommen ist.“
„Er bewundert dich – deinen Sinn fürs Geschäft und deinen Reichtum.“
Cale nickte. „Wie so viele“, sagte er mit jenem plötzlich aufblitzenden Lächeln. „Ich bin dafür wie geschaffen. Aber ich denke, dein Bruder ist eher an meinen Kontakten nach China interessiert, und an einer Beteiligung im Opiumhandel, die ich ihm verschaffen kann.“
„Cezar würde sich nie die Schwäche gestatten, vom Opium abhängig zu werden“, sagte sie zu ihm. Dann fügte sie hinzu. „Vielleicht sollten Sie wieder Platz nehmen, Monsieur. Ich scheine nicht in der Lage zu sein dieses Detail...“ Sie kniff die Augen zusammen, vergaß was sie gerade sagen wollte, während sie versuchte, sich den Umriss von dem jetzt fehlenden Hut vorzustellen, den dieser über seinem rechten Ohr hatte.
Cale setzte sich amüsiert hin, was seinen Mund weicher machte. „Also will er das Opium nicht für sich selbst?“
„Oh, doch, aber er selbst macht davon wenig Gebrauch. Er vermeidet alles, was seine Kontrolle über eine Situation oder über sich selbst schmälert.“
„Ich bin zu demselben Schluss gekommen.“
„Wenn Sie jetzt für einen Augenblick aufhören würden zu sprechen, Monsieur.“
„Sehr gerne, wenn du einfach weiter zu mir sprichst.“
„Sehr wohl. Cezar will das Opium für den eigenen Gebrauch nur dann und wann, aber er kann es auch dazu einsetzen, andere zu beeinflussen und sie zu kontrollieren, nicht nur seine Verbündeten, auch die mächtigsten Leute von Paris. Sterbliche und andere. Sie werden es ihm abkaufen, oder er wird es ihnen schenken, um das zu bekommen, was er möchte.“
Schweigen fiel wieder auf sie nieder, als sie sich darauf konzentrierte, seinen Mund perfekt abgebildet zu bekommen. Mit der Distanziertheit einer Künstlerin zeichnete sie die Lippen und schattierte sie, die obere Lippe immer dunkler als die untere, weil sie so geformt war und so nach außen hin geschwungen. .. aber als sie fertig war, gewann ihre Weiblichkeit allmählich wieder die Oberhand. Erinnerte sich daran, wie diese Lippen sich an ihre Handfläche angepasst hatten, das Gleiten der Zunge über die zarte Haut dort, und die sanfte Berührung seines Mundes, heiß und zärtlich ... sie musste für einen Augenblick die Augen schließen, um ihre Fassung wiederzuerlangen.
„Wenn du mir genug vertraust, wirst du mich küssen“, sagte er, es war geradezu gespenstisch, wie er ihre Gedanken lesen konnte. Ihre Augen schossen nach oben und wurden von seinen gefangen genommen. „Und“, fügte er hinzu, „du wirst mir dann erzählen, was in der kleinen Metallbox in der anderen Kammer war.“
Narcise leckte sich nervös die Lippen und spürte, wie seine Augen zu ihren Lippen wanderten. Wenn nichts anderes, so hatte dieser Mann zumindest sich selbst eisern im Griff. Seine Begierde, sein Geschmack, war für sie geradezu greifbar, sandte kleine Wellen durch das Zimmer. Ihr eigenes Begehren ließ ihre Finger zittern, so dass sie den Strich nicht zu Ende ausführen konnte.
„Federn. Braune Spatzenfedern“, sagte sie leise, beachtete den schneidenden Schmerz von ihrem Luziferzeichen nicht. Auch wenn es kein großes Geheimnis war – viele von ihren Rivalen wussten natürlich, was in der Metallschachtel war, und es wäre Cale ein Leichtes, es zu entdecken. Aber er fragte, und sie wollte ihm die Information aus freien Stücken geben. Sie wollte ihm etwas von sich selbst schenken. „Das Erste, was ich sah, am Morgen nach ... nachdem Luzifer mir erschienen war ... war ein Spatz, der in dem Baum vor dem Fenster meines Schlafzimmers sang.“
Er nickte zur Bestätigung. „Ich danke dir, Narcise. Das ist ein Anfang. Und das ist alles, was ich im Moment von dir brauche.“
Er sah aus, als ob er noch etwas sagen wollte, aber sein Körper wurde angespannt. Zur gleichen Zeit drehte Narcise sich um und sah zur Tür. Auch sie hatte die Schritte gehört. Als Belial und Monique später dann ins Zimmer kamen, hatte Cale sich die Pfirsichkerne wieder in den Mund gestopft und den Hut wieder aufgesetzt. Er hielt eine Tasse Kaffee in der Hand sowie ein Stück von dem Gebäck, das Monsieur David so mochte, in der anderen Hand.
Narcise stellte sich in der Nähe von Belial auf, um ihn von Cale abzulenken, als dieser seine Ledertasche griff und sich zu gehen anschickte. Er schenkte ihr noch einen letzten Blick, versteckt unter der Krempe, warm und intensiv, und dann verließ ihr falscher Lehrer schon den Raum.
Sie fragte sich, wann und wie sie ihn nur wieder sehen würde, und merkte da auf einmal, wie sehr sie sich das wünschte. So sehr.
War sie dabei, sich wieder zu verlieben?