ZWEI
Narcise starrte hoch zu dem Gemälde und versuchte, sich zu konzentrieren.
Er stand viel zu nahe bei ihr, dieser Mann namens Giordan Cale. Dieser Mann, der sie den ganzen Abend lang kaum angeschaut hatte, während er den Gastgeber mimte ... der aber, wenn er es dann doch tat, durch ihren ganzen Körper eine Hitzewelle jagte.
Sie hatte natürlich gelogen. Durch eine Auslassung. Indem sie implizierte, dass sie ihn nicht bemerkt hatte, an jenem Abend, als er zugeschaut hatte, wie sie einen Mann tötete, um sich selber die Freiheit zu sichern. Oder zumindest, dass sie implizierte, sich nicht an ihn zu erinnern.
Aber sie erinnerte sich an ihn. Sehr gut sogar. Sie hatte später an dem Abend eine Zeichnung von Cale angefertigt, in der wundervollen Einsamkeit, die sie sich verdient hatte, indem sie ihren Gegner in die Hölle geschickt hatte. Ungeachtet der Tatsache, dass er ein Freund ihres Bruders war, hatte Cale ihren kreativen Kopf vor eine interessante Aufgabe gestellt.
Sie hatte das dichte, lockige Haar gemalt, das wie eine Kappe von glänzend brauner Textur um seinen Kopf lag, das kantige Kinn angedeutet, sowie die fein geschwungenen Lippen in einem starken, schönen Gesicht. Jetzt, nachdem sie ihn heute Abend wiedergesehen hatte, ging ihr auf, dass sie in jener ersten Skizze die Form seiner Augen nicht ganz getroffen hatte, auch nicht den Winkel seines Kiefers, noch den Schatten unterhalb seiner Wangenknochen – aber sie hatte auch nur mit dem Bild in ihrer Erinnerung arbeiten können, das zudem auch nur von einem kurzen Blick auf ihn stammte. Jener Blick aus der großen Distanz hatte ihr die ganzen Details vorenthalten: die blauen Einsprengsel in seinen braunen Augen, die kleine Narbe neben seinem rechten Auge, eine Andeutung von sehr beherrschter Entschlossenheit, die unter seinem offenen Lachen rumorte.
Und jetzt stand er ihr so nahe, dass ihr sein ganz eigener Duft in die Nase stieg, über all dem nebligen, dicken Rauch und den kräftigen Aromen von Lebensblut vermischt mit sexueller Erregung. Die Haare an ihrem Nacken stellten sich auf und es prickelte sie dort, als ob er ihr so nahe wäre, dass sein Atem dort über die sensible Haut streichen würde.
Sie betete, dass er Recht hatte: dass Cezar zu beschäftigt war, um sie beide hier zu bemerken.
Cale hatte noch nicht auf ihren leisen Spott geantwortet, als sie ihn fragte, woher er von ihrem kriegerischen Können wisse, und jetzt musste sie ihn doch wieder anschauen. Aber als sie sich ihm zuwandte, musste sie gegen das Bedürfnis ankämpfen, einen Schritt zurückzutreten. Stattdessen atmete sie nur leicht ein und hielt sich aufrecht.
Zu nahe. Viel zu nahe.
Nicht weil er sie bedrohte – zumindest nicht in der Art, wie es andere Männer taten, mit ihren grinsenden Fratzen und heißen Augen und ihrer Gier. Sondern weil er eine Wirkung auf sie ausübte, irgendwo tief in ihr drin brachte er eine Saite machtvoll zum Klingen.
Sein anziehendes Gesicht war genau vor ihr, nur einen Atemhauch entfernt, und er sah auf sie herab. Sie war hochgewachsen, für eine Frau, und ihr Kinn war fast auf gleicher Höhe mit seinem. Die Augenwinkel seiner braunen Augen kräuselten sich ein wenig, und sie erkannte darin nicht die Lust, die sie erwartet hatte, die war sie in Männeraugen schon gewohnt, nein, sie sah dort eine spöttische Herausforderung, gespickt mit Leichtigkeit.
Wie um zu sagen, Oh, das soll also das Spiel hier sein?
„Ihr Können, was das Schwert anbetrifft“, sagte er dann endlich und stimmte weder ihrer Lüge zu noch prangerte sie als solche an, „ist legendär. Zumindest unter den Drakule.“
Eine unerwartete Bitterkeit überkam sie da jäh. Unerwartet, weil sie sonst durchaus in der Lage war, ihre Gefühle unter Kontrolle zu halten. Ihr Schwertkampf und ihre Schönheit, berühmt in der ganzen Drakulia Unterwelt, trugen nicht nur zu Cezars Macht und Ruhm bei, sondern auch zu ihrer Gefangenschaft. Wenn sie keines der beiden besitzen würde, hätte ihr Bruder sich dann überhaupt die Mühe gemacht?
Wenn sie keine Schönheit hätte, dann wäre sie natürlich niemals ein Teil dieser Welt geworden. In dem Fall hätte er sie einfach sterben lassen, dabei womöglich sogar noch nachgeholfen – genau wie bei ihrem Vater und ihrem Bruder. Stattdessen hatte Cezar Mittel und Wege gefunden, sie so zu erhalten, zusammen mit sich selbst.
Unsicher, wie sie auf Cales Aussage antworten sollte, nickte Narcise nur kurz zustimmend. „Mein Bruder hat eine Reihe hervorragender Lehrmeister für mich eingestellt.“ Die Kammer war klein und warm geworden, und die Verlockung der Lust und der Sättigung darin, machte sich auch in ihr bemerkbar. Ihr Gaumen schwoll an, und ein kleines Flattern in ihrem Bauch wurde stärker.
„Er muss sich um seine Investition kümmern, nicht wahr?“, erwiderte Cale. Seine Stimme klang unbeschwert, aber sie sah Zorn in seinen Augen aufblitzen, und auch seine Mundwinkel hatten jetzt einen harten Zug.
Ihr war der Hals jetzt ganz trocken, und sie hatte Schwierigkeiten zu schlucken. War es möglich, dass er es verstand? „Mein Bruder wünscht sicherlich zu verhindern, dass mir ein schweres Leid geschieht“, sprach sie und hielt ihre Stimme ruhig. Das entsprach auch der Wahrheit, wenn auch einer etwas verdrehten.
Cale hielt immer noch ihren Blick fest, und sie fühlte sich darin wie gefangen, wie sie da diese blauen und schwarzen Einsprengsel in seinen tiefbraunen Augen betrachtete. „Ich machte mich in jener Nacht bereit einzugreifen“, sagte er, seine Stimme ein tiefes Grollen.
Narcise fühlte, dass ihr Magen wohl gerade irgendwo anders hin gewandert war. Sie konnte nicht sprechen, konnte zuerst nicht einmal denken; ihre Lippen formten ein lautloses O. Sie schloss sie rasch, als sie die Augen von ihm losriss.
„Monsieur Cale“, war alles, was sie noch schaffte zu sagen, als ihr das Herz derartig hämmerte und ein seltsames Flattern durch sie hindurch raste. „Das wäre töricht gewesen.“
Jede Heuchelei, dass sie sich nicht an ihn erinnerte, war jetzt nicht mehr da, angesichts ihrer Verwunderung und ihrer Dankbarkeit. Er hätte eingegriffen? Er hätte ihr geholfen?
Was hätte Cezar wohl getan?
Plötzlich fühlte sie sich warm und zittrig, atemlos – und töricht, denn dieses Schwindelgefühl kam plötzlich und unerwartet. Die Luft war jetzt so schwer, voll von dem süß-pfeffrigen Duft und den dunklen Lockungen von frischem Blut. Ihre Zähne suchten sich zu befreien, die Hände zitterten ihr. Bevor sie sich ganz im Klaren darüber war, was gerade geschah, spürte sie schon seine Finger um ihr Handgelenk und wie ein weiterer starker Arm sich um ihre Taille legte.
„Etwas frische Luft, Mademoiselle“, sagte er und führte sie aus dem Raum. „Hier drinnen ist es zum Ersticken. Und Sie haben noch nichts zu sich genommen.“
„Nein“, sie protestierte, Entschlossenheit brach durch diesen Nebel hindurch. Cezar würde so etwas niemals erlauben. Sie blieb mit beiden Füßen wie angewurzelt stehen, trotz des Drucks an ihrem Arm. Und obwohl sie nichts lieber wollte, als den Gefahren hier drin zu entkommen.
„Wann haben Sie das letzte Mal getrunken?“, fragte Cale sie fordernd, sein Mund zu nahe an ihrem Ohr. Wärme durchfuhr sie; sein Duft hüllte sie ein, genau wie die Hitze seines Körpers.
Die Welt drehte sich ein wenig um sie, voller rotem Dunst und Hitze, als sie dann blinzelte und sich festhielt, fasste sie sich wieder. „Ich werde morgen früh trinken“, sagte sie ihm. „Wenn wir zurückkehren.“ Sollte Cezar es erlauben.
Das war seine Art, sich ihr gutes Betragen zu sichern, bei gesellschaftlichen Anlässen wie diesem hier. Er ließ sie nicht verhungern; das wäre dumm. Aber er enthielt ihr genug vor, gerade so viel und so lange, dass sie hungrig blieb. Und gefügig. Und sie war klug genug, nicht ohne seine Erlaubnis zu trinken.
Die Luft war jetzt etwas besser, und Narcise bemerkte, dass es Cale trotz ihres Widerstands gelungen war, sie aus dem kleinen, warmen Zimmer zu geleiten. Nervosität ergriff Besitz von ihr, und sie riss sich von ihm los. „Bitte“, sagte sie, zwang ihre Stimme dazu, scharf und stark zu klingen statt verzweifelt. „Ich muss wieder zurückgehen. Cezar wird schon nach mir suchen.“
Cale sah sie forschend an, seine Augen immer noch zu nahe, sein Mund nahe genug, so dass ihr aufgetürmtes Haar ihn streifen würde, sollte sie ihren Kopf wegdrehen. Er hatte ihre Hand in seiner aufgefangen, und zog sie zu sich heran. „Wie Sie wünschen“, erwiderte er. „Aber Sie müssen etwas zu sich nehmen. Ich kann den Hunger in Ihren Augen sehen.“
Irgendwie machte sich beim dunklen, rollenden Klang seiner Stimme, bei diesen tief abtauchenden Silben, ein stechender Schmerz in ihr bemerkbar – es war alles so intim. Darin lag Mitgefühl, Mitgefühl und Bewunderung ... und Wut.
Er hielt sie nicht fest, als sie sich von ihm losmachte, und zum ersten Mal fiel ihr auch auf, dass sie sich in einem dämmrigen Korridor befanden. Hinter ihr stand eine Tür offen, und jenseits der Tür konnte sie das Zimmer sehen, das sie gerade verlassen hatten.
Das Herz schlug ihr bis zum Hals, sie spähte in das vernebelte, golden erleuchtete Zimmer, ihre Finger am Türrahmen. Selbst durch die Rauchschwaden hindurch konnte sie noch den Sessel erkennen, in dem Cezar saß, der Stuhlrücken zu ihr, Cezars Kopf ragte kaum darüber hinaus. Aus dieser Position konnte er sie nicht sehen, den Schicksalsgöttinnen sei Dank, und Narcise bemerkte die anderen zwei Gestalten, die vor ihm saßen.
Er schien in der Tat sehr beschäftigt zu sein.
Ihr Herzschlag wurde wieder etwas langsamer, aber bevor sie wieder in das Zimmer treten konnte, griffen jene starken Finger wieder nach ihrem Handgelenk.
„Sehen Sie?“, sagte Cale und zog sie wieder rückwärts zu sich, weg von der Tür. „Ihm steht jetzt gar nicht der Sinn danach, Sie zu suchen.“
„Aber–“, setzte sie an und brach sogleich ab, ihr Atem stockte.
Er hatte eine scharfe Bewegung gemacht, sein Arm zuckte, und auf einmal war da der Geruch von frischem Blut um sie beide. „Merde“, murmelte er wütend. „Was habe ich da nur angestellt?“
Was haben Sie da nur angestellt, in der Tat. Narcise wurde fast schwindlig von dem vollen Aroma, das sie zu umarmen schien, ihr ins Bewusstsein strömte. „Monsieur“, presste sie heraus, ihre Reißzähne füllten ihr auf einmal den Mund, stachen scharf und hart, als es ihr in den Adern rauschte – vor drängendem Bedürfnis. Sie machte sich nichts vor, diese plötzliche Wunde hier war keinem Unfall geschuldet.
„Sie würden mir einen großen Dienst erweisen“, flüsterte Cale, wobei sein Blick nicht von ihr wich. „Wenn Sie sich um das hier kümmern würden.“ Er hob den Arm.
Er hätte ihn fast nicht zu bewegen brauchen, denn trotz ihres Widerstands, war Narcises Aufmerksamkeit schon ganz bei seinem entblößten Handgelenk. Sein Überrock war schon abgestreift, sein Hemdsärmel hochgezogen, um einen goldbraunen Unterarm freizugeben, muskulös und glatt, bis auf das Austreten des dunkelroten Bluts dort.
„Bitte, Mademoiselle“, sagte er, und sie fühlte, wie hinten die Wand sich gegen die aufgebauschte Turnüre ihres Kleides drängte. „Sie müssen etwas zu sich nehmen, und ich benötige hierbei Hilfe.“
Narcise hätte auf ihn wütend sein sollen, und auf seine Finte, aber ihr blieb nicht genug Widerstandskraft, um einen solchen Gedanken zu fassen. Das Blut ... sein Blut, sein Duft ... von diesem Mann, der sie derart aus dem Gleichgewicht brachte, der kein Wort über ihre Schönheit verloren hatte, oder dass er sie begehrte ... der bereit gewesen war, in einen Schwertkampf einzugreifen ... sein Blut war eine solche Versuchung, und in ihrem geschwächten Zustand hatte sie nicht die Kraft, es zu verleugnen.
Als wüsste er genau, dass ihr der Kopf schwindelte und sie unsicher war, glitt Cales Arm wieder um ihre Taille, dort, zwischen der Wand und ihrem Rücken unten. Sie hatte den Eindruck, von Hitze und Stärke gleichermaßen umarmt zu werden, den lockenden Duft seiner Gegenwart, die warme Baumwolle seines Hemdes.
Zuerst leckte sie nur ... nur ein zartes Gleiten ihrer Zunge über die kleine Blutlache, die sich in der Kuhle an seinem Handgelenk gesammelt hatte. Er zuckte ganz leicht zusammen, nur ein winziges Zucken, und sie spürte, wie sein Arm sich unter ihrem Mund anspannte. Schwer und voll glitt ihr sein Lebensblut über die Zunge und die Lippen, und eine große Welle von Lust rauschte durch sie hindurch.
Aber irgendwie hielt sie ihren Instinkt im Zaum und leckte rasch und gezielt über und um die kleine Wunde, sog seinen Duft ein, kostete sein Leben. Rein, heiß, wundervoll ... stark. Er war übermächtig. Sie konnte nicht länger an sich halten und ließ ihre Zähne in die angeschwollenen Venen an seinem Handgelenk sinken.
Jetzt strömte er ihr in den Mund, im Rhythmus seines Herzschlags, die Venen füllten sich und drängten gegen ihren Mund. Sie trank, atmete, die Knie gaben ihr nach, so dass sie gegen die Wand und in seine Arme sackte. Lust und Drang schwollen in ihrem Körper an, in ihren Venen und unter ihrer Haut, pulsierten und ließen sie unter ihren vielen Kleiderschichten feucht werden.
Die Wand stand weiterhin fest hinter ihr und Cale an ihrer Seite, sein Arm immer noch um ihre Taille gelegt. Schwach nahm sie wahr, wie sein Körper an ihrem zitterte, die abrupten Bewegungen seines Brustkorbs. Als sie ihn mit beiden Händen festhielt, seine Hand zurückbog, um seine Handfläche zu öffnen, und auch das Handgelenk, verschlangen sich ihrer beider Finger ineinander. Sie fühlte den schweren Ring an seinem Finger, wie er sich in ihre kleineren Finger eingrub, als Cale fester zupackte.
Narcise trank, saugte, sanft, ihre Schlucke leise und rhythmisch, als die Ambrosia ihr den Mund füllte, durch ihren Körper floss. Ohne es explizit zu wollen, begann sie seine warme, glatte Haut mit ihren Lippen zu liebkosen, während sie ihn mit ihren Zähnen fest gepackt hielt, benutzte ihre Zunge und ihre Lippen, um jeden letzten Tropfen zu erhaschen.
Es kam ein Moment, in dem sie ihre Kraft wiedergefunden hatte, und sie blickte hoch, um Cales Augen fest auf sie gerichtet zu erblicken. Unter seinen schweren Lidern brannten es lichterloh, rot, wie ein schwelendes Feuer. Seine Lippen waren halbgeöffnet, seine Zähne sehr lang und lockend. Sein Gesichtsausdruck schoss gleich einem scharfen Schmerz in ihren Bauch hinein, und hinab. Hard und stark, explodierte als feuchte Hitze.
Narcise senkte ihren Blick wieder, weg von diesem feurigen Blick, der sie gebannt hielt, wappnete sich dagegen, dass er sich von ihr löste und ihr seine Zähne in den Hals schlug. Aber statt des Ekels überkam sie bei dem Gedanken erneut wilde Lust. Ihr Bauch erschauerte, ihre Brüste und die harten Brustwarzen drängten sich gegen ihr Seidenhemd, ihre Lungen schienen plötzlich klein.
Sie zog ihre Zähne aus ihm heraus, Wirklichkeit und Furcht fuhren ihr durch den vernebelten Kopf. Cezar. Sie schluckte, schmeckte das letzte bisschen seiner Essenz und spürte, wie er sie losließ. Seine Augen glühten immer noch rotorange um die braune Iris, seine Lippen immer noch halbgeöffnet, ließen die Spitzen seiner langen Zähne sehen. Cales Brust hob und senkte sich wie nach einem schnellen Lauf, und für einen Augenblick, diese Furcht ... dieser Nervenkitzel ... dass er sie packen könnte und sie gegen die Wand drückte – für einen Moment löschte das jeden anderen Gedanken in ihr aus.
Aber er tat es nicht. „Merci“, sagte er leise mit dieser köstlichen, tiefen Stimme, die viel mehr aussprach als nur jene Silben. „Aber vielleicht könnten Sie es auch zu Ende führen?“ Er hatte wieder ins Französischen gewechselt.
Narcise wusste, was er meinte, und für einen kurzen Augenblick packte sie panische Angst angesichts des Risikos, erneut von ihm zu kosten. Aber es war das Mindeste an Höflichkeit. Und im besten Falle wäre es ein weiterer Augenblick des lustvollen Genusses, bevor sie wieder in ihre Welt aus Furcht und Verzweiflung zurückkehrte.
Ganz sachte diesmal hob sie seinen Arm an und, nach einem raschen Blick zu ihm hin, küsste sie die Wunde. Sie leckte mit ihrer Zunge die letzten Spuren von Blut weg und wusste, ihre Spucke würde die Blutung stillen und die Wunde schneller heilen lassen. Und dann ließ Narcise ihn los und tat einen Schritt zurück, wartete darauf, dass er sich auf sie stürzte. Und fragte sich, wie lange es dauern würde, bis Cezar sie hier draußen finden würde.
„Vielleicht“, sagte Cale, immer noch auf Französisch, immer noch mit dieser leisen, tiefen Stimme, „wenn David Augenzeuge einer solchen Szene gewesen wäre, wäre sein Gemälde etwas echter geworden. Mit etwas mehr ... Hitze gemalt.“
Narcise konnte nur noch stumm Beifall nicken. Ihr Kopf war klar, wie er es schon lange nicht mehr gewesen war, aber ihr Körper vibrierte noch vor Lust.
Und als Cale sich umdrehte, um sich den Überrock wieder anzuziehen, den er über einen Tisch in der Nähe geworfen hatte, schaffte sie es zu sagen, „Cezar wird es herausfinden.“ Ein Knoten formte sich in ihrem Magen, als die Realität sie wieder einholte. Er würde es herausfinden, und er würde sie bestrafen.
Cale schaute sie an, seine Augen brannten nicht mehr, gaben jetzt nichts mehr preis. „Aber selbstverständlich wird er hiervon erfahren. Er hat es vielleicht sogar selbst so geplant. Aber ich versichere Ihnen, es wird keine Konsequenzen für Sie haben. Sie können mir vertrauen.“
Vertrauen Sie mir.
Das letzte Mal, dass sie diesen Worten eines Mannes geglaubt hatte, waren sie von Cezar gesagt worden. Vor über hundert Jahren, in jener Nacht, in der Luzifer ihr erschienen war. Narcise unterdrückte ein bitteres Lachen. Und man sehe nur, was ihr das Vertrauen zu einem Mann eingebracht hatte: ein ewiges Leben in Gefangenschaft. Cale bot ihr seinen nicht verwundeten Arm an, und sie ließ ihre Finger um diesen gleiten. Als sie ihm erlaubte, sie in das Zimmer zurückzugeleiten, hob sie das Kinn, bereit allem Kommenden zu begegnen.
Sie würde Cezars Wut entweder überleben, wie schon so oft zuvor ... oder er würde sie in seinem Zorn töten. Und das, so dachte sie bei sich, wäre vielleicht sogar das kleinere der beiden Übel.
Cezar Moldavi war sich der Abwesenheit seiner Schwester durchaus bewusst. Und auch mit wem.
Natürlich war er das, denn er ließ es nur selten zu, dass ihm die Kontrolle über das Geschehen entglitt. Jene Tage, in denen man ihn verprügelt und herumgeschubst und drangsaliert hatte, lagen weit hinter ihm. Jetzt war alles, was er tat, sorgfältig geplant, jedes kleinste Detail, jeder mögliche Ausgang des Geschehens, akzeptiert oder verworfen, und Cezar Moldavi hatte schon längst all jene umgebracht, die sich noch an den winselnden, heulenden Feigling erinnerten, der er einmal gewesen war.
Bis auf seine Schwester, die er liebte.
Und hasste.
Trotz der anregenden Gesellschaft der zwei wunderbaren, sterblichen Frauen, die ihn hätschelten und liebkosten und ihn dazu verlockten, von ihnen zu kosten, waren seine Gedanken anderswo. Er wusste genau, wann Narcise und Cale das Zimmer verlassen hatten, und wie lange sie wegblieben, und wer von wem getrunken hatte, als sie zurückkamen.
Und obgleich er enttäuscht vom Verlauf der Ereignisse war, hatte er es erwartet. Es war einer der möglichen Verläufe – ja, wohl der wahrscheinlichste – gewesen. Es hätte ihm gefallen, überrascht zu werden, aber die Tatsache, dass er es nicht war, war keine große Tragödie; denn er war, wieder einmal, gut vorbereitet gekommen.
Cale war ein außergewöhnlicher, ein mächtiger Mann, unvorstellbar reich, und man hielt große Stücke auf ihn, sowohl in der Welt der Drakule als auch in der Welt der Sterblichen. Er war es gewohnt, alles zu bekommen, was er wollte.
Und das war Cezar auch.
Aber dann wiederum ... es war nicht wirklich etwas vorgefallen, zwischen Cale und seiner Schwester. Cezar konnte es riechen: ein kurzes Saugen, nichts weiter. Narcise würde für ihren Ungehorsam büßen ... aber nicht, wie sie dachte.
Und das war der Grund, warum Cezar sich den Anschein gab, er würde den schlichten Erklärungen Cales für das, was wirklich vorgefallen war, Glauben schenken. Der Geruch von Sättigung hing überall im Zimmer, er klebte an Narcise; es gab keine Möglichkeit, das zu verschleiern. Und, das musste Cezar ihm bewundernd lassen, versuchte Cale es erst gar nicht.
„Und sehen Sie, wie ich mich verletzt habe“, sagte er und zeigte auf seine Wunde am Arm. „Ich habe mich Ihrer Schwester aufgedrängt und war in der Lage, sie zu überreden, mir zu helfen. Ich bin ihr überaus dankbar für ihre Hilfe, denn ich fürchte mein Hemdsärmel wäre sonst schmutzig geworden.“ Sein Lächeln war überaus charmant und lag ihm sogar in den Augen. Aber dahinter lag auch eine Warnung. „Und Mingo – Sie verstehen doch, wie Kammerdiener sein können – wäre völlig außer sich.“
„Gewiss“, erwiderte Cezar und bekundete Beifall, was die gutgeschnittenen Kleider seines Gegenübers betraf. Nicht so protzig wie manch andere neue Mode hier in Paris, Brokatüberröcke mit rund geschnittenen Vorderteilen und ebensolchen Rockschößen, aber sie waren zweifelsohne sehr gut geschneidert und saßen wie angegossen. Er musste sich den Namen von Cales Schneider geben lassen. „Ich bin sicher, Narcise hatte keine echten Bedenken, unserem Gastgeber auszuhelfen.“ Weder sein Gesichtsausdruck noch sein Ton verrieten irgendetwas, und als er kurz zu ihr blickte, sah er ihre Augen nervös aufleuchten.
Gut. Aber erwarte nur nicht, dass das Schwert so schnell niedergesaust kommt, Schwesterherz. Ich brauche dich noch.
Wenn es etwas gab, was Cezar richtig gut gelernt hatte, so war es, vorausschauend zu planen und zu handeln, nichts zu überstürzen. Und er würde so lange er in die andere Richtung schauen und Narcise gestatten, ihm zu helfen, bis er das von Cale bekam, was er wollte – was deutlich mehr als eine Beteiligung an einem Gewürzschiff nach China war.
Und das Mindeste, was er hieraus gewann, war ein sehr anregender Zeitvertreib.
*
Giordan blickte über die funkelnden Lichter. Da gab es sanft schaukelnde Kutschenlichter und, höher oben und auch etwas fester verankert, die Lichter der Straßenlaternen. Das sanfte Glühen der Öllampen, von hellem Gelb bis hin zu dunklem Bernstein, schien hinter Fenstern ohne Jalousien. Die Stadt der Lichter, so benannt, weil sie ein Zentrum der Gelehrsamkeit und der Aufklärung gewesen war, seitdem Mönche ihre schmalen Gassen errichtet hatten – der Name war noch passender, als viele es sich eigentlich bewusst waren.
Er befand sich hier hoch genug, hier, auf dem stillen Hausdach, die Schreie und Rufe von der Straße unten waren kaum mehr zu hören und vermischten sich mit den Rufen von Eulen und dem fernen Rasseln von Pferdegeschirr und Kutschen. Leuchtfeuer brannten in rotorangenen Winkeln, wo Zuschauer warteten, ihre Plätze sicherten, für die Hinrichtungen morgen früh. Manchmal meinte Giordan sogar das grausame Funkeln der Guillotineklinge zu sehen, in ihrem schwarzen Rahmen.
Er fragte sich, wie lange dieser Wahnsinn noch anhalten würde; wie lange Leute wie Robespierre und Hébert dem gleichen Schicksal entgehen würden. Giordan lebte schon über hundert Jahre, und eines hatte er begriffen: Fanatismus und Gewalt kehrten sich letzten Endes immer gegen ihre Verursacher.
Eine kühle Brise wehte ihm durch die Locken, als er ein Glas hob, um von seinem Lieblingsarmagnac zu trinken. Warm und beißend, war der mächtige Brandy eine ganz andere Erfahrung als das Lebensblut, das er an diesem Abend vorher schon gekostet hatte, dank der schönen Damaris. Er trank den Schnaps nicht zur Ernährung, sondern nur zum Vergnügen und wegen seines wuchtigen Körpers und ausgereiften Geschmacks, und wegen der Art, wie er ihm so ganz anders die Glieder löste.
So erging es allen Drakule: Wenn sie Käse oder Obst oder Gebäck aßen, oder jede andere Sorte von Essen, oder Wein zu sich nahmen, oder Bier, dann war das alles nur zum Vergnügen. Textur, Geschmack, Geruch. Eine Erinnerung an vergangene Genüsse aus ihren sterblichen Tagen, eine gesellige Angelegenheit. Aber überhaupt nicht notwendig.
Er ließ den Brandy auf seiner Zunge ruhen, schwenkte ihn nachdenklich zusammen mit einer Myriade anderer Gefühle, die ihn bewegten, herum. Gelächter stieg auf einmal laut zu ihm hoch, es kam von einem der Balkone unter ihm. Ah, gut. Seine Gäste amüsierten sich also.
Was konnte ein Mann sonst noch verlangen?
Freunde, Geselligkeit, gesellschaftliche Verpflichtungen ... er war selten alleine. Er musste sich nie einsam fühlen.
Und doch ... er hatte sich von seiner eigenen, verschwenderischen Feier davongeschlichen, um hier auf dem Dach des Hauses allein zu sein. Zitronen und Orangen in Blumentöpfen, umgeben von Leuchtern verströmten ihren Duft in der Brise. Ein langer Sims, auf den man Rosmarin und Thymian gepflanzt hatte, umsäumte die niedrigen Sträucher, die so duftend blühten. Es gab eine Bank, auf die er sich setzen konnte, wenn ihm der Sinn danach stand, und sogar eine kleine Feuerstelle, wenn er das dort sorgfältig gebundene Reisigbündel darin anzünden wollte. Ein fetter Käfer eilte an der Kante des Simses entlang, und Giordan zerquetschte ihn mit seinem Stiefel.
Es war bedauerlich, dass er diesen Ort nur nach Einbruch der Dunkelheit aufsuchen konnte, denn er fragte sich oft, wie Paris wohl bei Tageslicht aussehen mochte. Wie die cremefarbenen Häuserzeilen und ihre spitzen Dächer aussehen würden, ordentlich und senkrecht und dicht aneinandergeschoben, wie spitze Zahnreihen; ineinander verwoben, wie das gestrickte Muster eines Schals.
Wenn er freie Sicht hätte, könnte er vielleicht sogar La Chappelle-Saint-Denis von hier aus sehen: wo er herkam, sein Geburtsort.
Nicht seine echte Geburt. Er war sich nicht sicher, wo die stattgefunden hatte. Auf dem Land, vermutete er. Aber der Ort, an dem er gelebt hatte – nein, nein: wo er sein Dasein gefristet hatte. Nur gefristet hatte.
Diese Erinnerungen verfolgten ihn noch wie Messerstiche, schnürten ihm immer noch den Hals zu. Ließen ihn öfter, als er es sich eingestehen wollte, aus dem Schlaf hochfahren, verzweifelt, mitten am Tage, und wo er sich dann fragte, ob genug Brot für das Abendessen übrigbliebe oder auch, ob ein Platz zum Schlafen sich finden würde. Er erinnerte sich an den Wollfetzen, unter dem er sich zusammengerollt hatte, während des Schnees. Verscheuchte mit allen Kräften die Erinnerung von groben Händen und dem Gestank ungewaschener Männer, die ihre Hosen aufknöpften und ihn in dunkle Gassen schubsten.
Hier stand er nun, Häuserdächer und Jahrzehnte entfernt von jenen Tagen; von seinem eigenen Terror.
Und hier, im Marais, nur ein paar Straßen entfernt von seiner neuen Obsession: Narcise Moldavi.
Auf einem Nachbardach auf der anderen Straßenseite bewegte sich ein Schatten, aber er hatte die Katze schon gespürt. Elegant und geschmeidig schlich sie auf vier leisen Pfoten zum Rand, drehte sich um und schaute ihn an, ihre blaugrauen Augen schienen ihn gut zu kennen. Der Mond streichelte ihr hellgraues Fell mit der Andeutung von Blau und Silber darin, und ließ die Kreatur fast aufglimmen.
Giordan stand ganz still da, das Glas halb zum Mund geführt, senkte es wieder, beobachtete. Wartete.
Der lange Schwanz der Katze zuckte, und sie maunzte leise, als wolle sie ihn verhöhnen.
Aber da war eine Straße – wenn diese auch recht schmal war – fünf Stockwerke unter ihnen, zwischen seinem Balkon und dem Hausgiebel der Katze. Das war weit genug entfernt, so dass Giordan nicht unter der Gegenwart der Katze litt. Und das war auch so in etwa die Entfernung, die er zwischen sich und einer Katze brauchte, um durch die Begegnung nicht geschwächt oder gar gelähmt zu werden; eine Tatsache, die er verabscheute.
Sein einziger Freund in jenen Jahren, als er von der Hand in den Mund lebte, verdreckt und frierend, war eine große, fette, orange getigerte Katze mit gelben Augen gewesen. Als das Blatt sich für ihn zu wenden begann, und er mehr als nur einen mickrigen Sous in der Tasche hatte, und dann allmählich ein Livre, dann zwei und es dann schneller mehr wurden, als Giordan schauen (und glauben) konnte, war Chaton (zugegebenermaßen ein wenig origineller Name, eine Katze auf das französische Wort „Kätzchen“ zu taufen) immer bei ihm geblieben.
In der Nacht, in der Luzifer ihm erschienen war, mitten in Giordans tiefsten Träumen – oder vielleicht waren es auch Alpträume geworden – hatte Chaton zusammengerollt und schnurrend auf seinem Bett neben ihm gelegen. Das war schon lange nachdem Giordan ein sehr schön eingerichtetes Haus erworben hatte, mit den größten, weichsten Gänsefedermatratzen, die sich auftreiben ließen, nachdem sich sein unerhörtes Glück in wirtschaftlichen Dingen als dauerhaft erwiesen hatte. Und so kam es, dass Giordan, als er am nächsten Morgen nach einem verschwommenen, dunklen Traum erwachte, in dem ihm der Teufel die Unsterblichkeit und Macht und noch mehr Reichtümer versprochen hatte, dass das Erste, was er erblickte, Chaton war.
Und das, so schrecklich es auch war, sollte das letzte Mal sein, dass er diese freundliche Katze streicheln oder im Arm halten oder auch nur in seiner Nähe haben würde.
Denn neben dem ewigen Leben und der Bedingung, frisches Blut zum Weiterleben trinken zu müssen, zusammen mit dem Mal des Teufels, oder Luziferzeichen, das sich wie böses, schwarzes Wurzelwerk über seinen Rücken spannte, hatte Giordan damit auch seine ganz persönliche Asthenie erworben. Seine Achillesferse.
Jeder der Drakule hatte eine besondere Schwäche, und wenn diese in seine Nähe kam, schnürte sie ihm die Luft ab, machte seine Glieder schwer, als würde man durch Wasser stapfen. Je näher sie kam, desto hilfloser wurde man, bei der bloßen Berührung war es, als würde man gebrandmarkt.
Und so hatte Giordan neben der Sterblichkeit und dem Altern auch sein Haustier aufgegeben.
Es war ein Opfer, das er bitterlich bereute, jetzt, hundertvierzehn Jahre später.
Er wandte seine Aufmerksamkeit von der blaugrauen Katze ab, die sich jetzt hingesetzt hatte und ihn unverwandt anstarrte, und schaute nach Osten. Hin zu dem Dach von Moldavis Zuhause, über welches sich bald der rosige Schimmer der Morgendämmerung ergießen würde.
Cezar besaß ein schmales Haus nah an der Grenze des Stadtviertels Marais, aber die meisten seiner Wohnräume befanden sich unter der Erde, schwer zugänglich, absolut sicher. Giordan war durch Katakomben geirrt, verziert mit Schädelhaufen und Gebeinebergen, weit unter den rues von Paris, um seinen Gastgeber zu finden. Die unterirdische Höhle war ganz anders als die unter Drakule sonst üblichen Unterkünfte, und er konnte nicht umhin sich zu fragen, was wohl die Gründe dafür waren.
Absicherung, sehr wahrscheinlich. Damit sowohl er selbst als auch seine wertvolle Schwester in Sicherheit waren.
Giordan nahm noch einen Schluck und ließ seinen Gedanken endlich freien Lauf.
Der Abend, an dem sie hier gewesen war, lag schon zwei Wochen zurück, die Nacht, die alles verändert hatte. Seit er sich in sie verliebt hatte ... einfach so.
Seit jenem Moment, in dem sie von ihm getrunken hatte, ihre vollen Lippen an seine Haut gepresst, ihre Zähne, die ihm ins Fleisch sanken, hatte er es gewusst. Nie zuvor hatte er etwas derart Starkes empfunden. Eine derartige ... Erfüllung. Eine derartige–
Wildes Gelächter explodierte in seine Stille hinein, und Giordan drehte sich um, als jemand seinen Namen rief.
„Da bist du“, rief Suzette, eine gemachte Vampirin, die sein Bett – und sein Blut – schon bei vielen Gelegenheiten geteilt hatte.
Sie und eine kleine Gruppe seiner Bekannten kamen gerade zur Tür heraus, die auf das Dach führte. Sie unterhielten sich fröhlich, Weinflaschen und Bierflaschen baumelten in ihren Händen. Und hinter ihnen her kamen – natürlich – noch zwei von Giordans ergebenen Dienern, sehr wohl fähig, alles zu unterbinden, was vielleicht nicht erwünscht wäre.
„Was machst du nur so ganz alleine hier oben, Giordan?“, fragte Felicia, eine weitere gezeugte Vampirin, mit der er auch schon Körperflüssigkeiten ausgetauscht hatte. Katzenhaft schlich sie an ihn heran, und Suzette rollte nur mit ihren glühenden Augen und wandte sich dem Mann an ihrer Seite zu. Eifersucht zählte nicht zu ihren Lastern.
Er lächelte ihnen zu, sein Gastgeberlächeln, sein nicht-ganz-heiteres-aber-sehr-freundliches und machte eine Geste hinaus zur Stadt der Lichter. „Ich habe doch nur auf euch gewartet, damit ihr mir Gesellschaft leistet. Die Aussicht ist doch berückend, nicht wahr?“
„Nicht annähernd so berückend wie diese“, krächzte ein betrunkener Brickbank, einer von Voss’ Freunden. Er starrte Suzette gerade lüstern in ihre sehr tief geschnittene Korsage, die aufgrund der Üppigkeit ihrer Brüste und der Art, wie diese noch hochgeschoben wurden, ein sehr tiefes V zwischen sich sehen ließen, in das ein Mann seine ganze Hand hineingleiten lassen könnte, auch quer. Giordan wusste dies aus erster Hand, gewissermaßen, und obwohl der Gedanke ihn in der Vergangenheit gelockt haben mochte ... heute Nacht tat er das nicht.
„Und was für eine Attraktion hast du heute für uns geplant?“, fragte der Comte Robuchard, der ziellos über das Dach schlenderte. „Vielleicht etwas Musik? Ein großes Feuer, auf dem wir Kastanien rösten können?“ Er war einer der wenigen Sterblichen, die von der Drakulia wussten und der zu manchen ihrer Festlichkeiten eingeladen wurde. Paris war voll von Geheimgesellschaften, aber die Drakule waren eine von ihnen, die wirklich im Verborgenen und unerkannt agierten, und unter ihnen befand sich auch mancher Angehörige der Oberschicht.
Stets der perfekte Gastgeber schob Giordan seine Grübeleien zu Narcise beiseite und antwortete sofort, „ich dachte daran, heute Nacht einmal vom Dach zu springen.“
Dieser Vorschlag – der ihm in dem Moment eingefallen war – wurde von den Frauen mit lauten Freudengekreisch und dann noch von männlichem Gebrüll begrüßt.
„Das wird noch aufregender als die Nacht werden, in der du inmitten der Flammen vor einer Horde Halunken getanzt hast“, stieß Felicia entzückt aus. Ihre Zähne hatten sich befreit, und jetzt sanken sie ein wenig in ihrer Unterlippe ein, als sie lächelte. „Die haben gedacht, der Teufel höchstpersönlich vollführt ihnen da einen Tanz!“
„Es wäre sehr aufregend“, stimmte Suzette zu, ihr Arm glitt nun durch den von einem anderen ihrer männlichen Begleiter. „Wirst du einen Überschlag machen oder einfach nur vom Rand per Schwalbensprung hinunterspringen?“
„Hmmm“, sagte er grinsend. „Ich sollte wohl besser etwas Spektakuläres tun, oder nicht?“ Giordan fing an, sich seinen Lieblingsüberrock aus bronzefarbenem Brokat abzustreifen, und er warf ihn einer der Damen zu, mit der er das Bett noch nicht geteilt hatte. Er lockerte die Schnüre unten an seiner Hose etwas, um sich mehr Bewegungsfreiheit zu verschaffen, und blickte hinab zur Straße.
Ein Fall oder ein Kopfsprung würde einem Drakule nichts anhaben, es sei denn, er spießte sich dabei – durch einen wahrhaft unglücklichen Zufall – mitten durchs Herz auf einem Stück Holz auf. Oder falls ihm auf dem Weg nach unten ein Guillotine-ähnliches Stück Metall den Kopf vom Rumpf abhackte. Hier sah er keines der beiden vor sich.
Solche eine Heldentat würde einen Sterblichen, der es zufällig mit ansah, sicherlich Angst einjagen oder aufschrecken lassen, aber gerade das machte den Reiz der Sache aus. Das hier war nicht wagemutiger, als ein Sterblicher, der in vollem Galopp auf einem Pferd über einen hohen Zaun setzte: gefährlich, aber keinesfalls notwendigerweise tödlich.
Und für Giordan würde nichts schief gehen. Er wollte die Leute nur unterhalten, nicht sich selber zum Narren machen.
„Bernard“, sagte er und winkte einen der Diener im Hintergrund heran, „geh nach unten und stelle sicher, dass ich einen Platz habe, wo ich ungehindert landen kann.“
Und nachdem er sichergestellt hatte, dass bei seinem Sprungwinkel von hier aus kein Hindernis auf ihn lauerte, knöpfte er sich die Manschetten auf, rollte seine Ärmel hoch und brachte sich am Rand des Daches in Position.
Unter den Rufen all seiner Freunde, seiner Begleiter, all derjenigen, die seine Nächte mit wilder Aktivität füllten, warf er ihnen ein blitzendes Lächeln zu und sprang.
Er war absichtlich weit vom Dach hinausgesprungen, und packte das Geländer des tiefer gelegenen Balkons am Gebäude gegenüber, auf dem die Katze gesessen hatte. Er schwang dort kurz hin und her, ließ dann los, machte einen Überschlag weg vom Geländer, so dass er unten auf dem Boden mit den Füßen voran auf den Pflastersteinen der schmalen Straße zu stehen kam.
Die Wucht der Landung auf zwei angewinkelten Beinen zwang ihn noch zwei Schritte zu gehen, was dem ganzen die Vollkommenheit etwas nahm – aber zumindest war er nicht auf seinem Kopf oder Hintern gelandet. Dann schaute Giordan schwer atmend hoch zu den Schatten, die sich dort an Rand seines Hausdachs aneinander drängten und machte eine elegante Verbeugung.
Beifall und Klatschen fielen leise bis zu ihm herab, und einige Droschkenkutscher starrten ihn an, direkt neben seinem treuen Diener Bernard, aber trotz des Zuspruchs, der ihm so reichlich zuteil wurde, stand Giordan nicht der Sinn danach, zu lächeln.
Er hatte sie gut unterhalten. Er hatte seine Bekannten mit Gaben von Essen, Trinken und den Zutritt zu seinem Haus und seinem Klub beschenkt. Er hatte immer und überall gute Gesellschaft um sich.
Aber innen drin fühlte Giordan, ihm fehlte etwas.
Und er wusste genau, was das war.