SIEBZEHN
September 1804
Narcise starrte aus dem Fenster der Kutsche. Die wilden, zerfurchten Berggipfel von Schottland lagen schon lange hinter ihnen, und sie fuhren nun durch die lieblichen und vertrauten Hügel Englands, und jetzt, da sie und Chas sich London näherten, war das Land vor ihrem Kutschenfenster noch flacher geworden.
Die Straßen waren jetzt vollgestopft mit Leuten, und an den Seiten drängten sich die Häuser fast ebenso dicht ... und die Gerüche! Selbst wenn sie gerade nicht aus dem Fenster spähen würde, hätte Narcise gewusst, dass sie sich der Stadt näherten, denn die Luft war voll von den Aromen und Düften – angenehme und auch weniger angenehme – eine unumgängliche Begleiterscheinung von Großstädten.
Zum Schutz vor den Sonnenstrahlen, die ab und an doch noch durch die dichte Wolkendecke herunterfanden, hatte sie sich in einem Winkel zum Fenster positioniert. Von dieser Ecke aus beobachte sie die kleinen Scheibchen von Leben, die sich ihr darboten.
So viele Dinge waren seit ihrer Ankunft in London geschehen und auch seit jener verwirrenden Nacht in Dimitris Haus, sie wusste gar nicht mehr, wo ihr der Kopf stand.
Dass sie Giordan gesehen hatte, war eigentlich das Geringste davon gewesen ... oder zumindest versuchte sie sich das einzureden, wenn sie erwachte, feucht und warm – von ungebetenen Träumen.
Und fürchterlichen Alpträumen. Narcise zog sich der Magen zusammen.
Sie blickte zu Chas, dankbar für die Ablenkung. Er sah fast wie ein Engel aus ... ein seltsamer Gedanke, gewiss, bei einem Mann, dessen Leben von solcher Gewalt bestimmt war, immer jagend, immer tötend – dem die langen Locken seines dunklen Haares gerade um ein Gesicht wehten, das entspannt und gelöst aussah, im Moment. Seine Lippen waren voll und sinnlich, und seine gerade geschnittene, markante Nase stach unter Augen hervor, über die dichte Wimpern lange Schatten warfen.
Er war schon in Paris gewesen und auch wieder zurückgekehrt, seit jener Nacht, in der er sie dort in den alten Klosterruinen zurückgelassen hatte. Angelica war sicher nach London zurückgekehrt, und zur großen Überraschung aller hatte Voss Wort gehalten und ihre Rettung bewerkstelligt. Aber, weil er sie schon befreit hatte, noch bevor Chas sie beide in Paris fand, lebte Cezar weiterhin sicher in den unterirdischen Eingeweiden von Paris. Chas hatte seine Schwester sicher nach London geleitet, aber er war entschlossener denn je zuvor, einen Weg zu finden, wie man Cezar töten konnte.
Und nun war etwas Unvorstellbares geschehen.
Voss und Angelica würden sich vermählen ... und Voss war das Unmögliche geglückt: irgendwie hatte er die Fesseln des Luziferpaktes abgestreift. Er war wieder sterblich und ein Mann. Und nur wegen dieser Wandlung hatte Chas schließlich seine Zustimmung zu ihrer Hochzeit gegeben.
Jetzt rührte er sich, seine schweren Stiefel streiften den Saum ihrer Röcke, wo sie am Boden der Kutsche um ihre Füße flatterten. Seitdem all dies geschehen war, hatte Narcise den Hunger in seinen Augen gesehen, die Verzweiflung und die Hoffnung, dass – irgendwie – auch sie sich ändern könnte.
Dass auch sie ihre dem Teufel geschworene Treue ablegen und eine sterbliche Frau werden könnte, die er dann auch rückhaltlos lieben könnte.
Denn seit seiner Rückkehr aus Paris, hatte auch Chas sich verändert. Der Schmerz hatte sich tiefer in sein Gesicht eingegraben, spiegelte sich in seinen Augen, die Mundwinkel waren härter gezeichnet, und sie konnte den inneren Kampf, den er mit sich selber focht, förmlich greifen, wenn er zu ihr kam. Er liebte sie, dessen war sie sich gewiss, aber sich selber hasste er dafür. Auch jetzt noch.
Und dann war die Liebe nicht nur eine Vorstellung, die ein Leben lang halten sollte, sondern es ging dabei auch um Selbstlosigkeit ... etwas, das eine Drakule wie Narcise sich immer noch nicht voll und ganz zu eigen machen konnte. Und Chas schien dies jetzt noch mehr bewusst zu sein als früher.
Und als ob er wüsste, dass er eine Schlacht verloren hatte, aber entschlossen sei, den Krieg zu gewinnen, indem er seine Macht über sie demonstrierte, hatte Luzifer in ihrem Kopf und in ihrem Körper gewütet. Ihr Mal brannte und züngelte mit seiner Wut und seiner Herrschaft, um sie zu erinnern, dass es keinen Ausweg gab.
Zumindest nicht für sie.
Sie war nicht einmal imstande gewesen, die Kutsche zu verlassen, als sie und Chas in St. Bridie’s angelangt waren – die Klosterschule hoch droben im rauhen Schottland, wo seine jüngste Schwester Sonia lebte. Die religiösen Symbole und die Gegenwart von Heiligem waren zu viel für sie, eine Frau, die das Zeichen des Teufels trug, und sie sah sich genötigt, draußen in der Kutsche zu warten, während Chas hineinging.
Es gab auch in dem gesamten Klostergewölbe, ihrem Versteck in dem Keller, solche religiösen Markierungen, wo Chas sie zurückgelassen hatte, während er nach Paris ging. Sie bildeten eine sichere Barriere gegen jedes unsterbliche Wesen, das vielleicht zufällig den Weg hinein in diesen geheimen Unterschlupf fand.
Aber was Narcise am meisten verfolgte, was sie aus ihren Gedanken zu verbannen suchte, war die Tatsache, dass – irgendwie – Giordan sie nicht nur dort unten gefunden hatte ... aber dass er nur wenige Stunden, nachdem Chas aufgebrochen war, durch diese Barriere hindurch, in die Kammer eintrat.
Sie war ihm an der Tür entgegengetreten, den Säbel in der Hand, wobei ihr Herz wie verrückt schlug, völlig außer sich.
„Woodmore schickt mich“, hatte Giordan schlicht behauptet. „Er deutete an, hier sei etwas, was ich mir wieder holen solle. Wenn ich mich hier jetzt so umschaue, kann ich nur vermuten, er hat dich gemeint.“
„Ganz sicher nicht“, hatte Narcise erwidert, die darum kämpfte, ihren Atem ruhig zu halten. Sie hatte seine Hand mit ihrem Säbel geschnitten – oder vielmehr hatte er sich die Handfläche aufgeschlitzt, als er ihre Klinge zur Seite riss. Und sein Blutgeruch hing in der Luft. Ihre Reißzähne drohten hervorzuschnellen. Ihre Knie fühlten sich an, als würden sie gleich nachgeben. „Ich soll hier – in einem absolut sichern Versteck – bleiben, bis zu seiner Rückkehr mit Angelica.“
„Und falls er nicht zurückkommt“ Giordan war über den Steinboden zum Bett gegangen, um seine blutende Hand an einem Laken abzuwischen. Gemächlich, ... und so langsam. Als wolle er ihr reichlich Zeit gegen, seinen Duft einzuatmen ... seinen geschmeidigen Körper, die selbstsicheren Bewegungen zu beobachten. Er schien den ganzen Raum zu vereinnahmen.
„Dann werde ich zu Dimitri gehen. Er wird mich beschützen“, schaffte sie noch zu erwidern.
„Ich habe dich nie als eine Frau betrachtet, die beschützt werden muss, Narcise. Du kannst dich sehr gut um dich selbst kümmern.“
„Außer, wenn mein Bruder mich weggesperrt hat.“
Giordan sah sie an. Heute waren seine Augen kalt und von einem stumpfen Braun, eisig und ausdruckslos und furchterregend zornig. „Selbst da warst du beeindruckend“, sagte er. „Auf deine besondere Weise.“
„Ich weiß nicht, warum Chas dich hergeschickt hat, aber ich gehe hier nicht fort. Schon gar nicht mir dir. Geh einfach.“ Bitte. Geh.
„Du weißt nicht, warum er mich hergeschickt hat?“ Sein Lachen klang eher wie ein Peitschenknallen als ein glockenheller Ausdruck der Belustigung. „Ich schon. Hierher, wo ich ihn riechen kann, überall an dir. Wo ich euch beide auf dem Bett riechen kann, und an der Wand und überall. Dieser ganze Raum stinkt nach euch beiden, zusammen. Deswegen hat er mich hierher geschickt, meine Liebe.“
Wenn sie ihn verhöhnte, vielleicht ging er dann endlich. „Warum verlängerst du dann dein Martyrium, Giordan? Niemand hier zwingt dich, in der Brühe deiner eigenen Eifersucht zu köcheln.“
Und an dem Punkt hatte er sich in Bewegung gesetzt. Ehe sie sich’s versah, war er da, so nahe, vor ihr. Seine Finger packten sie am Kinn. Ihr schwindelte dabei, seinen Blutgeruch aus dieser Nähe zu riechen. Der Duft von ihm, seine Wärme, die Vertrautheit ... Sie beschwor das Bild von ihm mit Cezar zusammen herauf, die zwei nackten Schultern, eine golden und muskulös, die andere dunkel und knochig, der Widerschein des Feuers überall auf ihrer Haut, züngelnd, heiß, intim.
Übelkeit verdrehte ihr den Magen, und ihre anfängliche Empfänglichkeit für seinen Körper wurde wieder zu Ekel.
„Eifersucht? Du glaubst, es ist das, was ich empfinde? Du bist eine Närrin, Narcise.“ Er hatte seine Finger jetzt um ihren Kiefer gelegt, auch nicht gerade sanft. „Wenn ich dich immer noch haben wollte, würde mich ein verdammter Vampirjäger verflucht noch mal nicht abhalten.“
Und dann hatte er sie geküsst.
Nicht wüst, nicht, wie sie erwartet hatte, wegen seiner rot glühenden Augen und seiner Zähne, so lang und scharf ... sondern so zärtlich und sanft. Als ob er sich die Zeit nehmen würde, es zu genießen. Sachte, sachte, über ihre Lippen...
Und bei Luzifers schwarzer Seele, sie hatte seinen Kuss erwidert. Sie hatte sich in diesen Moment der Lust und der Begierde hineinfallen lassen, die Erinnerung an die Schönheit des Vergangenen kamen wieder, übermächtig–
Und dann hatte Giordan sie von sich geschleudert, seine Augen heiß und siegesgewiss, Arroganz sprach aus jeder seiner Bewegungen. Und Ekel, auch das.
„Wir sind gleich da.“
Die Stimme von Chas, noch etwas belegt vom Schlaf, und so unvermittelt in dieser Stille, rissen Narcise aus ihren Grübeleien. Ihre Wangen wurden urplötzlich schamrot, ihr Herz hämmerte, als hätte man sie gerade bei etwas Unerlaubtem erwischt, obwohl sie gerade eine neue Welle von Hass auf Giordan über sich hinwegrollen spürte, auf ihn und seine Spielchen ... und das Zwacken an ihrem Mal rief ihr wieder ins Gedächtnis zurück, wer sie war.
„Beim Rubey’s“, fügte Chas noch hinzu, als würde er auf ihren überraschten Blick reagieren. „Sie wird uns verköstigen, und wir können uns dort ein wenig ausruhen. Ich kann auch ihre Boten benutzten, um Dimitri und Voss Nachricht von unserer Rückkehr zukommen zu lassen.“ Seine Stimme wurde etwas unwirsch, als er seinen zukünftigen Schwager erwähnte.
„Ich dachte, das Rubey’s sei ein Freudenhaus“, erwiderte Narcise mit einem spitzbübischen Blick, und zwang sich im Hier und Jetzt zu bleiben.
Chas’ Mundwinkel zuckten reizvoll. „Das ist es auch, aber es ist noch viel mehr. Die Drakule nutzen es auch als einen Ort, um sich zu treffen und auszutauschen. Sie beherbergt einen ganzen Taubenschlag voll von Bluttauben dort ... und manchmal ist das Rubey’s dem White’s Klub vorzuziehen. Es ist einfach gemütlicher und, wie Dimitri sagen würde, trifft man dort auf keine Sterblichen, die irgendwelche absurden Wetten in ihr verdammtes Wettbuch eintragen lassen. Und wie ich bereits sagte ... sie wird uns verköstigen. Oder zumindest – mich“, fügte er rasch hinzu.
„Hast du Giordan zu mir geschickt? Bevor du nach Paris aufgebrochen bist?“, fragte Narcise.
Aller Leichtsinn verschwand aus seinem Gesicht, und er setzte sich kerzengerade auf. Sein vorsichtiger Gesichtsausdruck gab nichts preis. „Ich weiß nicht genau, was zwischen Euch beiden vorgefallen ist“, sprach er, „aber es ist offensichtlich für mich, das – was auch immer es war – hat es für dich unmöglich gemacht, jemandem zu vertrauen oder jemanden wahrhaft zu lieben.“
Es war nicht ganz ein Geständnis, aber nahe dran.
Ein Stachel verhakte sich tief in Narcise, und ihr Mal schmerzte zustimmend etwas weniger. „Was zwischen Giordan und mir vorgefallen ist, hat nichts mit dem zu tun, was ich für dich empfinde“, entgegnete sie scharf. „Ich habe dich gern, sehr sogar ... ich begehre dich und ich bin gerne in deiner Gesellschaft. Aber wie du dir sehr wohl bewusst bist, Chas: Ich bin eine Drakule. Ich bin eine selbstsüchtige, nur auf den eigenen Vorteil bedachte, verdammte Seele – und ich bin unsterblich. Jemand anderen als mich selbst zu lieben, widerspricht meinem Naturell ... dem Naturell der Drakule. Luzifer zwingt uns, so zu sein.“
Sein Gesicht verfinsterte sich, und sie sah dort, verletzte Gefühle und auch Wut in seinen Augen. „Du hast die Wahl getroffen.“ Er sprach kaum laut genug, um über dem Geräusch der dahinrollenden Kutsche noch gehört zu werden. „So zu werden.“
Der Schmerz schnitt wie ein Messer durch sie – und diesmal rührte er nicht von ihrem Mal her; das Mal war seltsam still. Eine Wahl? Der Gedanke war lächerlich. Wie konnte jemand denn eine klare Entscheidung treffen, wenn er in seinen Träumen ausgetrickst und hinters Licht geführt wurde, und das von dem gerissensten aller Dämonen?
In ihrem Fall war es eine Wahl gewesen, entweder ewig zu leben – jung und unsterblich und als eine große Schönheit – oder eine Schönheit mit einem entstellten Gesicht zu werden, mit einer verbrannten Wange. Das Resultat wäre grauenvoll gewesen: vernarbtes, verschrammtes Fleisch, wo ihre Haut einmal makellos glatt gewesen war.
In ihren Träumen hatte Luzifer ihr überaus hilfreich gezeigt, wie sie aussehen würde, wenn ihre Verbrennung auf dem sterblichen Weg verheilt wäre ... und hatte ihr einen Ausweg angeboten. Für ein zwanzigjähriges Mädchen, deren Eitelkeit schier grenzenlos war, gab es eigentlich keine Wahl. Sie hatte auch nicht recht begriffen, auf was für einen Handel sie sich da einließ.
Und ... so hatte sie erst später dann begriffen: es war Cezar gewesen, der den Unfall arrangiert hatte, bei dem heißes Öl sich über sie ergoss. Es war aus einer Lampe gekommen, die hoch oben in einem Treppenhaus hing, das sie oft benutzte. Ihr Bruder wollte sein unsterbliches Leben nicht ohne Narcise verbringen ... sondern mit ihr.
Obwohl er sie immer beherrschen wollte und sie nur missbrauchte, betete er sie an.
„Hast du es jemals bedauert? Hast du es nie rückgängig machen wollen?“, setzte Chas noch einmal an und zog sie damit wieder aus ihren schrecklichen Erinnerungen hervor.
Sie unterdrückte ein angewidertes Schnauben. „Glaubst du denn, dass ich in Luzifers Schuld stehen möchte? Dass ich verdammt sein möchte?“ Sie schüttelte den Kopf, alles in ihr war plötzlich wüst und leer. Ein kalter Klumpen lag ihr schwer im Magen. „Nur weil Voss behauptet, ihm sei ein Wunder widerfahren, heißt das noch lange nicht, dass es auch mir passieren wird. Versucht Dimitri denn nicht schon seit über hundert Jahren seine Bande zu Luzifer zu kappen?“
Ihr Mal pochte nun wieder, und sie konnte fühlen, wie die wurzelähnlichen Linien durch ihre Haut wüteten, wie kleine Feuer glühender Lava. Sie atmete tief ein und versuchte den Schmerz zu bannen.
Chas sank wieder auf seinem Platz zusammen, sein Gesicht jetzt müde und trübe: ein weiteres, stillschweigendes Eingeständnis. „Ja. Es scheint keinen Weg zu geben.“ Seine Stimme war bitter und leise. Seine Augen waren geschlossen, und er badete dort in seiner Ecke der Kutsche in einem grauen Licht.
„Chas“, begann sie, und dann verstummte sie wieder. Was konnte sie noch hinzufügen, was zum Trost sagen? Das Herz wurde ihr schwer, eine Art weiches Gefühl, in dem keine Begierde oder Lust lag, und ihr Teufelsmal brannte auf einmal so heftig, dass sie ein Keuchen unterdrücken musste. Luzifer hatte keine Geduld, was Mitgefühl anbetraf.
Schweigend saßen sie da, in der schaukelnden Kutsche, der wolkenverhangene Tag angefüllt mit Klängen von Stadtleben: Rufe, Schreie, Bellen, Poltern, Krachen und Rattern. Den Gerüchen von frischgebackenem Brot, von Kohlerauch, von nassen Tieren und von gebratenem Fleisch, von Schlacke und verrottendem Abfall.
Chas blickte sie auf einmal an, von dort, wo er in seiner Ecke brütete. Seine Augen leuchteten in dem Halbdunkel des Kutscheninneren, und sie waren genau auf sie gerichtet, durchdringend und angespannt. „Du sagst, du hast von niemandem gehört, dem Luzifer erschienen sei und der dennoch den Handel mit dem Teufel ausgeschlagen hätte. Das entspricht nicht ganz der Wahrheit. Du kennst jemanden, der das fertiggebracht hat.“
Irgendwie, irgendwie schaffte Narcise es, nicht auf die erneute Welle von Schmerz zu reagieren, welche ihr das Mal auf ihrer Schulter hier durch den Leib jagte. Plötzlich hatte sie nur noch Angst, dass sie seine Worte richtig verstand.
„Mich.“
*
Sie kamen beim Rubey’s am Nachmittag eines verregneten, nebeligen Londoner Tages an.
Narcise war immer noch fassungslos und schwieg nach Chas’ Geständnis, und er, für seinen Teil, hatte keine Einzelheiten preisgegeben. Als sie in ihn drang, hatte er nur mit dem Kopf geschüttelt, seine Augen geschlossen und erwidert, „das habe ich bislang keiner Menschenseele erzählt. Und es gibt gute Gründe, warum ich darüber nicht reden will.“
Aber jetzt verstand sie zumindest seinen fortwährenden, meist unverhohlenen Ekel gegenüber ihrer Rasse – gegenüber denjenigen, welche eine aus seiner Sicht falsche Entscheidung getroffen hatten.
Wie passend, auf eine schreckliche, ironische Weise, dass er nun der Richter, die Jury und der Henker für eben diese Leute sein sollte. Denn er selbst hätte einer von ihnen sein können.
Drinnen im Rubey’s angelangt wurde Narcise umgehend in ein heißes Bad verschleppt – etwas, was nach den Angaben der Magd wohl etwas war, was ihre Gastgeberin selber sehr genoss. Und Chas verschwand in die entgegengesetzte Richtung, vermutlich, um etwas zu essen und sich nach der anstrengenden Reise zu waschen.
Als sie sich in dem großen Becken voll dampfenden Wassers zurücklehnte, bot man Narcise einen Schluck von einer dunkelroten Erfrischung an, wo sie unter drei kleinen Karaffen auswählen konnte. Die Tasse war nicht größer als ein Sherryglas, geformt wie ein Flöte mit Verzierungen in der Form von Tulpenblättern am Rand, und kaum höher als ihr kleiner Finger.
Narcise roch an den drei Optionen und entschied sich dann für die leichteste unter ihnen. Sie hatte schon daran genippt, als ihr erst aufging, dass dem Getränk ein Zusatz beigemengt war... „Was ist hier drin? Eine Art von Elixier?“, fragte sie die Magd, die soeben begonnen hatte, ihr die Haare zu waschen.
„Der ganze besondere Tropfen von Madame Rubey“, kam eine ausweichende Antwort. „Sie hat ’n paar solcher Mischung’n für feine Herrschaften, wie Sie. Ein biss’ken was für’s Ausruh’n, biss’ken was für’s wach wer’n, biss’ken was für’s ... na, Se wiss’n schon.“
Narcise blinzelte. Ihr Englisch war immer noch besser als ihr Französisch, aber diese junge Frau mit dem runden Gesicht sprach ein solches Kauderwelsch, dass Narcise sich ganz und gar nicht sicher war, was man ihr gerade erzählt hatte. Aber sie lehnte sich einfach wieder in dem heißen, parfümierten Badewasser zurück und nippte, während ihr Haar gründlich gewaschen und ihr Kopf massiert wurde.
Eine Weile später war das Wasser abgekühlt, und auch die Magd war erst einmal verschwunden. Narcise setzte sich in einen Lehnstuhl vor dem Kamin, kuschelig eingepackt in einen Quilt-Überwurf, während ihr nasses Haar vom Feuer getrocknet wurde. Unten von der Straße her drangen die Geräusche städtischen Lebens durch die Fenster mit den halb vorgezogenen Läden zu ihr hoch.
Die Sonne war jetzt fast schon verschwunden, und Narcise dachte bei sich, dass es junge Damen wie Angelica und Maia Woodmore gab, die sich jetzt anschickten, Einladungen wahrzunehmen oder ins Theater zu gehen oder einen Tanzabend zu besuchen ... und Männer, die sich in den Klub begaben oder ihre Frauen zu Abendgesellschaften begleiteten. Es wurde der Hof gemacht und Romanzen wurden geknüpft: vielleicht auch erotische Zwischenspiele in dunklen Ecken, Klatsch und Gerüchte, Kichern und Gewisper...
Und die Kaufleute schlossen ihre Läden ab, und die Geschäftsmänner ihre Büros, und Mütter schickten ihre Kinder zu Bett, mit oder ohne Gouvernante – je nachdem, in welchem Stadtteil sie wohnten – und die Lords verließen Westminster nach einem Tag heftiger Debatten und ermüdender Diskussionen.
Leben.
Narcise atmete die frische Luft tief ein, die jetzt mit zunehmender Dunkelheit rasch abkühlte. Auch wenn es erst Ende September war, so war die Luft doch feucht, und Kälte kroch einem in die Glieder, all das erinnerte sie an die Zeit, als sie ein junges Mädchen in Rumänien gewesen war. Mit zwei älteren Brüdern, von denen der eine mit der Tochter des Woiwoden verheiratet war und damit auch zu Cezars Angelpunkt wurde, der Cezar dann letztendlich auf dem Thron brachte. Man hatte Narcise verhätschelt und verwöhnt, und sie wurde von Familie und Nachbarn gleichermaßen angebetet.
Sie hatte geglaubt, eines Tages auch zu heiraten, und der junge, virile Rivrik war ihr erster richtiger Liebhaber geworden. Sie hätte ihn wahrscheinlich geheiratet, wenn die Dinge so geblieben wären, wie sie waren ... wenn Cezar nicht Luzifer zu seinem Retter gemacht und ihr Leben manipuliert hätte, so dass sie jetzt schließlich hier, an diesem Punkt angelangt war.
Sie schloss die Augen und dachte daran, wie es früher gewesen war, was ihre Träume von damals gewesen waren ... und was jetzt aus ihr werden sollte.
Es würde keine Hochzeit geben, und sie würde keine Kinder gebären, wovon sie als Mädchen immer geträumt hatte. Keine Familie, kein Haushalt, den sie führen musste. Keine Freundinnen, mit denen sie tratschen konnte.
In der Jahren ihrer Gefangenschaft bei ihrem Bruder, war ihr einziges Ziel die Freiheit gewesen – sie hatte nie darüber nachgedacht, wie ihr Leben aussehen sollte, wenn sie einmal ihre Unabhängigkeit erlangt hatte.
Aber jetzt, da sie ihre Freiheit erlangt hatte, jetzt, da sie kein Ziel mehr hatte, das sie anstreben konnte, von dem sie träumen konnte ... was hatte sie denn?
Wer sollte sie nun sein? Was würde sie tun, Tag für Tag? Wie würde sie dieses unsterbliche, endlose Leben verbringen, das an einem fernen Tag, am Tag des Gerichts, mit ihr und Luzifer auf ewig vereint, in der Hölle enden würde?
Es war nicht das erste Mal, dass ihr derlei Gedanken in den Sinn kamen, aber diesmal war sie außerstande, sie zu ignorieren, sie hatten sich in ihrem Kopf festgesetzt, festgebissen und ließen sich nicht mehr verscheuchen.
Es lag schon über hundert Jahre zurück, dass sie eine Wahl gehabt hatte – was sie anziehen sollte, was sie tun konnte, wohin sie gehen wollte und mit wem. Aber jetzt, das sie die Wahl hatte ... was jetzt?
Vor ihr lagen Jahrhunderte um Jahrhunderte um Jahrhunderte, die sich vor ihrem inneren Auge endlos ausdehnten... Die Decke war zu warm geworden, erstickte sie, so wie auch ihre Gedanken sie erstickten, und Narcise warf sie von sich. Sie stand auf und ging unruhig im Zimmer auf und ab, nur in ein geborgtes, dünnes Untergewand gekleidet, und die Nässe aus ihrem feuchten Haar kroch ihr durch den Stoff an ihrem Rücken und an den Schultern.
Seit sie aus Paris geflohen war, hatte sie sich entweder versteckt oder war unterwegs oder wartete auf jemanden, der ihr sagte, was sie tun sollte – und nichts davon fühlte sich sonderlich angenehm oder erfüllend an.
Es war nicht etwas, was sie für den Rest ihres Lebens zu tun beabsichtigte.
Und das änderte sich jetzt. Gleich.
Plötzlich berauscht von ihrem Beschluss, klingelte sie nach der Zofe. Zumindest könnte sie dieses Zimmer hier verlassen und Chas unten bei ihrer irisch eingefärbten Gastgeberin treffen.
Rubey hatte sie herzlich willkommen geheißen, obschon Narcise einen mehr als flüchtigen Blick auf sich ruhen spürte, als Rubey sie aufmerksam anschaute. Die Inhaberin des Hauses, eben Rubey, war passenderweise (und vielleicht auf nicht ganz natürliche Weise) ein Rotschopf mit einer prachtvoll glänzenden Mähne aus Locken: Das Haar war rotblond und zu einer höchst modischen Frisur drapiert, mit kleinen Löckchen, die ihr um die Wangen spielten, und mit glitzernden Kämmen, die alles festgesteckt hielten. Gekleidet war sie ebenso modisch und trug nur sehr gut geschneiderte Teile: Rubeys Kleid aus einer Seide von strahlendem Himmelblau gab Narcise in ihrem Tageskleid aus Musselin das Gefühl, wenig mehr als abgelegte Kleider der Dienerschaft zu tragen. Das war auch teilweise der Grund, warum sie einem Bad sofort zugestimmt hatte, bevor man sich wieder zu einem Gespräch zusammensetzte.
Die Frau ihr gegenüber war jünger und attraktiver, als Narcise erwartet hatte; denn das Etablissement war schon seit mehreren Jahrzehnten ein beliebter Versammlungsort unter den Drakule. Sie hatte jemand deutlich älteres erwartet als Rubey, die wohl gerade mal vier Dekaden für sich in Anspruch nehmen konnte – und noch dazu vier sehr gut erhaltene Dekaden, diese Rubey.
Die Zofe war genauso tüchtig und umtriebig wie ihre Herrin, und als Narcise in ein deutlich saubereres, weicheres Kleid gewandet war, das ihr auch deutlich besser zu Gesicht stand, verließ sie auch schon das Zimmer und schlüpfte hinaus, ohne die Zofe zu fragen, wohin sie am besten gehen sollte.
Rubey war offensichtlich eine recht erfolgreiche Inhaberin, wenn man sich das Dekor und die luxuriöse Ausstattung und Einrichtung ihres Hauses betrachtete. Aber Narcise vergeudete wenig Zeit damit, die reich verzierten Spiegel und eleganten Möbelstücke zu betrachten, obwohl sie vor einigen der Gemälde kurz verweilte. Da war ein Vermeer! Und ein van Honthorst, bei dem sie lächeln musste, denn er passte hervorragend in ein Freudenhaus: eine junge Frau spielte da Flöte, und das hatte, ganz eindeutig, eine sexuelle Doppelbedeutung.
Aber selbst die meisterliche Kunst der holländischen Maler reichte nicht aus, um ihr den Wunsch nach Bewegung auszutreiben. Auf einmal wollte sie nichts lieber, als alleine zu sein, fernab von allen Leuten hier in diesem Haus.
Sie wollte draußen sein, unter dem Nachthimmel, alleine ... zum ersten Mal seit über einem Jahrhundert.
Sie hatte genug davon, irgendwo in einem Versteck zusammengekauert auszuharren.
Narcises ausgeprägtes Gehör und ihr ebenso hervorragender Geruchssinn ermöglichten es ihr, verschiedenen Dienern sowie anderen Hausbewohnern des Bordells erfolgreich aus dem Weg zu gehen, darunter auch Chas, dessen Stimme von hinter einer Tür im ersten Stock zu ihr driftete. Die leisen, melodiösen Antworten kamen wohl von der irischen Inhaberin, und Narcise verharrte dort nicht lange genug, um das Thema ihres Gesprächs zu erhaschen.
Sie fand den Weg zu einem Seitenausgang und schlüpfte hinaus.
Ihr Haar war immer noch feucht, aber trotz der leichten Brise, die in der Luft lag, war es Narcise nicht kalt. Sie war frei!
Diese kleine Gasse lag still und dämmrig vor ihr, aber jenseits der Gasse vernahm Narcise die Geräusche vom Rest der Welt. Als sie sich auf das Ende des schmalen Durchgangs zubewegte, zwischen dicht aneinander stehenden Häusern, spürte sie, wie die Luft um sie herum sich veränderte. Das sanfte Streicheln der Brise trug ihr auch den Duft von etwas Vertrautem und Angenehmen zu ... feuchte Wolle und Zeder. Es erinnerte sie an Giordan, und sie hielt inne, eine Hand an eine von Efeu überwucherte Ziegelwand gelehnt.
Das Herz schlug ihr im Hals, und sie lauschte, hob ihre Nase, um besser an der Luft reichen zu können ... aber das Aroma war so schnell entschwunden, wie es gekommen war, und sie hörte nichts. Eine eingebildete Erinnerung, ein Hirngespinst, vielleicht, oder ein anderer Mann, der auch Wolle trug, und den Geruch von Zeder.
Als sie sich schließlich rasch weiterbewegte, fiel aus dem Efeu ein kleiner Schauer von Tropfen auf ihre Schulter und ihren Kopf herab, und sie trat auf die Straße.
Von vorne erhob sich Rubeys Etablissement, so hoch und so unnahbar wie die Residenz eines Duc in Paris, mit vielen Fenstern und einem respekteinflößenden Eingang. Narcise hatte erfahren, dass die Inhaberin selbst in einem kleineren Haus in der Nähe wohnte, und sie wunderte sich über eine Frau, die es sich leisten konnte, gleich zwei solcher Häuser zu unterhalten.
Dann lief sie rasch an dem Freudenhaus vorbei, ohne ein bestimmtes Ziel im Sinn zu haben, und war sich aber durchaus bewusst, dass sie noch niemals in einer Stadt mutterseelenallein spazieren gegangen war. Und dass sie hierfür auch niemandem Rede und Antwort stehen musste.
Eine freudige Erregung trieb sie an, und sie trank die Nachtluft in vollen Zügen und wurde sich allmählich ihrer Umgebung immer mehr bewusst, es fiel ihr kaum auf, dass sie die einzige Fußgängerin war, die nicht einen Umhang oder eine andere Überkleidung für den Abend trug. Kutschen rollten an ihr vorüber, Pärchen flanierten vereinzelt oder in Grüppchen, Hunde lungerten am Eingang der Gassen herum und leuchtende Katzenaugen erschienen im Dunkel der länger werdenden Schatten.
Narcise lief und lief, durch die wohlhabenden Wohngebiete, wo sich das Rubey’s befand und, nach vielen Abzweigungen und nachdem sie zwei kleine Plätze überquert hatte, kam sie auf eine Straße voller Geschäfte, die jetzt aber für die Nacht geschlossen waren. Sie kam an einem Theater oder einem Haus vorbei, das eine ähnliche Form der Zerstreuung versprach, bemerkte, dass hier viele Kutschen auf Kundschaft oder Herrschaft warteten, und die Nachtwächter, die gemächlich ihre Runden drehten.
„Ja was, wenn das nix für Vatters Sohn is.“
Narcise blieb stehen, als ein großer Klotz von einem Mann aus der Dunkelheit zwischen zwei Gebäuden hervortrat, um ihr den Weg abzuschneiden. Sie stellte reichlich spät fest, dass sie in eine Durchgangsstraße eingebogen war, die menschenleer war, bis auf eine weit entfernte Gestalt am Ende der Straße, die aber gerade um die Ecke in eine andere Straße bog. Es war eine schmale Straße, mit einem Abwasserkanal auf einer Seite, und auf der anderen Seite befand sich eine Häuserzeile, darunter auch Läden mit verriegelten Fenstern – entweder standen sie leer, oder es lagen schlummernde Bewohner darin.
Etwas bewegte sich hinter ihr, und aus dem Augenwinkel sah sie zwei weitere Schatten, die hinter ihr in dem unsteten Mondlicht in die Gasse glitten.
Ihre Verunsicherung kam und verflog auch schnell, wie ein Schluckauf. Nicht nur weil es sich hier lediglich um sterbliche Männer handelte, sondern auch weil sie keine Gefangene mehr war und auch nicht von einer Halskette aus Spatzenfedern geschwächt wurde.
„Ich sach’s doch, Griff, der Abend iss uns hold, hier’n der Gejend“, sagte einer der anderen beiden, jetzt näher bei ihr. Seine Begleiter lachten zustimmend.
Sie kamen näher, brachten ihre Gerüche von Triebhaftigkeit und Geilheit mit sich, als der erste dann lächelte und genüsslich die Hand nach ihr ausstreckte. „Ah. Unn’ se sieht och noch jut aus, ne wahr?“
Sie lächelte ihn an. Gestattete ihren Augen, dabei kurz zu erglühen, nur ein klitzekleines bisschen Rot. „Fass mich nicht an“, sagte sie gelassen – und war entzückt, als der Esel ihr nicht Folge leistete.
Stattdessen lachte er nur und zerrte sie näher an sich, so dass sie gegen seinen Oberkörper prallte. Er stank nach Schweiß und Rauch und altem Bier, und trotz ihrer Körpergröße war er noch größer als sie. „Nich’ von hier, hör dir mal an, wie die redet, hm“, sagte er. „Nun, wir wer’n der Lady wohl’n bisschen zeigen, wie man hier Spaß hab’n kann, hier im juten, alten London, wat Jungs?“
Die anderen beiden waren jetzt direkt hinter Narcise und schnitten ihr jeden Fluchtweg ab, den sie vielleicht einschlagen könnte, und einer von ihnen ließ seine Hand an ihrem Rücken herabgleiten und über ihren Hintern und befingerte sie dann geil am unteren Ende ihrer Pospalte. Narcises instinktiver Anflug von Furcht, der sie bei intimen Berührungen immer sofort überkam, verlosch augenblicklich, und sie schritt zur Tat. Mit einer geschmeidigen Bewegung schleuderte sie die Hand des großen Mannes weg und wirbelte herum, um dem anderen gegenüberzutreten, der sie begrabscht hatte.
Sie packte ihn an einem Wollmantel, der schon ganz verkrustet war vor Flecken, und nach Rauch und Kotze stank. Narcise hob ihn hoch und warf ihn durch die Luft beiseite. Er wirbelte hilflos mit den Armen, als er rückwärts gegen die geschlossenen Fensterläden an einem Wohnhaus krachte.
„Ey!“, schrie der große Mann, als hätte ihn ihre Reaktion beleidigt und in seiner Ehre gekränkt. „Wat zum Deibel denkste denn, wat du da tust, du feene Dame?“ Er sprang auf Narcise zu und wollte sie packen, aber sie duckte sich, entwich ihm spielerisch und packte ihn aber dann, indem sie sein Gewicht und seinen Schwung gegen ihn einsetzte.
„Ich hatte dir gesagt, du sollst mich nicht anfassen“, erinnerte sie ihn, als sie ihn ohne viel Federlesen gegen den dritten Mann schleuderte. Sie fielen zusammen aufeinander wie ein Haufen Felsklötze, und sie stand über ihnen, schaute auf sie herab, während sie wütend wieder auf die Beine strampelten. Ihr Puls war jetzt angestachelt, und sie fühlte unbändige Energie in sich. Selbst ihr Mal schien ihr gerade eine Ruhepause zu gönnen, die erste seit Tagen.
„Du dreckige Schlampe“, knurrte der große Einfaltspinsel, und in seine Flüche stimmte jetzt auch noch der ein, denn sie gerade eben gegen die Wand geschleudert hatte. Alle drei warfen sich, wie Feiglinge es oft zu tun pflegen, ermunternde Sprüche zu, während sie wutentbrannt auf Narcise zugingen.
Narcise wich nicht zurück. Um die Wahrheit zu sagen: sie fand das recht unterhaltend, während sie sich gegen ihre Angreifer zur Wehr setzte. Trotz ihrer engen, hinderlichen Kleidung – ein Korsett, dünne Schühchen und bodenlange Röcke – und dem locker geflochtenen Zopf an ihrem Rücken, der ihr bei jeder Bewegung wie eine Peitsche um die Schultern flog, war sie schnell und geschickt. Es war Zeugnis der Dämlichkeit von diesem Trio, dass sie ganze drei Runden brauchten, um zu begreifen, dass Narcise weder mit ihnen mitkommen noch eine Berührung ihrer Person zulassen würde. Sie musste nicht einmal ihre langen Zähne zeigen, um sie loszuwerden – es war lediglich eine Frage von Geschwindigkeit und Stärke, und von beidem hatte sie im Vergleich zu den drei Hanseln hier vor ihr im Übermaß.
Als sie dann zu guter Letzt in einem reglosen Haufen am Boden lagen, mit blutenden Nasen – der Geruch war nicht die kleinste Verlockung für Narcise – und zerschrammten Lippen, vielleicht auch noch ein gebrochener Arm oder ein blaues Auge, baute sie sich drohend vor ihnen auf. „Belästigt nie wieder eine Frau. Beim nächsten Mal, töte ich euch.“
Der größte von ihnen winselte, als sie endlich ihre langen Zähne sehen ließ und auf ihn niederstürzte, ihre Augen glühten hell und rot, als sie ihn an seinem Hemd hochzerrte. „Hast du das verstanden?“, hakte sie nach, wobei sie aber durch den Mund atmen musste, um seinen fauligen Geruch nicht riechen zu müssen, dem jetzt auch noch der klamme Duft von Angst beigemischt war.
„Ja-a-wohl“, schaffte er noch zu sagen und schloss die Augen und drehte sich weg, als würde er erwarten, dass sie ihm ein großes Stück Fleisch aus der Schulter riss.
„Gut“, hauchte sie zärtlich und leckte sich die Lippen wie in Vorfreude. „Denn ich werde dich beobachten ... und das nächste Mal, wenn du eine Frau auch nur ansiehst, werde ich dich finden. Und ich werde hungrig kommen.“ Sie zeigte ihm ihre Zähne. Lang und bösartig.
Dann nahm sie den Geruch von frischem Urin wahr und schob ihn gegen die halbhohe Mauer, die am Abwasserkanal entlanglief, sie war sich sicher, dass er restlos eingeschüchtert und gehörig verschreckt worden war. „Verschwindet jetzt, allesamt“, befahl sie, während sie so in der dunklen Straße dastand, so stark, wie sie sich noch nie zuvor gefühlt hatte – so mächtig, sich ihrer so sicher.
Und als ihre Möchtegernangreifer husch husch in die Nacht verschwunden waren, wie aufgescheuchte Käfer, fühlte sie, wie eine Blase Gelächter in ihr emporstieg, aus ihr, innen drin. Freudig und warm, schwoll diese Verzückung in ihr an, als sie begriff, wer sie wirklich war.
Und wozu sie fähig war. Und–
„Welch eine Überraschung, ich habe dich, glaube ich, noch nie zuvor lachen gehört.“
Narcise Magen schien plötzlich in Talfahrt auf dem Boden aufzuschlagen. Sie unterdrückte ihr Lachen, wirbelte herum, ihre Eingeweide verdrehten sich gerade alle nach außen und verkehrt herum, ihre Gedanken verpufften. „Was tust du denn hier?“, presste sie sich noch heraus, während sie gleichzeitig versuchte, ihr Herz wieder hinunterzuschlucken und fühlte, wie ihre Wangen feuerrot brannten.
Giordan schlenderte mit einstudierter Gelassenheit auf sie zu. Der Mond schmeichelte ihm, indem er silbriges Licht über die dichten, dunklen Locken auf seinem Kopf und über die breiten Schultern in einem perfekt sitzenden, dunklen Mantel goss. Der Mantel stand offen und ließ eine Weste mit Silberknöpfen sehen sowie ein blütenweißes, frisch gestärktes Hemd, das in diesem schummrigen Licht geradezu leuchtete. Seine Stiefel machten kein Geräusch, und seine dunklen, funkelnden Augen waren mit einer unangenehmen Intensität auf Narcise gerichtet. Die Ironie in seiner Bemerkung war beißend.
„Ich folge dir schon, seitdem du das Rubey’s verlassen hast“, sagte er. „Zuerst dachte ich, du wolltest an einen bestimmten Ort ... aber dann ging mir auf, dass du einfach nur gelaufen bist.“
Also hatte sie ihn doch gerochen, und weil Giordan eben der gerissene, intrigante Mann war, der er war, hatte er sich wahrscheinlich immer windabwärts von ihr fortbewegt, als er ihr durch die Straßen folgte. Bastard.
Ihre Blicke trafen sich, und Narcise merkte, wie sie sich nicht losreißen konnte. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, und sie versuchte, tief in sich drin ihre Wut und ihren Ekel wieder auszugraben ... alles was sie für diesen Mann empfand ... der sie restlos zerstört hatte.
Der Mann, der sie gerade anschaute, als hätte er sie nie zuvor gesehen.
„Ich dachte–“ Sie unterbrach sich. Es gab nichts mehr, was sie ihm sagen wollte. Gar nichts.
„Wenn ich nicht solches Mitgefühl dabei empfunden hätte, wie du diesen armen Kerlen das Fell über die Ohren gezogen hast, hätte ich das ganze Spektakel mehr als belustigend gefunden“, sprach er und wies in die Richtung, in die dieses feige Ungeziefer entschwunden war. „Hast du deswegen so gelacht?“ Sein Tonfall war jetzt ein wenig weicher geworden, vielleicht.
Sie richtete sich auf, immer noch auf der Suche nach jenem Gefühl von niederträchtigem, abgefeimten Verrat, und erwiderte, „nein.“ Ihre Hände zitterten und ihre Eingeweide taten gerade Dinge, unangenehme und angenehme Dinge. Gleichzeitig.
Mochte er auch schön wie die Sünde selbst sein, vertraut und betörend duften ... sie konnte nichts mehr für ihn empfinden. Nichts außer diesem alten Hass und ihrer Abscheu. Sie fächelte diesem Feuer auch Luft zu, so dass es stärker in ihr brannte, ihr einen Schutzwall bot, hinter dem sie sich verstecken konnte.
Sie redete sich selbst ein, dass sie ihm nichts mehr zu sagen hatte, dass sie nicht einmal Begehren verspürte, in seiner Nähe zu sein, und doch bewegten sich ihre Lippen und heraus kamen Worte, bevor Narcise es verhindern konnte. „Warum folgst du mir? Du glaubst doch sicherlich nicht, dass ich beschützt werden muss.“
„Gehst du nach Paris?“, fragte er, während er näher trat und sie mit seinen Augen festnagelte.
„Bist du von Sinnen? Dorthin zurückkehren? Niemals.“
Er nickte kurz. „Ich dachte mir schon, dass du nicht so töricht wärst.“
Giordan war jetzt sehr nahe, und er stand jetzt so, dass ihr sein Geruch mit jedem Atemzug bewusst wurde, stärker sogar als der Geruch des Abwasserkanals neben ihnen, und sein Geruch vereinnahmte sie, erstritt sich ihr gesamtes Bewusstsein. Ihr Magen flatterte wild, und Narcise fühlte Hitze und Begierde in sich aufsteigen. Sie schluckte mehrmals, zwang sich dazu, einen Schritt zurückzutreten, von ihm weg ... aber ihre Beine gehorchten ihr nicht mehr.
Seine Augen fanden sie, hielten ihren Blick fest, und ihr Herz hämmerte wild, als er näher kam. Sie tat dann einen Schritt zurück, und er lächelte wissend.
„Wovor hast du Angst, Narcise?“, fragte er sie spöttisch, sein Blick schmolz jetzt zu etwas Warmem und Heißem.
Sie musste sich nur umdrehen und von ihm weggehen. Da war noch etwas, was sie brauchte oder ihm sagen wollte. Aber sie wollte ihn nicht einmal in der Luft um sie herum atmen.
Aber ihre Knie zitterten, und sie fühlte wie die aufsteigende Hitze sich überall in ihr ausbreitete, wie ein Segel aufblähte. „Ich habe keine Angst vor dir“, erwiderte sie, selbst als ihre Venen pulsierten, es in ihnen raste, in Reaktion auf seine Nähe. Sein Mund zog ihre Augen magisch an, die Lippen dort, leicht geöffnet, voll und wunderschön geschwungen, im silbrigen Mondlicht. Nein.
„Nein?“, fragte er süffisant.
„Warum bist du mir gefolgt? Weil du gedacht hast, ich gehe womöglich nach Paris?“, fragte sie, in dem verzweifelten Versuch, das Thema zu wechseln ... und unauffällig mehr Abstand zwischen sich und ihn zu bekommen. Seine glitzernden Augen ließen ihr die Eingeweide sachte erschauern und kitzelten sie.
„Entweder das, oder du wolltest gerade deinem Vampirjäger entfliehen“, erwiderte Giordan. „Hast du dich deswegen aus dem Rubey’s fortgeschlichen? Bist du Chas Woodmore nun überdrüssig, jetzt, da er seinen Zweck erfüllt hat?“
Sie wusste, hierauf zu antworten, würde nur bedeuten, ihn weiter zu ködern, ihn weiter dort festzuhalten, wo er sie mit seinen kalten Augen anschaute. Aber auch wenn sie seine durchschaubare Finte ignorierte, sie in eine Diskussion über Chas zu verwickeln, so musste sie sich über etwas anderes doch Gewissheit verschaffen. „Warum hast du gedacht, ich gehe nach Paris zurück?“
Mondlicht spielte ihm über das Gesicht, badete die eine Hälfte seines markanten Kinns und der geschmeidigen Lippen in einem silbrigen Licht, während die andere Seite im Dunklen verblieb. Er blickte forschend in ihre Augen, und ihr Herz setzte für den einen oder anderen Herzschlag aus. Sie zwang es, nicht mehr so wild umherzuspringen.
„Woodmoore ist nach Schottland gegangen, um seine Schwester zu sehen. Hast du ihn denn nicht begleitet?“
„Es war mir nicht möglich, in den Konvent hineinzugehen“, erwiderte sie. „Luzifers Macht über mich ist zu groß, als dass ich so einen Ort betreten könnte. Aber ich würde gern wissen, wie es dir möglich war, die alten Klosterruinen zu betreten–“
„Aha, darum also“, murmelte er, eigentlich zu sich selbst. „Er hat dir nicht erzählt, was er dort über deinen Bruder in Erfahrung gebracht hat.“ Ein kleines, ironisches Lächeln zuckte in seinem Mundwinkel. „Er vertraut dir nicht. Wie interessant.“
„Wovon sprichst du da?“, fragte Narcise herrisch und so laut, dass ein Dreiergespann von vorbeischlendernden Passanten innehielt und zu ihnen hersah. Sie drehte ihnen den Rücken zu.
„Vielleicht fragst du besser deinen Liebhaber, was er vor dir geheim hält“, antwortete Giordan ihr.
„Wie kannst du denn wissen, was in Schottland vorgefallen ist?“, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen. Wie konnte er davon wissen, wenn Chas es nicht einmal ihr erzählt hatte? Chas hatte ihr recht ausweichend geantwortet, als sie ihn befragt hatte, und hatte ihr erzählt, dass Sonia keine klare Vision beschwören konnte. Und dass er jetzt nur hoffte, er würde später noch eine Nachricht von ihr bekommen, mit mehr Informationen.
Was hieß, dass Chas sie entweder angelogen hatte oder ... etwas anderes.
„Ich weiß es, weil er es Rubey erzählt hat, und Rubey wiederum erzählt mir alles“, sagte Giordan. Das Lächeln zu diesen Worten war zugleich herablassend als auch vieldeutig. „Es gibt nichts, was sie mir vorenthält.“
Rubey. Ein kleiner, schmerzvoller Stachel pflügte sich da durch Narcise hindurch, als sie die Bedeutung seiner Worte begriff. Alle Bedeutungen. Sie suchte verzweifelt nach Worten, die ihn ebenso verletzten würden. „Rubey?“
Er behielt nur weiterhin dieses Lächeln auf und betrachtete sie.
Narcises Mund verzog sich, als eine Erinnerung und dann auch der Hass wie eine Flut über ihr zusammenschwappte. Sie hatte ihm vertraut, hatte sich ihm geöffnet, um Zuneigung zu ihm zu entwickeln ... und er hatte sie zerschmettert. „Ich hoffe für sie, dass sie keinen Bruder hat“, entgegnete sie steif. „Ich glaube kaum, dass sie dir noch freundlich gesonnen sein wird, wenn sie nach einem solchen Verrat ihren Zweck erfüllt hat.“
Selbst in dem schlechten Licht konnte sie sehen, wie sein Gesichtsausdruck hart und kalt wurde. „Es kann keinen Verrat zwischen uns geben, denn dafür müsste es Liebe zwischen uns geben.“
Ohnmächtige Wut und Pein bäumten sich in ihr auf, und es wurde ihr rot vor Augen. „Es gibt niemals Liebe mit einem Drakule. Lust und der Moment der Erfüllung, ja, immer ... aber Liebe?“, höhnte sie. „Niemals.“
„Ich habe dich geliebt.“ Er sprach so leise, dass seine Worte wegen einer vorbeifahrenden Kutsche fast nicht zu hören waren ... und dennoch standen sie hart und kalt und wütend zwischen ihnen.
„Du hast mich benutzt, Giordan. Ich hatte geglaubt, du versuchst, mein Vertrauen zu gewinnen, dass du wirklich und wahrhaftig etwas für mich empfindest. Und das hast du so gut gespielt, und die ganze Zeit über hast du ein anderes Ziel vor Augen gehabt. Ich habe eine Weile dafür gebraucht, aber dann habe ich es schließlich begriffen, warum du nicht wolltest, dass Cezar von uns erfährt. Dass wir ... Freunde waren. Geliebte. Weil du dir deine Chancen bei ihm nicht verderben wolltest. Er war die größere Trophäe, nicht wahr?“
Sie war sich kaum bewusst, was sie da sagte, nur dass sie so lange darauf gewartet hatte, ihm ihren Hass und ihre Pein ins Gesicht zu spucken. Sie wollte, dass er begriff, was er ihr angetan hatte. Sie wollte ihm den gleichen Schmerz zufügen, aber sie wusste nicht wie, außer mit ihren Worten. „Natürlich würdest du ihn haben wollen. Er war derjenige mit Macht, mit all dem vielen Geld, der alles um ihn herum beherrschte. Ich war nur ein Mittel zum Zweck, um an ihn heranzukommen.“
„Und das glaubst du?“, sagte er da, seine Worte halb erstickt und leise. Seine Hand schoss hervor, und seine Finger bekamen sie vorne am Kleid zu fassen. „Du glaubst ehrlich und aufrichtig, dass ich Cezar haben wollte? Selbst nach dem hier?“ Er riss grob an ihr, und sie flog gegen ihn.
Sein Mund bedeckte ihren, hart und warm und zornig, und Narcise schloss die Augen bei dem vertrauten Geschmack von Giordan, dem fordernden Druck seiner Lippen, die an ihren entlangglitten ... ihren Mund brutal zwangen, sich zu öffnen und seinen wilden Zungenschlag zu erdulden, der sich alles von ihr nahm.
Es war über zehn Jahre her, aber sie erinnerte sich an ihn, an seinen Kuss, als wäre es erst gestern gewesen.
Sie legte ihm die Hände vorne auf die Schultern, ihre Finger krallten sich in den Stoff seines Mantels, die Spitzen seiner Locken streichelten ihre Fingerkuppen sanft. Sie erwiderte seinen Kuss, und machte, dass der Kuss einer aus Wildheit und Zorn blieb, anstatt zärtlich und sinnlich, wie er es sonst gewesen war, versuchte, nicht zu vergessen, wie sehr sie ihn hasste ... wie abgrundtief sie ihn verabscheute ... selbst als ihre Lippen zu einer kämpfenden, gleitenden, liebkosenden Masse wurden, in dieser feuchten, erregenden Hitze.
Sie presste sich an ihn, zornig, wollte, dass er sie so sehr begehrte, wie sie ihn begehrt hatte ... damals. Wollte, dass er die Begierde in sich hochsteigen fühlte – und die Hoffnung auf Erlösung – nur um dann zuzuschauen, wie sie ihm entrissen wurde.
Ihre Brüste drückten gegen seine Brust, seine Arme schlossen sich fest um sie, als eine Hand sie hinten am Nacken griff und sie unbeweglich festhielt. Er senkte sich tief in sie hinein, war jetzt so aufgewühlt wie sie, seine Zunge heiß und feucht und stark, sein Mund fest und mächtig. Eine rollende, ansteigende Hitze, die Narcise ganz ausfüllte, sie feucht und weich werden ließ, trotz dieser Wut, die unter all dem brodelte, und sie schloss die Augen, und versuchte, sich an ihren Hass zu klammern.
Mit voller Absicht biss Narcise ihm in die Lippe, ihre Zähne scharf und wüst, als sie sich erst festbiss und dann abrupt zog, und Blut hervorsprudelte. Ihre Zähne waren jetzt lang, standen vor, und als sie sich etwas zurücklehnte, brannten seine Augen rot auf sie herab, die Spitzen seiner Zähne deutlich sichtbar an diesen Lippen, die voll und sattgeküsst aussahen, und jetzt auch blutig, an denen eine Bisswunde rot schimmerte.
Er atmete schwer, seine Augen glühten, ihre Mitte pechschwarz und unergründlich, und Narcise stieß auf ihn zu, um erneut seine Lippen zu schmecken. Ein bisschen warmes, nach Kupfer schmeckendes Blut lief ihr über Lippen und Zunge, Begehren schoss da durch sie hindurch, bis in ihr Innerstes hinein. Giordan. Narcise saugte an seiner Lippe, trank das Blut und merkte, diese kleine Kostprobe würde ihr nicht genügen.
Sie riss an dem Kragen seines Mantels, entblößte seinen Hals und ließ von seinen Lippen ab. Sie schlug ihm bösartig die Zähne genau unterhalb seines Ohrs in den Hals – hasste ihn und wollte ihn gleichermaßen. Mit einem leisen Schrei zuckte Giordan an ihr, und ein Strom von Blut ergoss sich in ihren Mund, explodierte, als ob ein Damm gebrochen wäre. Sie seufzte vor Erleichterung und trank gierig dieses reine, warme Lebensblut.
Begierde und Erinnerungen erfüllten sie ganz und gar, der Geschmack und der Duft von ihm war jetzt ihr ganzes Universum: seine breiten Schultern und sein kraftvoller Körper, die weiche Seide seiner Locken, die drängende Erektion, die sich heiß durch ihrer beider Kleider an Narcise presste ... es war Giordan, nach so langer Zeit, nach so viel Schmerz und einem so schrecklichen Verrat...
Und doch, es war nicht er. Nicht der Gleiche.
Niemals der Gleiche.
Er erschauerte an ihr; seine Arme, fest um sie gelegt, zitterten; sein Körper sackte irgendwie rückwärts gegen die halbhohe Mauer bei dem Abwasserkanal. Sie fand warme Haut unter seinem Hemd, als sie es ihm aus den Hosen riss, ihre Finger streiften über die behaarten Stellen dort an seinem Bauch, die festen Muskeln, die bei ihrer Berührung erbebten. Als Narcise sich von ihm löste, um ihn anzuschauen, beugte er sich wieder zu ihr herab, um ihren Mund gleich wieder gefangen zu nehmen – wild und wie getrieben von einem tief in ihm schwelenden Zorn, seine Finger vergruben sich tief in ihrem Haar, packten sie am Kopf. Sie schmeckte Hitze und Blut, spürte wie seine Finger sich fester in sie krallten, seine Zähne an ihren Lippen kratzten. Er schien sie bestrafen zu wollen.
Es war ein Kampf – ihre Münder, ihre Körper, dort auf der Straße, jetzt wieder in einem schattigen Winkel: Lippen, Hände, Zähne. Zunge. Hitzig, feucht, berauscht.
Er fasst sie mit einer Hand rücksichtslos an einer Brust, fuhr mit seiner Handfläche über ihre Kurven, als sie sich gegen ihn lehnte, immer noch wütend, immer noch voller Hass auf ihn, aber außerstande, das hier zu beenden. Nicht willens, das hier zu beenden.
Narcise drehte ihren Kopf weg, und dabei verfing sie sich an einem seiner langen Zähne. Ihre Lippe sprang auf, und jetzt vermischte sich ihr eigenes Blut mit seinem, in der Luft auf ihrer Zunge.
Giordan erstarrte, seine Brust hob und senkte sich rasch, presste sich hievend gegen sie, und in seinen Augen erkannte sie verzweifelten Hunger. Sie leckte sich die Lippen, beobachtete ihn, schmeckte das Blut – ihrer beider Blut, zusammen – warm und voll und übermächtig.
„Tu es“, forderte sie ihn lockend und höhnisch zugleich heraus, hielt seinem Blick stand, ihr eigener Atem rauh und außer Kontrolle. „Schmecke mich. Nimm mich, Giordan.“
Er schob sie von sich weg, plötzlich, sein Mund hart, Lippen zusammengepresst, blutverschmiert. Seine Augen sprühten vor Zorn und waren voller Ekel, verbrannten sie, als er sich mit dem Handrücken über den Mund fuhr.
Narcise atmete tief ein, um sich wieder unter Kontrolle zu bekommen, der Magen stülpte sich ihr um, beim Anblick all dieser Hässlichkeit in seinen Augen ... und dennoch, ihr Herz hämmerte wie verrückt, und das nicht nur aus Wut. Auch aus Begierde. Sie wollte ihn. Und dann Wut. Auf sich selbst und auf ihn. Sie zitterte vor Schmerz und Lust, als sie einander wütend anstarrten.
„Siehst du“, brachte sie noch heraus, während sie sich das letzte bisschen Blut von den Lippen leckte. „Lust und Begierde, selbst angesichts eines solchen Hasses. Ich hätte meine Röcke hier hochschlagen können, aber danach würde ich dich immer noch verachten.“
„Narcise–“, setzte er an, seine blutenden Lippen fast bewegungslos.
Aber mit der Lust und mit der Vertrautheit, war sie auch wieder Opfer jener schrecklichen Erinnerungen, die schwarzen, finsteren Tage seines Verrats ... und der Schmerz schlug ihr wieder frische Wunden.
„Bei der schwarzen Seele des Teufels, ja ich hasse dich. Ich habe dich gesehen. Mit Cezar. Man kann sich beim Ausdruck eines Mannes nicht täuschen, der gerade sexuelle Lust erfährt – und, bei den Schicksalsgöttinnen, den Ausdruck habe ich wahrlich oft genug ansehen müssen.“ Sie schluckte, ihr Hals war trocken und kratzte. „Ich habe dir geglaubt. Ich habe an dich geglaubt. Du hast mich zerschmettert.“ Die Stimme brach ihr gegen Ende, und sie schluckte wieder, mehrmals, wütend, weil sie solche Schwäche zeigte. „Und ich werde dich auf ewig dafür hassen.“
Lange herrschte nur Schweigen, während sie einander wütend betrachteten. Verachtung, Hass und finstere Gefühle schwangen zwischen ihnen hin und her, als sie sich in der dämmrigen Gasse gegenüberstanden.
„Auf ewig ist eine sehr lange Zeit“, sagte er schließlich, seine Stimme nur noch ein dumpfes Grollen.
„Und wir werden es wohl beide erleben. Auf Wiedersehen, Giordan“, sagte sie und ging davon, mit zitternden Knien, ihr Inneres aufgewühlt. Sie presste die Augenlider fest zusammen, um die drohenden Tränen aufzuhalten.
Sie vermutete, dass er ihr wieder folgen würde, und als sie am Ende der Straße anlangte, schaute sie kurz verstohlen nach hinten.
Aber er lief in die entgegengesetzte Richtung, fort von ihr, auf seinem Haar und den Schultern lag leicht gesprenkelt das Mondlicht, während er davoneilte.