SECHZEHN

Zwei Wochen später
Reither’s Closewell, ein Dorf außerhalb Londons

Narcise lief in dem kleinen Zimmer auf und ab, versuchte nicht sich vorzustellen, was in der Kneipe unten gerade passierte. Versuchte nicht, sich das Treffen zwischen Chas und Giordan Cale vorzustellen.

Sie und Chas waren vor über einer Woche zu später nächtlicher Stunde in England an Land gegangen. In Sicherheit.

Dank seiner umsichtigen Planung, mit Livres und Guineen ausgestattet, die als Schmiermittel gewissermaßen dafür sorgten, dass ihre Kutschenräder glatt und problemlos durch die Blockade rollten, und dank ihrer Fähigkeit, Menschen mit dem Bann zu belegen, waren ihre Abreise aus Paris und die anschließende Reise über Land und dann die Überfahrt über den Kanal, trotz aller Spione, Wächter, Soldaten und der Blockade, schnell und auch reibungslos vonstatten gegangen.

Sie hatten nicht einmal in London Station gemacht, sondern waren jetzt schon direkt auf dem Weg zu seinem geheimen Landsitz in Wales, aber sie hatten für drei Tage hier in Reither’s Closewell, einem kleinen Dorf westlich von London, Halt gemacht, damit Chas Nachricht zu Corvindale schicken und noch eine Antwort abwarten konnte.

Während ihres Aufenthaltes hier war alles wunderbar verlaufen, bis Chas sich aus Narcises Armen – und ihrem Bett – erhoben hatte, um ihr mitzuteilen, dass er unten im Schankraum einen Gentleman treffen würde.

Als er sagte, „vielleicht erinnerst du dich gar nicht mehr an Giordan Cale“, und dann mit einem Lachen fortfuhr, „ ein mehr als ebenbürtiger Gegner. Ich bin ihm begegnet, als ich zu ihm hineinschlich, um ihn zu pfählen. Offensichtlich haben wir es beide überlebt.“

Narcise fand da ihre Stimme wieder. „Offensichtlich.“

„Ich kann ihn unten treffen, aber es wäre nicht so geheim wie hier oben“, sprach Chas. „Weniger Risiko, gesehen zu werden.“

„Nein“, war alles, was sie sagte. Aber innen drin wurde sie ganz starr vor Angst. Sie musste ihre Fingern zusammenrollen, um das Zittern zu verbergen.

„Wie du wünschst, Narcise.“

Und sie fragte sich da, was er wohl über ihre gemeinsame Vergangenheit mit Cale wusste.

Denn, auch wenn sie weiterhin miteinander intim waren und sich auch auf andere Art näherkamen, hatte sie Chas nichts davon erzählt, was sich damals mit Giordan und Cezar zugetragen hatte. Was vor über zehn Jahren passiert war, hatte keinerlei Bedeutung mehr, und es macht auch keinen Sinn, die Erinnerung daran zu wecken, diese schreckliche Zeit noch einmal zu durchleben.

Während sie sich das Gespräch zwischen ihnen vorstellte, versuchte sie ebenfalls, nicht daran zu denken, dass Giordan sie riechen würde, sobald er sich der Schenke und Chas näherte. Ihre Gegenwart war überall an Chas, wie ein Stempel, eine Hülle, und Giordan würde nicht nur wissen, dass sie sich in der Nähe befand, sondern auch genau wissen, welcher Art ihre Beziehung zu Chas war.

Würde das für ihn überhaupt einen Unterscheid machen?

Während Narcise ihr Zimmer wie eine gefangene Raubkatze abschritt, wobei sie dem schmalen Streifen Licht von der untergehenden Sonne aus dem Weg ging, fragte sie sich auch, was genau nun unter ihrer Beziehung zu Chas zu verstehen war.

Drakule hatte einfach andere Formen von Beziehungen als Sterbliche. Denn schließlich: die Ewigkeit war eine recht lange Zeit. Zu heiraten war sinnlos – zumindest, was eine Heirat mit einem Sterblichen betraf, der lange vor dem Drakule sterben würde, ganz zu schweigen davon, dass er altern und körperlich verfallen würde, während der Vampyr ewig jung bliebe. Und weibliche Drakule waren nicht in der Lage Kinder zu bekommen – zumindest nicht auf die Art, wie es ihre sterblichen Geschlechtsgenossinnen taten.

Und was die Liebe betraf... Narcise war zu dem Schluss gekommen, dass Liebe ein Konzept der Sterblichen war. Ein Fluch der Sterblichen. Drakule liebten nicht wirklich, denn zu lieben bedeutete, die Bedürfnisse und das Glück von jemand anderem an erste Stelle zu setzen.

Und das tat ein Vampyr schlichtweg nicht. Niemals. Und selbst wenn man so etwas einmal in Betracht ziehen sollte oder es gar tat, dann brannte und tobte Luzifer durch die pulsierenden Fesseln, die man auf dem Rücken trug, und bekehrte einen – wenn man es so formulieren wollte – dazu, wieder auf den rechten Weg zurückzukehren: an sich zu denken und sonst niemanden. Natürlich kreiste das Leben eines Drakule ausschließlich um Leidenschaft und Lust und Begierde, und wenn man zufällig auch Lust bereitete, in dem Moment, in dem man die eigene befriedigte, dann gut. Daher hatte das, was zwischen ihr und Giordan existiert hatte, gar keine Liebe sein können. Ganz und gar nicht.

Seit über drei Wochen waren sie und Chas bei ihrer Flucht vor Cezar nun Partner gewesen, und Liebhaber seit jenem Morgen, an dem Chas sie geküsst hatte. Und an dem Tag hatte Chas ihr gesagt, dass er etwas für sie zu empfinden begann, und auch, wie er es hasste, dass dem so war. Und das Band zwischen ihn beiden war seither stärker geworden.

Es war nicht mehr lediglich aus Lust und Begierde geknüpft, da waren nun auch zarte Fäden von Respekt und wachsender Achtung voreinander hineingewoben worden. Sie vertraute ihm, sie wollte bei ihm sein, sie genoss seinen Körper. Aber Narcise hatte dennoch nicht den Eindruck, dass sie Chas liebte.

Sie hatte das Gefühl, dass sie ebenso gut eines Nachts auch aufwachen könnte, nur um festzustellen, dass sie ihn in ihrem Leben nicht wirklich missen würde. Dass sie zwar traurig wäre, wenn er sie verließ, aber keinesfalls ... zerstört.

Das lag womöglich daran, dass ihr eine recht verstörende Sache an Chas aufgefallen war: er hasste – oder vielleicht war es auch schon Furcht zu nennen – ihre Drakule Eigenschaften, und er verachtete sich selbst dafür, sich zu einer Vampyrin hingezogen zu fühlen.

Es war, als würde er mit sich selbst einen Krieg ausfechten: Er wollte, dass sie ihn biss, von ihm trank ... aber er hasste sich selbst, wenn er auf derlei sexuelle Erregung einging.

Und doch empfand er tiefe Gefühle für sie. Er brachte ihr kleine Geschenke – Blumen, Spitze, einen Kamm für ihr Haar. Selbst eine Vorderschließe aus Elfenbein, die vorne exakt an ihr Korsett passte, senkrecht zwischen ihren Brüsten. Nicht breiter als zwei Finger und so dünn wie die Schneide eines Messers und etwa so lang wie ihre Hand, sie war wundervoll verziert mit geschnitzten Blumen und Ranken mit Blättern und selbst einer kleinen Sonne, die dort tapfer schien.

„Weil ich weiß, wie sehr du die Sonne vermisst“, sagte er ihr, als sie die Schnitzereien betrachtete und mit ihren Fingern die kunstvollen Verzierungen nachzeichnete. „So kannst du sie immer nahe bei deinem Herzen tragen.“

Und eben das hatte sie getan. Sie hatte sie in die kleine Tasche an ihrem Korsett gesteckt, und selbst jetzt noch presste sie mit der Hand dagegen und spürte, dort zwischen ihren Brüsten, den stabilen, kleinen Stab.

Dann hörte sie das polternde Geräusch von eiligen Schritten, die die Treppe hochkamen, und dann auch das hastige Scharren, als die Füße oben ankamen, und Narcise erstarrte, wartete. Wenn Giordan aus welchem Grund auch immer mit ihm hierher zurückkam...

Die Tür zum Zimmer wurde aufgerissen, und das Herz schlug ihr bis zum Hals, als sie erst einmal nur jemanden hereinwirbeln sah. Als sie Chas roch und auch erkannte, seine Haare dicht und wild, sein Gesicht angespannt und zornig, erstarrte sie erneut, ihr wurde eiskalt. Was hatte Giordan ihm erzählt? Was hatten sie da unten getrieben?

„Ich breche auf“, sagte er und warf schon Kleider in seine Tasche. Er hatte ihr kaum einen Blick zugeworfen. „Nach London. Voss. Er hat Angelica entführt.“

Wenn es Chas schon beunruhigte, dass er mit einem Vampyr zusammen war, so hatte er noch größere Angst, ja, er war geradezu panisch bei dem Gedanken, dass eine seiner Schwestern von einem Drakule entführt oder auch verführt werden könnte. Er kannte die Gewalt und die grauenvollen Dinge, die man ihnen da antun konnte, nur zu gut.

Wenn man hier ganz ehrlich sein wollte, so war Narcise ab und an tief eifersüchtig auf diese drei sterblichen Frauen gewesen, die einen Bruder hatten, der sie über alles liebte und der so besorgt um ihre Sicherheit war, dass er sein eigenes Leben riskierte, um das zu verhindern. Und wie es aussah, würde Chas auch seine Geliebte zurücklassen, wenn eine von ihnen in Gefahr schwebte – selbst wenn besagte Geliebte selbst in Gefahr schwebte.

„London?“, wiederholte sie, wobei ihr eine Menge Gedanken durch den Kopf schossen. „Aber das ist, wo Cezar zuallererst nach mir suchen wird. Nach uns“, fügte sie hinzu.

„Das mag so sein, aber ich muss gehen, Narcise.“ Chas blieb stehen und schaute sie jetzt an. „Ich habe alles arrangiert, so dass du hierbleiben kannst. Du bist hier sicher, und Cale wird dich dann nach Wales begleiten, während Corvindale und ich nach Voss suchen...“

Aber bei Cale wird dich mitnehmen hatte Narcise aufgehört, ihm zuzuhören. Ihr wurde so kalt, jeder Gedanke war wie weggefegt, ihr Magen sackte ruckartig weg, und ihr war schwindlig. Übel.

Ich kann ihn nicht wiedersehen. Das kann ich nicht.

Die Erinnerungen stürzten wieder über sie herein, die kurzen Blicke auf glatte, muskulöse Schultern im Schein des Feuers, ihr Bruder, der sich dahinter aufbäumte, Lippen verzerrt vor Lust und Schmerz ... der Duft von Verkommenheit und das rasende Glühen in seinen Augen. Hast du irgendeine Vorstellung davon, was ich für dich getan habe?

Sie schluckte tief und schüttelte leicht den Kopf. Nein. Bei den Schicksalsgöttinnen, nein.

„Ich werde mit dir mitkommen“, sagte sie hastig.

Chas unterbrach sein Packen und schaute sie scharf an. „Aber du willst nicht nach London gehen. Es ist zu gefährlich.“

„Du wirst mich beschützen“, sagte sie, wobei sie lächelte, verführerisch, aber nur ganz leicht, um es nicht zu übertreiben. „Ich möchte nicht von dir getrennt sein, Chas.“ Hier ließ sie ihre Stimme etwas leiser werden, bei dem Versuch, die Panik darin zu verstecken. „Du hast uns aus Frankreich herausbekommen, du hast Cezar stets überlistet, die ganze Zeit ... und London ist deine Heimatstadt. Dort wirst du noch viel geschickter und schlauer vorgehen können. Und dann, ich würde auch gerne deine Schwestern treffen. Und auch Dimitri.“

Sein Gesicht entspannte sich nicht ganz. „Ich gebe zu, ich hätte dich auch lieber bei mir. Aber ich habe nicht geglaubt, dass du bereit wärst, dieses Risiko auf dich zu nehmen.“

„London ist eine riesige Stadt“, antwortete sie, so überaus erleichtert nach seinen Worten. „Da gibt es sicherlich viele Plätze, an denen man sich verstecken kann. Abgesehen davon, das, was Cezar sicherlich am wenigsten erwartet, ist, dass wir dorthin gehen und uns vor aller Augen dort verstecken.“

Chas nickte. „Dann fang an zu packen. Ich werde Cale Nachricht zukommen lassen, dass seine Dienste als Begleiter auf der Reise nach Wales nicht mehr benötigt werden.“

„Ich bin mir sicher, dass diese Aufgabe dem Mann auch nur eine lästige Pflicht gewesen wäre“, sagte sie und wandte sich ab, um ihre eigenen Habseligkeiten – so wenige das nun waren – in einer anderen Tasche zu verstauen.

Sie hatte auf eine Antwort gehofft, die ihr irgendwie verraten würden, welche Gefühle Giordan nun ihr gegenüber hatte oder zeigte, aber Chas blieb diese Antwort schuldig, denn er war schon auf dem Weg nach unten.

Da zwang sie sich dazu, wieder normal zu atmen, und sie schloss die Augen und dankte den Schicksalsgöttinnen – oder wem auch immer – dafür, dass sie ihr geholfen hatten, einer unerträglichen Situation aus dem Weg zu gehen.

In Begleitung von Giordan Cale nach Wales zu reisen?

Lieber würde Narcise zu Cezar zurückgehen.

*

London, eine Woche darauf

 

„Du bist ein recht ungewöhnlicher Vampir, Giordan Cale, so wahr ich hier stehe – oder liege.“

Er schaute hoch, von dort, wo er gerade genüsslich eine Mahlzeit von Rubeys warmer, zarter Schulter zu sich nahm, das hier war ein bisschen Vorspiel, und jetzt zog er sanft seine Zähne aus ihrem Fleisch. Während er das letzte Tröpfchen Essenz hinunterschluckte, lächelte er kurz und fuhr dann mit Zunge und Lippen über die Bisswunden.

„Wie meinst du das?“, erwiderte Giordan und lehnte sich auf dem Diwan zurück. Rubey, die sich am anderen Ende von eben jenem Diwan halbliegend zurücklehnte, sah auch wirklich zum Anbeißen aus. Sie hatte strohblondes Haar, dass sich in Ringellocken um ihr Gesicht legte, wenn es nicht zusammengebunden oder anders frisiert war, und in dem man schon mal auch die eine oder andere graue Strähne entdeckten konnte. Heute Nacht hatte sie es einfach im Nacken lose zusammengebunden, und einzelne Löckchen spielten ihr neckisch um Schläfen und Ohren. Ihr wohlgerundeter aber dennoch schlanker Körper erinnerte einen an Pfirsiche, sowohl was die Farbe betraf, als auch im Geschmack, und Giordan bildete sich ein, dass selbst ihr Blut stets eine leichte Note von Pfirsichbrandy hatte. Denn das war schließlich Rubeys Lieblingsgetränk, und er sorgte dafür, dass ihr Getränkekabinett stets eine reiche Auswahl davon hatte. Ihr Gesicht war eher auffällig denn im klassischen Sinne schön zu nennen, mit den graugrünen Augen, deren äußere Winkel leicht nach oben schwangen und den sehr markanten, hohen Wangenknochen.

Er hatte sie nie etwas anderes tragen sehen, als die teuersten Kleider und nur die neueste Mode, und auch heute Abend bildete da keine Ausnahme. Sie trug ein seidenes, blasses Grün mit Schleifen von einem dunkleren Grün und auch Gelb, die ihr Mieder aufreizend verschnürten. Dank ihm war besagtes Mieder schon etwas gelockert und gab den Blick frei auf die eine Hälfte ihres großen, entzückenden Busens sowie auf eine bemitleidenswerte Schulter, an der sich kleine Rinnsale von Blut in der Vertiefung ihres Schlüsselbeins sammelten.

„Warum das so ist und wie genau, ach, es würde zu lange dauern, bis ich das alles aufgelistet habe“, erwiderte sie mit einem bedauernden Kopfschütteln und leicht irischem Akzent. Ihre Augen versprühten Witz und Intelligenz.

Giordan lächelte kurz und dachte darüber nach, diese Schleifen an ihrem Mieder noch weiter zu lockern, aber stellte dann fest, er war heute Nacht nicht allzu interessiert, dieser Art von Vergnügen nachzujagen.

„Vielleicht könnte ich dich bitten, mir nur ein Beispiel zu geben“, erwiderte er im Plauderton, während seine Gedanken von der Unterhaltung wegglitten zu ... anderen Themen, mit welchen er sich im allgemeinen lieber nicht zu ausführlich befasste, Die er lieber in der Dunkelheit beließ, der sie angehörten.

Er erhob sich von dem Diwan, nur in ein Hemd und den derzeit für Männer modischen, langen Beinkleidern gekleidet, und ging zu dem Getränkekabinett. Sie befanden sich selbstverständlich in Rubeys privaten Gemächern, in einem separaten Gebäude, ein gutes Stück entfernt von dem Freudenhaus sowie den anderen Mitgliedern ihres Haushalts, ihren Dienern – von denen die meisten gerade auch privaten Vergnügen nachgingen.

„Also gut“, erwiderte sie, und er spürte ihren Blick auf sich, als er sich ein Glas Whisky einschenkte.

Es standen zwei kleine Karaffen von frischem, rubinroten Blut dort, aus denen er seinem Drink noch etwas hätte beimengen können, aber er war sich nicht sicher, woher sie stammten, und er wagte es nicht, das Risiko einzugehen.

Seitdem er das, was er immer nur als die Nachhölle bezeichnete, durchgestanden hatte, musste er sehr vorsichtig sein, wo und von wem er trank.

Eine ganze Reihe von Dingen hatte sich seither geändert.

„Du hast die Mausefallen ausgetauscht“, sagte Rubey versonnen, als er ihr ein kleines Glas von dem Pfirsichbrandy einschenkte.

„Und das macht mich außergewöhnlich? Den armen Tierchen wurde der Hals zerquetscht von den Federn der Fallen“, erwiderte er, als er ihr das Glas reichte.

„Jawohl, denn warum sollte das dich denn bekümmern? Die Mäuse haben bei mir nichts zu suchen, und wenn sie meinen, mich hier doch besuchen zu müssen, dann werden sie den Preis dafür zahlen“, antwortete sie spitz.

„Sind wir da nicht ein bisschen arg blutrünstig?“, fragte er, wobei er sich leicht unbehaglich fühlte, bei der Wahl ihres Beispiels. Er war jetzt anders, und nicht einmal Dimitri kannte die ganze Geschichte.

Der dachte nur, dass Giordans Essgewohnheiten sich verändert hatten... Aber es steckte sehr viel mehr dahinter.

„Aber diese neuen Fallen, das einzige, was die tun, ist, dass die kleinen Bastarde gefangen genommen werden, bis man sie wieder irgendwo laufen lässt“, sagte Rubey. „Um sich in das Haus von jemand anderem einzuschleichen.“

„Besser als in deins“, antwortete Giordan und überlegte, dass es vielleicht ein gutes Ablenkungsmanöver wäre, diese Schleifen da doch noch zu lockern. Er ließ sich also wieder auf dem Diwan nieder – und dieses Mal deutlich näher bei ihr, sein Oberschenkel lag jetzt genau neben der Stelle, wo ihre Röcke leicht raschelten.

„Und dann wäre da noch die Art und Weise, wie du dich ernährst“, sprach sie weiter, während sie ihn recht scharf beobachtete. „So sicher wie ein sonniger Tag lang ist, gleichst du keinem anderen Vampir, dem ich je begegnet wäre. Außer Dimitri natürlich, aber der nimmt ja keinen Schluck von niemandem.“

„Ich bin recht wählerisch, was die Wahl meiner Erfrischungen betrifft“, stimmte Giordan ihr halb zu, während er seine Finger hoch zu den Schleifen wandern ließ und sie dort in die losen Knoten flocht. „Bist du das denn nicht?“, fragte er lächelnd.

Aber dann, Rubey musste sich nicht umgehend ihres Mageninhaltes entledigen, wenn sie einmal ein Steak oder ein Hühnerbein zu sich nahm...

Er konnte sich gut an jene finsteren, trostlosen Tage erinnern, als er nicht begriffen hatte, was ihm geschah, und er nicht verstanden hatte, warum, kaum dass er sich gesättigt hatte, ihm alles sogleich wieder hochkam, unvermittelt, unweigerlich und recht widerlich. Hals und Mund waren wie ausgedörrt, sein Magen war wund und matt von den fortdauernden Krämpfen. Der Geschmack von Essen und Magensäure in einem, das ihm rasant schnell den Hals hochstieg und ihm in Mund und Nase brannte, war eine ekelerregende, erniedrigende Erfahrung gewesen, die er niemals vergessen würde.

Er hatte den Schicksalsgöttinnen zu danken für Drishni und Kritanu, die ihm begreifen halfen, wie er sich verändert hatte. Wie er der Stimme wohl eine Antwort gegeben haben musste, die damals in seinem Kopf gefordert hatte: Wähle.

Wie er nach all dieser Finsternis doch noch zum Licht gefunden hatte. Beruhigend, friedvoll, warm ... nach unzähligen Jahren der Finsternis.

Wenn sie nicht gewesen wären, wäre er verrückt geworden.

Noch verrückter, als er ohnehin schon war, nach Narcise.

Rubey verzog missbilligend den Mund. „Gewiss, und es ist doch Ironie des Schicksals, wie ich hier ein Freudenhaus führe für diejenigen, die Blut trinken, wenn mir schon bei dem Gedanken an ein blutiges Steak oder dem Schenkel einer Henne übel wird. Mein Vater hat nie verstanden, warum ich schon mit Kartoffeln und Bohnen glücklich war.“

Giordan hätte vielleicht geantwortet, aber sein neuerwachtes Interesse an ihrem Ausschnitt, der sich beträchtlich erweitert hatte, wurde von einem Klopfen an der Tür unterbrochen.

„Verdammt“, sagte Rubey, die hierüber wohl recht enttäuscht war. „Was ist denn?“, rief sie zur Tür.

Die Tür ging langsam auf, und einer ihrer Diener trat ein, mit einem kleinen Silbertablett in den Händen. „Es ist gerade eine Nachricht für Mr. Cale eingetroffen“, sagte er.

Cale nahm die Nachricht entgegen, die das Siegel Corvindales trug, und brach das Siegel auf. Treffen heute Abend hier mit Woodmore. Voss immer noch in London. Komm.

Er faltete den Bogen wieder zusammen, und eine Menge Gefühle schwirrten ihm dabei im Kopf herum – zuvorderst und am stärksten darunter Schmerz. Aber Giordan holte einmal tief Luft, fing sich, und nach einem kurzen Augenblick war ihm auch nicht mehr rot vor Augen, und das grauenvolle Gefühl von Fesseln, zu ersticken, ließ nach. Seine Finger entspannten sich wieder.

Es hatte Zeiten gegeben, da hätte er keinen Gedanken daran verschwendet, hätte nicht gezögert, jemandem wie Woodmore das Genick zu brechen – insbesondere, da er vor ein paar Monaten den Mann in den Räumen vorgefunden hatte, die er, Giordan, in London angemietet hatte, wie er sich darauf vorbereitete, ihm einen Pflock durch das Herz zu jagen. Eine Art grauschwarzer Rauch qualmte kümmerlich aus dem Kamin, und Woodmore war nicht darauf vorbereitet, dass Giordan tagsüber wach war und, so erfuhr Giordan später, dass es zu einer Art Fehlzündung bei irgendeiner Rauchexplosion gekommen war.

Aber jene Tage der schnellen Gewalt, ohne Umschweife zuzuschlagen, waren vorüber, und als Giordan erfuhr, dass sein Möchtegernangreifer kein geringerer als Chas Woodmore war, ein Geschäftspartner und Freund von Dimitri, hatte er es als ein bedauerliches Missverständnis durchgehen lassen. Er hatte dem Bastard sogar geholfen, bei den Vorbereitungen für seine Mission, Cezar Moldavi zu ermorden.

Aber diese bereitwillig gewährte Hilfe war, bevor er Woodmores Bitte nachgekommen war, ihn in Reither’s Closewell zu treffen ... und er Narcise roch. Überall. Überall an Woodmore.

Selbst die Information, die Woodmore ihm geben wollte – dass Cezar Moldavi in den letzten zehn Jahren keineswegs seine Obsession im Hinblick auf Giordan vergessen hatte –, selbst das interessierte ihn nur wenig.

Es lag auch für Giordan schon immerhin zehn Jahre zurück. Die zehn Jahre waren sowohl endlos lang gewesen, als auch kurz, viel zu kurz. Es schmerzte noch.

Jetzt stand er auf und zwang sich dazu, betont sorglos zu dem Stuhl hinüberzuschlendern, wo seine abgelegten Schuhe noch standen, setzte sich hin und zog sie an.

Er hatte natürlich gewusst, dass sie zusammen reisten; dass Woodmore ihr geholfen hatte, aus Paris zu fliehen – oder dass er sie entführt hatte. Die Details kannte niemand so genau. Aber sie so zu riechen ... so verführerisch und voll und feminin. Narcise.

Im dem Augenblick war ihm, als hätte man ihn gegen eine Steinmauer geschleudert: Ihm blieb die Luft weg, Schmerz pflanzte sich in schockartigen Wellen durch ihn fort und hinterließ nur taubes Gefühl.

Giordan wusste nachher gar nicht, wie er es durch das Treffen in dem Gasthof dort geschafft hatte, nachdem er einmal ihren Geruch in der Nase hatte. Es war die Art, wie Woodmore diesen Geruch verströmte, gleichsam aus allen Poren, wie er sich mit dem Geruch von Woodmore selbst vermischte, eins wurde ... höhnisch und vertraut und schrecklich heimtückisch.

Ihm wurde selbst jetzt noch schwarz und rot vor Augen, außerstande etwas klar zu erkennen. Er bekam die Erinnerung an den Ekel in ihrer Stimme, dem Horror in ihren Augen nicht mehr aus dem Kopf.

Als ob sie sich etwas Schlimmeres vorstellen könnte als das, was er getan hatte. Für sie.

Er hatte versucht, es ihr zu erklären, damit sie begriff ... aber sie wollte ihm nicht zuhören.

Sie war nicht bereit, ihm zuzuhören.

Entweder hatte sie ihn niemals geliebt oder ihm vertraut, oder ihre Liebe und ihr Vertrauen war nie groß genug gewesen.

So wie die Dinge lagen, wusste er auch nicht, wem er dafür dankbar sein konnte, dass Narcise sich entschieden hatte, mit Woodmore nach London zu kommen, anstatt in Begleitung von Giordan nach Wales aufzubrechen. Er bezweifelte, dass er diese Reise noch bei Verstand überlebt hätte.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte ihn Rubey.

Giordan wusste gar nicht, wie lange er schon geschwiegen hatte – er hatte sich fertig angekleidet und war dabei, zur Tür des Zimmers zu gehen, bevor sie das fragte. „Dimitri bittet mich zu ihm“, sagte er ironisch. „Und wenn der Earl nach einem schickt, muss man folgen.“

Sie betrachtete ihn mit diesen klugen Augen. „Wann sehe ich dich wieder?“, fragte sie. Da war kein Schmollen, es war nicht einmal eine Einladung, sondern eine Geschäftsfrau, die einen neuen Termin vereinbart. Rubey war aus eigenem Entschluss eine Frau, die keinem Mann gehörte, und das lag auch nicht daran, dass es ihr an Angeboten gemangelt hätte.

„Wenn ich das nächste Mal trinken muss“, sagte er unverbindlich und war dann doch wieder schnell an ihrer Seite. Er drückte ihr einen Kuss an die Schläfe und sagte, „mit Ihrer Erlaubnis, Madame.“

„Selbstverständlich“, erwiderte sie gekünstelt arrogant. Aber er spürte, wie sich ihre neugierigen Blicke in seinen Rücken bohrten, als er zur Tür rausging.

Die Fahrt nach Blackmont Hall, dem Wohnsitz des Earl von Corvindale, wurde verzögert durch einen Kutschenunfall auf der Bond Street. Giordan war nicht verstimmt wegen dieser Verzögerung, denn es verschaffte ihm noch etwas Zeit zu grübeln, nachzudenken, sich zu entscheiden. Ob er überhaupt gedachte, dorthin zu fahren.

Die Straßen waren relativ ruhig, denn so spät nachts waren alle Läden geschlossen, aber Straßen und Stege waren keinesfalls leer. Kutschen und Mietdroschken polterten vorüber, viele Fußgänger liefen in den Schatten die Straße entlang – manche von ihnen hatten nur wenig Gutes im Sinn, andere waren einfach auf dem Weg von einer Kneipe, einem Klub, einem Theater oder einer Geselligkeit zur nächsten.

Giordan saß einfach schweigend in seiner luxuriös ausgestatteten Kutsche und dachte darüber nach, wie viel eine Freundschaft wohl aushielt. Wenn es irgendjemand anderes als Dimitri gewesen wäre, hätte er die Aufforderung ignoriert. Als Woodmore ihm die geheime Botschaft zusandte, nach Reither’s Closewell zu kommen, hatte er nicht gewusst, was ihn erwartete.

Aber jetzt wusste er es. Und er war sich nicht sicher, ob er in der Lage war, mit Woodmore in einem Zimmer zu sein, ohne dem Mann bei lebendigen Leibe die Haut abzuziehen. Egal, wie er sich verändert hatte.

Er hatte niemandem ein Leid getan, ja kein Haar gekrümmt, geschweige denn sie gebissen, seit der Hölle Danach.

Anstatt weitere Gedanken an Chas Woodmore zu verschwenden, zwang Giordan sich, eine Bestandsaufnahme zu machen, von dem, was er wusste, und er fragte sich, warum Dimitri es für notwendig erachtete, ihn heute Abend dabei zu haben.

Voss war mit Angelica Woodmore durchgebrannt. Er hatte behauptet, es sei alles zu ihrem Schutz geschehen, Schutz vor Moldavis Männern, die wie vorauszusehen war, Narcise und Chas von Paris aus nachgereist waren.

Giordan war in London gewesen – aber an jenem Abend war er mit Rubey zusammengewesen und daher nicht auf dem Wachposten bei der Entführung, als Belial und drei andere einem Maskenball einen Besuch abgestattet und drei Menschen ermordet hatten. In der Nacht und am folgenden Tag hatten Dimitri und er zusammenarbeiten müssen, um Augenzeugen mit dem Bann zu belegen und die Geschichte in ihren Erinnerungen etwas zu „korrigieren“. Andernfalls hätten die Vorkommnisse vielleicht eine große Panik ausgelöst, so wie die vor ein paar Jahren in Brüssel, nach einem ähnlichen Zwischenfall. Kurz darauf war Giordan nach Reither’s Closewell aufgebrochen, um Chas die Nachricht von der Entführung schonend beizubringen.

Aber bis Giordan wieder in London eintraf, wobei Chas ihm sicher dicht auf den Fersen folgte, war Angelica schon wieder sicher von Dimitri nach Hause, also nach Blackmont Hall gebracht worden.

Was nichts daran änderte, dass der Earl immer noch tobte, weil Voss es gewagt hatte, eine der Woodmore Schwestern zu entführen, während er, Dimitri, für sie verantwortlich war, in der Abwesenheit ihres Bruders. Und wenn man dem Ton der Botschaft von heute Abend glauben durfte, hatte er vor, Voss zu finden und mit ihm abzurechnen. Was bei Dimitri sehr wahrscheinlich hieß, den Bastard umzubringen.

Zwischen Voss und dem Earl herrschte böses Blut, seit jenem Zwischenfall vor über hundert Jahren in Wien, bei dem Dimitris Haus bis auf die Grundmauern abgebrannt war. Die gegenwärtige Situation mit Angelica – welche der Earl ganz sicher zumindest als unverschämt und unverfroren interpretieren würde, und schlimmstenfalls als grobe Beleidigung – machte die Lage so gut wie unhaltbar.

Und daher würde Giordan der Aufforderung, nach Blackmont zu kommen, Folge leisten, und wenn es nur war, um Dimitri davon abzubringen, kaltblütige Morde zu begehen, und um ihm zu helfen, Voss zu finden, falls nötig.

Und das war anscheinend das Ausmaß dessen, was eine Freundschaft so alles aushielt.

Blackmont Hall – fast so trübe und kalt wie der Name und sein Bewohner schon andeuteten – war umgeben von hohen, glatten Steinmauern, die oben mit spitzen Splittern aus Metall und Holz versehen sowie von Laternen beleuchtet waren. Die zwei Dutzend Laternen wurden jeden Abend angezündet und brannten bis zum Morgengrauen, gleichgültig, ob der Earl nun da war oder nicht. Abgesehen von dieser rein baulichen Maßnahme hatte der Earl ein ganzes Regiment von Leibwächtern – sowohl Sterbliche als auch Gemachte – zu seiner Verfügung, welche über die Schwestern und das Anwesen wachten.

Wenn es einen Platz in London gab, an dem man vor Belial oder anderen unerwünschten Gästen sicher war, dann war es die Corvindale Residenz.

Der Wachtposten an der Einfahrt kannte Giordan sehr gut, und er wurde durchgewunken, kaum hatte er den Hut und den Umhang abgenommen, die er gegen den ständigen englischen Nieselregen stets trug. Crewston, der Butler in Blackmont Hall, öffnete die Eingangstüre und sagte, „seine Lordschaft befindet sich mit verschiedenen Gästen in seinem Arbeitszimmer. Darunter auch seine beiden jungen Mündel.“ Aus seinem Ton konnte man deutlich heraushören, dass er nur wenig von der Anwesenheit der beiden Woodmore Schwestern bei einem Treffen hielt, das seiner Ansicht nur für Männer geeignet war. „Anscheinend kam es heute Abend zu einer Art Vorfall.“

Er übergab dem Butler Hut und Umhang und trat dann in die Eingangshalle ein. Und erstarrte. Narcise.

War. Hier.

Nur mit größter Mühe blieb er nicht wie angewurzelt stehen, obschon seine Schritte etwas langsamer und abrupt wurden, als er an Crewston vorbei den Korridor hinunterging. Das Herz hämmerte ihm, seine verfluchten Hände drohten feucht zu werden, aber – bei den Schicksalsgöttinnen – das würde er nicht zulassen. Er wischte sich die Handflächen an den Hosenbeinen ab und ging weiter.

An der Tür zum Arbeitszimmer, die leicht angelehnt war, wohl – wie Giordan mal vermutete – aufgrund von Dimitris Mitgefühl mit ihm, und dann war es vielleicht auch als Vorwarnung für ihn gedacht; an der Tür lauschte er und wartete auf einen günstigen Augenblick, um das einzutreten. Der Earl hatte ihm die Möglichkeit des Überraschungsmoments gegeben, und er gedachte, dies zu seinem Vorteil auszunutzen.

Jemand sagte gerade etwas in einem Ton voller Abscheu, „Sie müssen Narcise Moldavi sein. Die Vampirin.“ Die Stimme, die da durch die Tür an sein Ohr drang, erkannte er als die von Angelica Woodmore.

„Das bin ich.“ Narcises Stimme war tief und rauchig, wie sie es schon immer gewesen war, und doch lag jetzt ein verärgerter Unterton darin. Giordans Herz hämmerte sehr ungemütlich, und er presste kurz die Augen fest zusammen, hätte beinahe die Antwort von der Woodmore Schwester verpasst.

„Sind Sie gekommen, damit wir Sie in unserer Familie willkommen heißen?“, schoss Angelica zurück.

Sie war offensichtlich genauso wenig erfreut darüber, dass Narcise und Woodmore zusammen waren, wie er selbst es war.

Oder vielmehr, nein. Vielleicht war es nicht so sehr, dass die beiden intim miteinander waren, was Giordan störte, wenn man es genau betrachtete. Es war eher die Tatsache, dass sie hier war. Er würde sie sehen müssen. Er würde vielleicht sogar mit ihr reden müssen.

Und die ganze Zeit so tun, als würde es ihn nicht innerlich zerreißen, weil er sie so sehr wollte. Wieder.

„Eigentlich, Mademoiselle, setze ich durch mein Herkommen nur mein eigenes Leben aufs Spiel, und alles nur wegen Ihnen.“ Er hörte da außer Narcises Stimme noch leise ein Glas klirren. Sie selber klang hart und gefühlskalt. „Ihr Bruder hat erfahren, dass Voss Sie entführt hat, und bestand darauf, nach London zu kommen, egal was das nun für meine Sicherheit bedeutete.“

Auf einmal packte ihn die Wut, dass Narcise die junge Sterbliche für ihre eigenen Unzulänglichkeiten verantwortlich machte, und er öffnete die Tür. „Du weißt sehr wohl, dass du ihn nicht nach London begleiten musstest. Schieb deine eigene Feigheit jetzt nicht dem Mädchen in die Schuhe, Narcise.“

Er hätte seinen Auftritt nicht besser planen können. Alle Augenpaare im Zimmer flogen zu ihm hin, aber er schaute nur in eines von ihnen. Sie blitzen auf, Schock darin, und auch Furcht, tief unten ... und dann waren sie wieder nur kalte, herzlose Saphire.

Furcht, oh oui, die war da zu sehen. Und das war auch gut so. Wenn sie sich auch nur annähernd eine Vorstellung davon machte, wie er darum hatte kämpfen müssen, dass er im Licht blieb ... wie sehr, auch jetzt noch, nach seiner Verwandlung. Er würde es riskieren, sie nur an den Schultern packen, und sie zur Vernunft bringen – sie zwingen zu verstehen, ein Gefühl dafür zu haben, was er getan hatte...

Die Stimme in seinem Kopf, die Stimme des Lichts, sagte: Sie ist nicht bereit. Sie kann dich nicht hören.

Aber oh ja. Eine Frau könnte einen Mann dazu treiben, abscheuliche Dinge zu tun. Etwas zu tun, was er sich kaum vorstellen konnte. Aus Liebe oder, genauso bereitwillig, aus Hass.

Übelkeit bereitete ihm ein Schaudern tief unten, in seinem Magen, und er schob diese schmutzigen, grauenvollen Erinnerungen weg.

Narcise stand in der Nähe des Getränkekabinetts, gekleidet war sie in Männerkleidern. Er konnte sehen, dass man sie als Mann verkleidet hatte – einen älteren Herrn, wenn man von den Linien in ihrem Gesicht ausging, welche wohl Alter und Falten darin betonen sollten. Ironischerweise hatte sie diesen Trick von Giordan gelernt, während seiner heimlichen Besuche bei ihr. Verschmierte Linien ließen ihr Gesicht hagerer aussehen ... ein Gesicht, dass immer noch so schön und vollkommen war, wie es schon immer gewesen war. Eine Maske, unter der sich Treulosigkeit und Wankelmut verbarg.

In der Hand hielt sie einen Hut, den sie sich vermutlich gerade abgenommen hatte, um ihr wahres Geschlecht zu offenbaren.

Narcises einzige Reaktion auf Giordans Worte und sein Erscheinen war, dass sie in ihrer höhnischen Grimasse ihre Zähne kurz aufblitzen ließ, während sie den Hut auf einen Tisch warf. Sie nippte an ihrem Whiskyglas und ging dann zu Woodmore und stellte sich demonstrativ neben ihn.

Aber Giordan schenkte ihr keinerlei Beachtung mehr. Er hatte ihr den Rücken zugedreht, obwohl er sich natürlich genau bewusst war, wo sie stand und ob sie sich bewegte. Er zwang seine Finger, die sich zusammengekrallt hatten, locker zu bleiben, als er sich die anderen Personen im Zimmer anschaute.

„Miss Woodmore, Angelica, darf ich Ihnen meinen Freund Giordan Cale vorstellen“, sagte Dimitri, und erhob sich dann von seinem Platz in der Ecke des Zimmers, ging zum Getränkekabinett und schenkte ein neues Glas Whisky ein.

„Chas, was um Himmels Willen geschieht hier?“, fragte Maia.

„Das wollte ich euch gerade erklären“, erwiderte Chas sanft. „Und das werde ich tun ... vorausgesetzt, es gibt keine weiteren Unterbrechungen?“ Er schaute Narcise an, aber es war kein vorwurfsvoller, sondern eher ein liebevoller Blick.

Ah, der verdammte Narr liebte sie.

„Du nimmst uns mit nach Hause “, sagte Maia mit fester Stimme, und in dem Moment verspürte Giordan kurz Mitleid mit seinem Freund Dimitri. Die Ältere der beiden Woodmore Schwestern war ganz offensichtlich genauso stur und halsstarrig wie ihr Bruder – und deutlich weniger taktvoll. „Morgen?“ Es war eher ein Befehl, denn eine Frage, und sicherlich keine Bitte.

Narcise bewegte sich, und ihr Liebhaber ebenfalls. „Ich fürchte, das ist derzeit leider nicht möglich“, sagte Woodmore.

„Was meinst du damit? Du bist zurück. Es gibt keinen Grund für uns, länger hier zu bleiben“, sagte Maia.

„Enttäusche das Mädchen doch bitte nicht, Chas“, sagte der Earl. „Nimm sie mit nach Hause.“ Dann schaute er herüber. „Oder vielleicht möchte Giordan für eine Weile die Gouvernante sein?“

Cale schnaubte zur Erwiderung. „Nicht im Traum fiele es mir ein, dich dieser Rolle zu berauben, Dimitri.“ Und er ließ seine – also die normalen – Zähne in einem falschen Lächeln aufblitzen und nahm ein dringend benötigtes Glas voll Whisky aus der Hand des Earl entgegen. Er musste an sich halten, es nicht sofort hinunterzustürzen. Giordan spürte, wie Dimitri ihm aufmunternde aber auch warnende Blicke von der Ecke aus zuwarf, wo er wieder Platz genommen hatte.

„Aber warum können wir nicht mit dir kommen, Chas?“ fragte Maia.

„Corvindale bleibt bis auf weiteres euer Vormund“, sagte er kurz angebunden, „aber ich wollte nicht tatenlos zusehen, wie Voss meine Schwester kompromittiert.“

„Er hat mich nicht kompromittiert“, sagte Angelica.

„Das macht keinen Unterschied“, erwiderte Chas und blickte sich im Zimmer um. „Wir wissen, er war heute Nacht hier, Angelica. Ob du ihn nun eingeladen oder willkommen geheißen hast oder–“

„Ich habe ihn ganz sicherlich nicht eingeladen!“ Das Mädchen war offensichtlich außer sich vor Zorn und fühlte sich in ihrer Ehre angegriffen. „Ich würde eine derart schreckliche Kreatur nirgendwohin einladen!“ Anscheinend teilte sie die Abneigung ihres Bruders, was Vampire und ihre langen Zähne anbetraf.

„Das macht keinen Unterschied“, sagte Chas unerbittlich. „Corvindale und Cale werden mir dabei helfen, ihn aufzuspüren. Und dann werde ich ihn umbringen.“

Giordan behielt die stichelnde Verärgerung, die ihn angesichts dieser anmaßenden Reden von Woodmore überkam, für sich und fühlte eher, als dass er es sah, wie sich Narcise hinter ihm auf die andere Seite des Zimmers begab. Sie gab sorgsam Acht, nicht in sein Gesichtsfeld zu laufen. Ihre Essenz hing aber in der Luft, brachte die Luft zum Schwingen, war immer noch so verlockend und feminin wie damals in Paris ... aber nicht ganz dieselbe.

„Da es scheint, als würden Sie noch eine Weile unter meinem Dach wohnen, Miss Woodmore – Angelica –, sollten Sie sich vielleicht wieder auf Ihre Zimmer begeben“, fiel Dimitri da abrupt ein, wobei er erneut von seinem Stuhl aufstand, auf dem er wieder Platz genommen hatte. „Der Morgen dämmert bald.“

Giordan, der in mancher Hinsicht seinen Freund besser kannte als Dimitri sich selbst, vermutete, dass der Mann am Ende seiner ohnehin schon nicht übermäßigen Geduld angelangt war. Leute waren in das Arbeitszimmer des Earl und in seine Bibliothek eingefallen, ganz zu schweigen davon, dass seinem Einsiedlerdasein ein jähes Ende beschert worden war, durch diese neuen Mitglieder seines Haushalts, und das würde wohl auch noch eine ganze Weile so bleiben.

Der Earl wollte niemanden mehr sehen.

In der Aufregung der Gutenachtwünsche und des Abschiednehmens zwischen den beiden Woodmore Schwestern und ihrem Bruder, sowie einem Earl, der die beiden Frauen entschlossen aus dem Zimmers geleiten ließ, gelang es Giordan, sich so zu positionieren, dass es Narcise unmöglich war, das Zimmer zu verlassen, ohne direkt an ihm vorüberzugehen.

Und es kam auch noch so, ob nun zufällig oder so von Dimitri beabsichtigt, dass Narcise von ihrem Liebhaber getrennt wurde und alleine mit Giordan im Zimmer zurückblieb. Sie wäre an ihm vorbeigeschlüpft, diese feige Frau, wenn er nicht einen kleinen Schritt nach vorne gemacht hätte und sich ihr in den Weg stellte. Jetzt musste sie ihn berühren, wenn sie vorhatte, zu entkommen und einem Gespräch aus dem Weg zu gehen.

„Guten Abend, Narcise“, sagte er.

Sie war nah, so nah, dass nicht nur ihre Essenz, sondern auch ihre Körperwärme zu ihm strömte. Aber er nahm diesen Anschlag auf seine Sinne hin, es war in etwa so, als würde er sich einem Schlag widersetzen, und gestattete ihr nicht, seinem Blick zu entfliehen.

„Giordan“, erwiderte sie mit einer Stimme so kühl wie ihre Eismeeraugen. Eine pechschwarze Locke klebte ihr an der Schläfe, als ob der Hut sie dort zerquetscht hätte.

Und für einen Moment zögerte er – die Finsternis, der Hass und die Verachtung brodelten, drohten, wie ein schwerer Vorhang niederzusausen. Aber dieser Irrsinn währte nur kurz. Er gewann wieder die Kontrolle über sich. „Und so ist es dir endlich gelungen zu entfliehen. Meinen Glückwünsch. Ich hoffe, es ist alles, was du dir erträumt hast.“

Ah, seine Stimme war so schwerelos, so nebenbei und ohne die Spur von Ironie, auch nichts von der Scham und dem Zorn, die er beide in sich spürte. Sie war so unbefangen – ganz im Gegensatz zu seinen Eingeweiden. Und auch nicht wie seine Finger, die sich gleich Krallen zusammenzogen.

„Voll und ganz“, erwiderte sie, ihre Stimme wie seine. Es war, als hätten sie sich in einem Café niedergelassen, um bei einer Tasse Kaffee oder Tee über das Wetter zu plaudern, während sie den Ausblick auf die Palais Galerie genossen.

Er ließ sich nichts von seinem Blutdurst anmerken, der ihm unter der Haut brodelte, pulsierte, finster und heiß und plötzlich sehr drängend.

„Ich bedauere nur“, sagte sie, während sie immer noch zu ihm hochschaute, mit Augen, die so gefühlskalt waren wie zwei schön eingefasste Amethyste, „dass Cezar noch am Leben ist.“

„Ich verstehe nicht ganz?“, parierte Giordan spielerisch, oh ja, so spielerisch, trotz der Last, die ihm gerade alle Sinne und den Verstand niederdrückte. „Dein Vampirjäger konnte die Aufgabe nicht zu Ende bringen?“ Er legte leichte Überraschung und höfliches Bedauern in seine Stimme, „ich hatte den Eindruck, er sei nur zu diesem Zweck nach Paris abgereist.“

„Bedauerlicherweise, nein. Denn als er begriff, dass er sich entscheiden musste, entweder Cezar zu töten oder für meine Rettung zu sorgen ... nun, du siehst ja, wie es ausgegangen ist.“

Scharf und direkt, trafen und verletzten ihn ihre Worte zutiefst. Und wie ein Messer drehten sie sich in ihm um, in seinen Eingeweiden, als hätte man sie in der Manier des Japanischen Seppuku zerfetzt.

Aber sein Gesicht gab davon nichts preis. „Wenn es doch stets so einfach wäre“, war alles, was er antwortete.

„Narcise.“ Woodmores Stimme kam von hinten und unterbrach sie.

„Chas“, sagte sie, wobei sie rasch an Giordan vorbeistreifte, als wäre er nichts als eine korinthische Säule. Der Duft ihrer Erleichterung ertränkte ihn geradezu.

„Es tut mir Leid, dich warten zu lassen. Meine Schwestern sind verständlicherweise ein bisschen außer sich“, sprach Woodmore, während er erst auf Narcise herabblickte, und dann zu Giordan. Sein dunkler Zigeunerblick verriet, er ahnte etwas. „Und Corvindale steht kurz davor, vom Schlag getroffen zu werden, weil es Voss gelungen ist, hier einzudringen.“

„Und da wäre auch noch die Kleinigkeit, dass man seinen ganzen Haushalt umgekrempelt hat“, entgegnete Giordan, mit einer Spur Schadenfreude. „Und das noch für ein ganzes Weilchen. Ich muss sagen, man kann dem Mann keinen Vorwurf machen.“

Woodmore schaute ihn unverwandt an: kühle Herausforderung und ein klein wenig Selbstgefälligkeit im Blick. Wenn der Vampirjäger vorher nicht im Bilde gewesen war, dann hatte er jetzt zumindest eine kleine Ahnung von der gemeinsamen Vergangenheit zwischen Narcise und ihm. Aber wenn er den Eindruck hatte, Giordan würde ihm ein Ebenbuhler sein, dann hatte er sich schwer getäuscht.

„In der Tat, meine Schwestern müssen sich ebenso umstellen. Also ist das Allererste, was wir tun müssen, um die Wogen etwas zu glätten – das gilt auch für mich –, das Allererste ist dann Voss zu finden und uns um ihn zu kümmern. Ich will ihn nirgends in der Nähe meiner Schwester haben. Dann können wir London verlassen.“ Er schaute Narcise an. „Und uns an einen Ort begeben, an dem du sicher bist.“

In dem Augenblick kam Corvindale zurück. „Brecht ihr jetzt auf? Ausgezeichnet. Gute Nacht.“ Sein Gesichtsausdruck und sein Ton ließen keinen Raum für weitere Gespräche, und während er Giordan einen trockenen Blick zuwarf, wies Woodmore Narcise an, den Flur nach hinten lang zu gehen.

„Wir brechen auf“, sagte er. „Die Dämmerung bricht schon fast an. Ich werde sehen, ob ich bei Tage eine Spur von Voss finden kann. Erwarte Nachricht von mir gegen Nachmittag. Wenn mir das Glück hold ist, finde ich den Bastard schlafend vor und pfähle ihn dann in seinem Schlummer.“

„Bei den Schicksalsgöttinnen, du siehst aus, als könntest du eine Stärkung vertragen“, sagte Dimitri zu Giordan, sobald die zwei fort waren.

Bei Luzifers finsterer Seele, es war kein Drink, den er brauchte. „Nein“, sagte Giordan. „ich werde aufbrechen, solange es noch dunkel ist.“

Und er folgte dem Weg, den Narcise und Woodmore den Korridor entlang gegangen waren, ihr Duft auf Schritt und Tritt vor ihm.

Nein, in der Tat. Es war nicht ein verfluchter Drink, nach dem er sich verzehrte.

*

„Du gehst nicht wirklich, nicht wahr?“

Chas unterbrach sein Packen, um zu ihr hochzublicken, als er den anklagenden Ton in Narcises Stimme heraushörte.

„Natürlich werde ich gehen“, erwiderte er entschlossen und stopfte ein Trio von Holzpflöcken in seinen Ledersack. „Sie ist meine Schwester, Narcise. Denkst du, ich würde ihr Wohlergehen dem Zufall überlassen? Ganz besonders, wenn Voss mit von der Partie ist?“

Zwei Wochen nach ihrer Zusammenkunft in Dimitris Arbeitszimmer war Angelica von Belial entführt worden. Laut Voss – der unerklärlicherweise sehr besorgt schien – schaffte man sie gerade nach Paris, um sie dort Cezar auszuhändigen.

Dieser Vampir hatte alle überredet, dass er, Voss, derjenige sein sollte, der die Verfolgung nach ihr aufnahm und sie nach Hause brachte, ungeachtet der Tatsache, dass es sich bei Angelicas Bruder um einen Vampyrjäger handelte. Und obwohl man selbst Dimitri samt seiner Starrköpfigkeit vom Sinn und Gelingen dieses Plans überzeugen konnte, hatte Chas nicht vor, herumzusitzen und Däumchen zu drehen, während das Schicksal seiner Schwester in den übereifrigen Händen eines Vampirs lag.

Ganz besonders nicht, da dieser bereits einmal über sie hergefallen war. Und er in ihr Schlafzimmer gekrochen war und dort weiß Gott was angestellt hatte, während sie sich unter seinem Bann befand.

Er schob ein sauberes Hemd unnötig brutal in die Tasche. Der einzige Grund, warum Voss noch nicht tot war, war, dass er einen schützenden Panzer getragen hatte, als Chas ihn zuletzt sah; als er in den White’s Klub gekommen war, um die Nachricht zu überbringen, dass Angelica sich schon auf dem Weg nach Paris befand. Und weil der verdammte Mann Recht hatte – er konnte sich Zutritt zu Cezar verschaffen.

„Voss ist schlau genug, und Cezar mag ihn, weil Voss immer Informationen hat, die er gebrauchen kann “, wandte Narcise ein, es waren die gleichen Argumente, die schon kurz zuvor von ihr gemacht worden waren. „Gegen Geld, natürlich. Er wird bei ihm keinen Verdacht schöpfen, also wird Voss kein Problem damit haben hineinzugelangen. Und mit dem Rauchbombenpäckchen von dir wird ihm auch die Flucht leicht gelingen.“

Chas hielt inne und fixierte sie mit einem Blick. „Ich möchte ihn auch nicht einmal in der Nähe meiner Schwester haben. Es ist nicht nur, dass ich ihm nicht traue, denn ich habe zahllose Geschichten darüber gehört, wie er Frauen verführt und kompromittiert, obendrein ist er noch ein Drakule.“

Er bedauerte die Worte schon in dem Augenblick, in dem sie ihm über die Lippen gekommen waren. Natürlich nicht das Gefühl, das ihnen zugrunde lag, sondern wie er es ausgedrückt hatte, denn Narcises schönes Gesicht erbleichte.

„Und so darfst du also den Umgang mit uns Drakule, uns Verdammten und uns Verderbnis bringenden Dämonen pflegen ... aber deine Schwester nicht.“

Ihre Worte waren bitter, und Chas überkam heftiger Selbstekel – denn die Erinnerung an sich selbst, wie er unter ihr keuchte, blind vor Verlangen, verhext davon, wie sie sich anfühlte, wie sie schmeckte, und wie sie roch ... und wie er sie anflehte, darum bettelte, dass sie ihre Zähne in ihn schlug ... brannte ihm vorwurfsvoll im Gedächtnis.

Und doch ... es war nicht nur Lust, die ihn antrieb. Da war noch etwas, viel tiefer unten, in seinem Herzen. Wenn er es nur mit dem in Einklang bringen konnte, was sie war: unsterblich, verdorben und an einen Dämon gekettet.

„Verflucht noch mal, nein, Narcise.“ Wütend fuhr er sich durch das glänzende, dunkle Haar und widerstand der Versuchung, etwas durchs Zimmer zu schleudern. „Es ist anders für sie als für mich. Ich verstehe, was ich – ich verstehe, wie es ist.“ Er jagte diese Kreaturen schon seit Jahren. Er kannte ihre Verfehlungen, ihre Schwächen. Ihr Innerstes, das nur und ausschließlich Platz für sie selbst hatte.

„Nun Chas, ich schlage vor, du bringst ihr allmählich bei, das zu verstehen. Denn nach ihrem Betragen in jener Nacht in Dimitris Arbeitszimmer, würde es mich nicht wundern, wenn Angelica schon in Voss verliebt ist. Und sie hat keine Ahnung, was sie damit anfangen soll. Sie weiß es wahrscheinlich nicht einmal.“

Nur über meine verdammte, verfluchte Leiche.

„Niemals“, entfuhr es ihm, und er riss die Ledertasche an sich. Bei Gott, niemals würde er einer seiner Schwestern etwas Derartiges wünschen: verliebt zu sein in eines von diesen Wesen mit seiner verdorbenen Seele. „Und selbst, wenn sie sich einbildet, in ihn verliebt zu sein, ich werde es niemals erlauben. Eher töte ich ihn.“

„Ich komme mit dir, Chas“, sprach sie, stand da in einem wirbelnden Nebel aus schwarzem Haar und dem weichen Gleiten ihres hellen Hemdes.

„Sei keine Närrin“, sagte er, und seine Stimme wurde weicher. „Du darfst nicht auch nur in die Nähe von Cezar kommen. Paris mag eine große Stadt sein, aber du weißt genauso gut wie ich, dass er überall Spione und seine Gemachten hat. Ich werde dich nicht riskieren, Narcise.“

„Es war schon letztes Mal fast unmöglich, Paris sicher zu verlassen“, widersprach Narcise ihm. „Er hat immer noch Gemachte und sterbliche Soldaten, die überall nach dir Ausschau halten; das weißt du. Du wirst die Stadt niemals noch einmal verlassen können, mit oder ohne Angelica. Ganz zu schweigen von Cezars Quartier.“

Chas fragte sich, ob diese schreckliche Angst bei ihr daher rührte, dass sie nicht allein zurückgelassen werden wollte oder dass er nicht zu ihr zurückkommen könnte.

Oder, dass sie womöglich Giordan Cale noch einmal sehen müsste.

Er erinnerte sie, „aber, bitte, Narcise. Das letzte Mal warst du bei mir, und er hat nach dir gesucht–“

„Aber Chas...“

„Und abgesehen davon, Cezar wird mich sehen wollen. Da kannst du dir sicher sein. Er wäre entzückt, mich wieder in seiner Höhle zu empfangen.“

Er begriff nicht, warum sie so wenig Verständnis zeigte ... und so merkwürdig schwach erschien. Narcise war die stärkste Frau, die ihm je untergekommen war – wie sonst hätte sie all diese Jahre in ihrem Kerker bei ihrem Bruder überleben können?

Es konnte nicht nur daran liegen, dass sie Angst davor hatte, in London alleine zurückgelassen zu werden. Ein leiser Zweifel nagte an ihm, in seinem Hinterkopf, und er schob ihn entschlossen beiseite. Nein. Sicherlich war das, was zwischen ihr und Cale gewesen war, was auch immer es nun gewesen war, auf immer und ewig vorbei. Man hatte den Hass, der zwischen ihnen die Luft anfüllte, mit Händen greifen können.

Dimitri oder Rubey, irgendjemand, der eng mit Cale vertraut war, würde mit der Geschichte rausrücken müssen.

„Chas, bitte“, flehte sie, und Wut schwappte wie eine Welle über ihn hinweg.

„Beleidige mich jetzt nicht, indem du sagst, dein Bruder sei mir überlegen“, sagte er kurz angebunden. „Wenn wir seine Asthenie kennen würden, hätte ich ihm die schon längst vorbeigebracht.“ Noch als er die Worte aussprach, spürte er, wie hohl sie klangen. Aber er hatte keine Wahl. Angelica war in Gefahr, und er würde sich nicht zurücklehnen und ihre Sicherheit einfach Voss überlassen.

Und wenn er die Zeit für eine Reise nach Schottland fand, würde er Sonia besuchen und sie anflehen, ihm noch einmal zu helfen. Chas könnte auf diese Weise herausfinden, was Cezars Asthenie war. Während Angelicas Visionen ihr die Menschen im Augenblick ihres Todes zeigten, hatte ihre Schwester eine andere Gabe geerbt. Sie war in der Lage zu sehen, was ein Mensch am meisten fürchtete – und für einen Drakule war das immer seine Asthenie.

Chas hatte Sonia in der Vergangenheit schon mehr als einmal benutzt, um die persönliche Schwäche eines Vampirs herauszufinden, den er gerade jagte, aber als sie irgendwann herausfand, warum er sie um ihre Hilfe bat, weigerte sie sich, Teil davon zu sein. „Keiner von uns hat das Recht, etwas Derartiges zu entscheiden“, hatte sie ihm frömmlerisch gesagt.

„Aber du hast eine Gabe erhalten ... so wie ich auch“, hatte er ihrem Argument entgegengesetzt. „Wir sind dazu bestimmt, von ihnen Gebrauch zu machen.“

„Nein“, hatte sie da gesagt ... und er hatte die Furcht erkannt, die ihr in den Augen herumspukte.

Aber er war sich sicher: dieses Mal würde sie ihm helfen. Cezars Schwäche zu finden, weil sie wusste, davon hing das Leben ihrer Schwester ab ... aber, jetzt war nicht genug Zeit dafür. Er musst darauf bauen, dass der Plan von Voss aufging und dieser Angelica befreite ... und sobald er konnte, würde Chas dann seine Schwester aus der Gesellschaft des Vampirs entfernen.

Und dann würde er Voss töten.

Chas schaute Narcise an, trank sie gierig mit den Augen, sah sich satt an ihr. Er wurde ihrer Schönheit niemals überdrüssig, er verlor niemals dieses Gefühl von Ehrfurcht, wenn er ihre Vollkommenheit betrachtete, und auch wenn es gotteslästerlich war – schreckliche, frevelhafte Gotteslästerung –, so dachte er doch, was für ein Geschenk des Himmels es von Luzifer gewesen war, sie unsterblich zu machen. Dass ihre Schönheit niemals vergehen würde, dass ihr Gesicht und ihr Körper niemals altern würden.

Es wäre eine Schande, solche Perfektion zu verlieren. Ein solches Kunstwerk.

„Hier bist du sicher, Narcise“, sagte Chas und zeigte mit ausladender Geste auf die Steinwände. Das Quartier, das er ihr bereitet hatte, befand sich in dem Kellergewölbe einer alten Klosterruine.

Es mochte so vor zwei Jahren gewesen sein, da hatte er hier eine Gruppe gemachter Vampyre ausgeräuchert und davongejagt, die das Gewölbe als Zufluchtsort benutzt hatten. Der einzige Eingang zu dem Keller war durch eine alte Mauer auf einem Friedhof, der sich auf einem der Hügel in den Außenbezirken von London befand, und der Eingang war gut versteckt. Abgesehen davon gab es dann noch diverse Hürden, aus Kreuzen und anderen religiösen Symbolen, welche Vampire fernhalten würden – und dann noch einem geheimen Durchgang als einzigen Zugang zu diesem Zimmer. Er hatte Narcise über diese Schwelle helfen müssen, so dass sie nun sicher eingeschlossen war, und es hatte eine Weile gedauert, bis sie sich restlos erholte.

Daher wusste er, hier war sie in Sicherheit. Mit ihrem Säbel und ihrer Stärke als Vampir bewaffnet konnte Narcise sich nicht nur sehr gut um sich selber kümmern – es würde auch niemand sie hier finden oder in den Raum hier hineingelangen ... außer Chas wollte es so.

Er sah sich noch einmal an ihr satt und fühlte, wie sich tief in ihm etwas schmerzhaft verzog. Er würde zu ihr zurückkehren. Und dann würde er irgendwie einen Weg finden, wie man eine Unsterbliche mit einer verlorenen, korrupten Seele lieben konnte.

„Hier bist du sicher, Narcise. Er wird dich nicht finden, und wenn ich dann zurück bin, gehen wir nach Wales.“

„Nun denn“, gab sie schließlich nach. Ihr Blick ruhte auf ihm, und er erkannte darin leise Anzeichen von Furcht ... und wie etwas ihre Augen weich werden ließ.

Sein Herz machte einen Satz, und Begehren und Unsicherheit fegten gleichermaßen über ihn hinweg. Er würde zurückkehren. Aber würde sie dann immer noch hier sein?

Chas ließ seine Tasche fallen und ging zu ihr, schritt rasch quer durch den Raum und drückte sie rückwärts gegen die rauhe Wand. Er nahm sich ihren Mund, bedeckte ihn mit seinen Lippen, in einem tiefen, hungrigen Kuss.

Süß und warm und voll, schmolz sie gegen ihn, ihre Finger spielten ihm um den Hinterkopf, zogen ihn zu sich hinunter. Chas schloss die Augen, prägte sich alles ein, sie, hier, fühlte jede ihrer Kurven an sich, und wie sich ihr Körper gegen seinen hochschob.

„Sei vorsichtig“, sagte sie, als er für einen Augenblick von ihr abließ, um Luft zu holen. „Komm zu mir zurück.“

Furcht prickelte ihm da in der Magengegend. „Ich bin in dich verliebt, Narcise. Du kannst dich darauf verlassen ... ich werde zurückkommen. Aber“, sagte er, und plötzlich wurde ihm klar, was er tun musste. Wusste, dass er dieses Risiko eingehen musste. Er musste es wissen. „Während ich fort bin, musst du dich um andere Dinge kümmern.“

Narcise blinzelte, ihre Augen misstrauisch und verwirrt.

„Tu, was du tun musst“, sagte er ruhig und versuchte, nicht daran zu denken, was geschehen konnte, „um mit der Vergangenheit abzuschließen. Andernfalls...“ Er presste die Lippen aufeinander. „Ich liebe dich, aber ich werde nicht warten, bis du mit deiner Liebe zu mir kommst.“

Nein. Sie musste ihr Herz befreien, von was auch immer ihr Herz noch in Banden fest umklammert hielt. Weg von ihm. Und dann ... irgendwie, würde er einen Weg finden wie sie zusammensein konnten.

Ein Vampirjäger und eine unsterbliche Frau mit einer verdorbenen Seele.

Als er seine Ledertasche griff und aus dem Raum fegte, hingen ihm ihre Abschiedsworte noch lange nah. „Ich kann dich nicht verlieren, Chas.“

Das würde sie nicht.

Aber wie konnte er weiterleben, wenn er sie verlor?