ZWANZIG

Auf ihrem Weg zum Speisesaal – der Ort, an dem sie vor der Zuschauertribüne unzählige Kämpfe ausgefochten hatte – roch sie Giordan. Also war er doch hier. Oder war hier gewesen.

Ein leichtes Schaudern lief ihr über die Schultern. Was hatte Cezar mit ihm gemacht?

Sie war nicht in der Lage gewesen, die fürchterlichen Worte von Chas abzutun. Wenn er damit Recht hatte, stellten Giordans Handlungen von damals ein Opfer jenseits aller Vorstellungskraft dar. Sie wusste, was er als Junge erlitten hatte, in den dunklen Gassen, gierigen Männerhänden ausgeliefert ... aber die ganze Zeit, als das Schlimmste eingetreten war, und sie zur Augenzeugin des sinnlichen Schauspiels in Cezars Gemächern wurde, hatte sie Giordan unterstellt, dass er sein wahres Ich verleugnet hatte, seine wahren Bedürfnisse.

Ähnlich wie bei Chas, den ihr Vampir-Naturell anekelte ... der aber auch davon fasziniert, erregt war, sich danach verzehrte und sie wollte. Er musste um genau das betteln, was ihn am meisten anekelte.

Damals hatte es alles einen Sinn für sie ergeben – oder so schien es, zu der Zeit, und es hatte sich über die Jahre bestätigt. Letzten Endes hatte Giordan nur Cezar gewollt, aber er konnte es niemals zugeben.

Aber Chas schien sich so sicher ... und wenn Giordan wirklich nur Cezar wollte, warum war er nicht mit ihnen gekommen, als sie Paris verlassen hatten?

Die gesamte Reise über, von London nach Paris, war Narcises Inneres ein einziges Kuddelmuddel aus Übelkeit und Selbstvorwürfen gewesen, aber jetzt musste sie das einstweilen beiseite schieben. Sie musste ihre sieben Sinne beieinander halten und stark sein, um zu überleben – was auch immer ihr Bruder für sie als Strafe ersonnen hatte, weil sie ihm weggelaufen war.

Chas hatte darauf bestanden, mit ihr zu kommen, zu ihrer großen Bestürzung und ihrer ohnmächtigen Wut ... aber ein Teil von ihr war dann doch auch froh, jemanden bei sich zu haben. Sie beabsichtigte, ihren Einfluss auf ihren Bruder dahingehend geltend zu machen, dass Chas nicht eingesperrt wurde.

Zu wissen, dass sie über Einfluss verfügte, war noch etwas reichlich Nebulöses ... aber es war wahrscheinlich der einzige Grund, warum sie die Zornesflammen von Luzifer noch nicht verschlungen hatten. Das anhaltende Pochen des Mals war schmerzhaft, aber nicht unerträglich.

Im Speisesaal angekommen entdeckte Narcise, dass sich in ihrer Abwesenheit rein gar nichts verändert hatte ... nur vier Monate war das her.

Vier Monate. Es schien eine Ewigkeit her, selbst für sie, die sie unsterblich war.

Aber kaum hatte sie in Begleitung von Belial den Speisesaal betreten, verändert sich alles. Es breitete sich hektische Aktivität allenthalben aus.

Ehe sie sich’s versah, war Cezar schon da, stand auf dem Podest hinter dem langen Tisch über ihr. Neben ihm stand Giordan, das Gesicht wie versteinert. Er war von den Hüften aufwärts nackt, und auf seiner glatten, gebräunten Haut waren Bisswunden zu sehen, bei deren Anblick sich Narcise der Magen umdrehte. Zwei der Bisswunden bluteten noch, und sie konnte sein Lebensblut riechen.

Sie hörte Chas hinter sich fauchen, und auf einmal waren sie durch eine ganze Kohorte der Männer ihres Bruders voneinander getrennt worden – Chas wurde geschoben, weggezerrt, von zwei Vampyren festgehalten, und drei andere hatten sie umzingelt.

„Meine liebste Schwester, ich muss ein Geständnis ablegen“, sagte er. „Ich hoffe sehr, dass es dich nicht allzu sehr verstimmt, aber die Wahrheit ist, dass Bonaparte viel zu beschäftigt ist mit seiner Krönung, als dass er eine Invasion zum gegenwärtigen Zeitpunkt ernsthaft in Betracht ziehen würde. Und wie ich gehofft hatte, hast du aber angebissen.“

Narcise versuchte, sich aus dem Griff der beiden Männer zu befreien, die sie festhielten, aber sie waren ihr an Kraft ebenbürtig. „Ich hätte es besser wissen müssen, anstatt dir zu vertrauen“, spuckte sie aus.

„Ich könnte immer noch meine Armee entsenden, wenn du dich dann besser fühlst“, fügte er hinzu. Dann, als sie ihn keiner weiteren Antwort würdigte, befahl er, „zieht sie aus.“ Seine Augen glitzerten vor Vergnügen.

Als Nächstes rissen sie ihr bereits das Kleid vom Leib. Der dünne Musselinstoff ihres Reisekleides riss nur zu leicht, und sie warfen die Fetzen zu Boden, als sie Narcise nun am Korsett packten, an den Schnüren zerrten, ihren Körper in jede nur erdenkliche Richtung zucken ließen, als sie ihr das Korsett brutal lösten. Sie stolperte und fiel hin, verdrehte sich dort, in dem Versuch, sich ihrer Hände zu erwehren, und dann, um wieder das Gleichgewicht zu erlangen. Einer der drei bekam schließlich ihre Arme zu fassen und hielt sie ihr über dem Kopf fest, so dass die anderen beiden in Ruhe, die Verschnürung lösen konnten, das Korsett wegzerrten und zuletzt Narcises dünnes Leinenunterhemd zerrissen. Von ihr runter.

Sie ließen ihr nicht einmal die Unterhose, jene leichte, luftige Hose, die sie von der Hüfte bis zu den Knien bedeckte. Der letzte, vor lüsternen Augen schützende Fetzen Stoff wurde ihr von einem der Gemachten vom Leib gerissen. Während die anderen beiden sie jeweils an einem ausgestreckten Arm fest gepackt hielten. Als sie fertig mit ihr waren, taten alle drei einen Schritt von ihr weg und ließen sie splitterfasernackt mitten im Saal stehen. Ihre Haut hatte Kratzer und Abschürfungen davongetragen, wo die Ösen ihr rauh über die Haut gefahren waren, und von den steifen Haken an ihrem Mieder zusammen mit den langen, spitzen Fingernägeln, und ihr Haar hing ihr auch wirr und schief im Nacken – und auch das bot ihr keinen Schutz vor den Blicken.

Cezar wies einen seiner Männer mit einer herrischen Geste an, ihre Kleider zu entfernen, und dann schaute er auf sie herab, mit ... ja, man konnte es eigentlich nur als ein lebhaftes, gelöstes Lächeln bezeichnen, was er da im Gesicht zur Schau trug. „Wie schön, meine Liebe. So ist es doch viel besser. Das war nicht nur das hässlichste Kleid, das ich gesehen habe – nicht einmal an dir sah es gut aus –, aber jetzt können auch alle sehen, worum Belial heute Abend kämpfen wird.“

Narcise warf ihm einen kühlen Blick zu, sie bemerkte ihre Nacktheit kaum. Denn in der Vergangenheit hatte man sie schon unzählige Male ähnlich entblößt. „Ich nehme an, es wird nichts als eine kleine Ablenkung sein. Belial hat keine Aussicht zu gewinnen, und du weißt das genauso gut wie ich. Bist du dir sicher, dass du den ergebensten unter deinen Dienern verlieren möchtest?“

Ihr Bruder schaute sie einen Moment lang an, und ihr Mut sank, als sie den gerissenen Ausdruck erkannte, der sich in seinen Augen ausbreitete. „Vielleicht hast du Recht, Narcise. Mein Zutrauen in deine Fähigkeiten ist wahrhaft groß, und, zu meinem großen Leidwesen, kann Belial dir nicht das Wasser reichen.“

Das Herz schlug ihr jetzt wieder bis zum Hals, und sie blickte – und das war ein schwerer Fehler – zu Giordan. Ihre Blicke trafen sich, und das blanke Entsetzen, das sie in seinen Augen sah, raubte ihr für einen Moment den Atem. Sein Gesicht war kalkweiß und versteinert, und für einen Augenblick dachte sie, er würde in Ohnmacht fallen.

Aber dann musste sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf Cezar lenken, der eine lange Schachtel aus Metall zu sich bringen und vor sich auf den Tisch stellen ließ. Mit einem verschlagenen Blick zu Giordan und einem gütigen Lächeln zu Narcise, sprach er, „aber du musst ja mittlerweile ganz ausgekühlt sein, Schwesterherz. Und ich habe dich noch gar nicht richtig willkommen geheißen. Hier. Zu Hause. Ich habe etwas für dich.“ Er hob langsam den Deckel hoch.

Nein.“ Giordans Stimme erklang, scharf und verzweifelt. Er schlug mit der Hand auf den Deckel der Schachtel, wodurch sich das Metall wieder scheppernd schloss. Seine Stimme war leise und zitterte, und sie konnte kaum hören, wie er sagte, „alles. Cezar. Alles, was du willst. Nur nicht das.“

Mittlerweile grauste es Narcise, und sie zitterte fast wie Espenlaub. Was war in der Schachtel? Sie blickte zu Chas, der von einem der Gemachten an der Wand festgehalten wurde, und ihre Blicke trafen sich. Aber sein Blick, anstatt außer sich vor Furcht oder Sorge zu sein, war einfach nur weit geöffnet und starrte sie unverwandt an. Als ob er versuchte, ihr etwas mitzuteilen.

Anstatt wütend auf Giordan zu sein, ob seines Gefühlsausbruches, schien Cezar nur amüsiert. „Meine Güte, Sie sind ja jetzt recht freigiebig mit Ihren Versprechungen, Monsieur Cale. Wenn Sie sich doch nur vor zehn Jahren schon so entgegenkommend gezeigt hätten. Als es wirklich eine Unterschied machte.“ Und trotz seiner kühlen Worte, blickte er mit einer solch offensichtlichen Lüsternheit zu Giordan hoch, dass sich ihr eigener Magen vor Ekel umdrehte.

Giordans Gesicht war schweißbedeckt und hart, und sie konnte schwören, dass sie seinen Herzschlag vernehmen ... oder fühlen konnte. Das Hämmern seines Herzens, als er auf ihren Bruder herabblickte. Cezar murmelte etwas, was sie nicht verstehen konnte, aber Cales Gesicht wurde fahl. Die Bisswunden auf seiner Haut stachen rotschwarz inmitten einer plötzlich aschfahlen Haut hervor, und sein Hals verkrampfte sich, als er nickte. Einmal. Kurz und knapp.

Und in dem Moment wusste Narcise, dass Chas Recht gehabt hatte. Was auch immer zwischen Cezar und Giordan vorgefallen war, es war von ihm erpresst worden. Ihr wurde schwarz vor Augen, und Trauer und Scham überkamen sie wie eine Flutwelle. Wie konnte ich nur?

„Stopp“, schrie sie. Ihre Stimme ertönte laut und klar, und lenkte die Aufmerksamkeit ihres Bruders auf sich. „Ich brauche niemanden, der meine Schlachten für mich kämpft. Lass meine Freunde gehen, Cezar, und du bekommst, was immer du willst.“

Seine Augen tanzten vor Vorfreude, und er lächelte. „Schafft den Vampyrjäger also fort. Meine Schwester hat Recht: ich habe alles, was ich will. Genau hier.“

Er hob den Deckel der Schachtel, während Giordan einen Protestlaut ausstieß, aber es war zu spät. Narcise begriff sofort, was sich in der Schachtel befand.

Federn. Viele davon.

Als Cezar in die Schachtel hineingriff, fiel Giordan über ihn her, und sie gingen zusammen zu Boden. Narcise setzte sich in Bewegung, wirbelte herum, um zu sehen, dass Chas fort war – sie hatten ihn mitgenommen – und dann wieder zum Podest, als jemand sie am Arm packte. Jemand anderes warf sich auf sie, und sie fiel zu Boden, ihre nackte Haut schürfte sich an den grob gehauenen Steine dort auf.

Als man sie wieder auf die Füße gezerrt hatte, sah sie, dass auch Giordan übermannt worden war und jetzt von dem Podest hinabbefördert wurde, auf ihre Höhe. Aufgrund seiner langsamen, ruckartigen Bewegungen konnte sie erkennen, dass er irgendwie geschwächt war, oder ihn etwas behinderte – Blutverlust oder irgendein anderer Grund.

Er schaute sie nicht an, als man ihn an ihr vorbeizerrte, aber als sie vorbeigingen, roch Narcise ihn, spürte ihn, so nah, als er da an ihr vorbeiging ... und dann sah sie Giordans Rücken.

Sie keuchte auf und starrte, und bemerkte kaum, wie Belial an sie herantrat, wo sie von zwei Männern eisern festgehalten wurde, und er ihr mit der Hand unter eine ihrer Brüste fasste.

Giordans Mal war ... weiß.

Das verknotete, wurzelähnliche Brandzeichen war nicht mehr schwarz, pulsierte und pochte nicht mehr, schwoll nicht mehr an ... es waren nicht einmal mehr schwarze Linien ... es war schlicht weiß. Nicht mehr als eine Narbe ... als wäre es weggebrannt worden.

Was hatte das zu bedeuten? Was war mit ihm geschehen?

Aber ihr blieb jetzt keine Zeit, darüber nachzudenken, denn während man Giordan an beiden Armen mit Ketten an der Wand fesselte, spürte sie, wie ihr eigener Körper langsamer und träge wurde. Wie betäubt.

Die Federn.

Narcise drehte sich um, damit sie sehen konnte, was da geschah. Und die Männer, die sie an den Armen gepackt hielten, ließen endlich von ihr ab, und dann sah sie, was Cezar aus der Schachtel hervorholte. Selbst Belial war von ihr weggetreten, als wäre er nicht in der Lage, hierbei in ihrer Nähe zu sein.

Sie konnte nicht atmen, denn sie erkannte es wieder.

Es war der Umhang ... der nur aus Federn bestand. Reihe um Reihe von leichten, weichen, braunen ... brennenden ... Federn.

Jetzt kam ihr Atem schnell und stoßweise, ganz flach vor Angst, als Cezar mit einer theatralischen Geste den Umhang weit auswarf, als wolle er Staub oder Falten ausschütteln. Wenn das da mit ihr in Berührung kam ... wenn er sie darin einwickelte ... der Raum kippte, wurde finster und verzerrt, und ihre Knie gaben fast nach.

Nein“, flüsterte sie, als ihr Bruder von dem Podest herunterkam und auf sie zuschlenderte, als wolle er ihr gerade das wertvollste aller Geschenke machen.

„Stopp!“ Die namenlose Verzweiflung in Giordans Stimme gelangte sogar durch Narcises Schmerz und Schrecken zu ihr. „Nein. Tu ... es ... nicht.“

„Bei Luzifer“, sagte Cezar, und blieb kurz stehen, sein Gesicht hart und verschlagen, als er zu Giordan blickte. „Wenn ich geahnt hätte, wie tief deine Gefühle für meine Schwester sind, Giordan, hätte ich einen Monat von dir verlangt, und nicht nur drei Nächte.“

Bitte“, hauchte er, seine Stimme ein leises, rauhes Raspeln. Seine Augen glänzten fiebrig vor Pein und Trostlosigkeit. „Was immer du willst.“

Narcise war kaum fähig zu denken. Ihre Gliedmaßen waren schwer wie Felsklötze, ihre Lungen so zusammengepresst, als würden sie von eben solchen Klötzen zermalmt. Der Schmerz wegen der Nähe der Federn kam zu dieser Lähmung noch hinzu, und sie konnte spüren, wie die Präsenz der Federn durch den Raum wehte ... aber irgendwie, durch all das hindurch, vernahm sie noch, begriff sie Giordans Worte, seine Absicht.

Es beschämte sie, machte sie demütig, und diese Schwäche war noch schlimmer, als die von den Federn.

Sie nahm jedes letzte bisschen Kraft, das sie noch hatte, zusammen und sagte seinen Namen. „Giordan.

Und wie sie dieses eine Wort sprach, legte sie all ihre Entschuldigung und ihre Scham und ihre Demut in jene zwei Silben. Alles, was sie empfand und wozu sie noch die Kraft fand.

Da sah er sie an, und sie fühlte, wie die Kraft seiner Liebe zu ihr und seine Hingabe durch den Raum zu ihr wanderten, durch diesen Schmerz und diese Unbeweglichkeit hindurch.

Und dann konnte sie nicht mehr atmen. Cezar stand direkt vor ihr, sein Gesicht eine kalte, angespannte Maske, und mit einer kleinen Drehung seines Handgelenks schwebten die Federn über ihren Schultern nieder, ein erstickendes Laken.

Narcise versuchte, ihren gemarterten Schrei zu ersticken, aber selbst Luzifers schrecklichster, brennender Zorn war nichts im Vergleich hierzu. Sie zitterte, hatte sich nicht mehr in der Gewalt, sie ging langsam in die Knie, als das sanfte Streicheln der brennenden Federn sie einhüllte, und jemand sie auf beiden Seiten packte, aufrecht hielt.

Die Schmerzen waren so furchtbar, sie konnte nicht mehr atmen oder keuchen oder fühlen ... sie stürzte in einen Strudel irrsinniger Wahrnehmungen hinein: das Weiche einer jeden Feder brannte sich in ihre Haut ein, das schwerelose Gewicht zog sie nieder.

Verschwommen merkte sie noch, dass sie gehalten wurde, und da waren Hände an ihrem Leib ... glitten über sie, griffen nach ihren Hüften, ihren Brüsten ... der Geruch von Lust und Schweiß, schwer und klebrig ... eine schattenhafte, unbestimmte Nässe, Hitze, Drängen...

Dann, halb wahnsinnig von ihrer Lähmung, merkte sie, wie man sie fortbewegte: ihre Füße schleiften auf dem Steinfußboden entlang, die Änderung ihrer Lage, als sie von der Senkrechten in die Waagrechte ging ... etwas Hartes unter ihr, was die Federn noch tiefer in ihre Haut drückte.

Sie war sich noch bewusst, dass sie laut rief, vielleicht aufschrie ... aber sie hatte kaum den Atem dazu. Ein Mund war auf ihr, Hände, ein Körper schob sich gegen ihren, erkundete, drang ein ... die Veränderung, als die Federn von einer ihre Schultern weggezogen wurden, und dann dieser Schmerz abgelöst wurde, durch die wüste Penetration von Reißzähnen.

Und dann, auf einmal, nichts.