51
Cardinal lauschte angestrengt in die Stille hinein. Alte Häuser knarzen, vielleicht hatte es nichts zu bedeuten. Womöglich war Bell bereits geflohen und in einem Taxi unterwegs zum Flughafen.
Ein Schritt.
Mit drei lautlosen Sätzen durchquerte Cardinal den Flur und öffnete die letzte Tür. Einige Stufen führten zu einem Treppenabsatz. Vorsichtig am Rand auftretend stieg er in den zweiten Stock hinauf. Als er den Absatz erreichte, holte er tief Luft, hob die Beretta und ging weiter nach oben.
»Dachte ich’s mir, dass Sie das sind«, sagte Bell.
Bell hockte auf der obersten Stufe, eine Pistole in der Hand, eine Luger, wenn Cardinal sich nicht irrte.
Noch vor wenigen Wochen hätte er beim Anblick von Dr. Bells Luger, die auf seine Brust gerichtet war, gezittert. Aber als er jetzt wenige Stufen weiter unten vor ihm stand, war es ihm vollkommen gleichgültig.
»Eins sollten Sie wissen«, sagte er. »Ich habe Ihnen gegenüber im Moment einen großen Vorteil.«
»Ach ja? Weil es Ihnen gleichgültig ist, ob Sie leben oder sterben?«
Wieder einmal hatte Bell ihn durchschaut.
»Ich versichere Ihnen«, fuhr Bell fort, »ich befinde mich an genau demselben Punkt. Ich habe auch meine Frau verloren.«
»›Verloren‹ trifft es nicht ganz, oder? Ich weiß, warum Sie Ihre Frau ermordet haben. Sie hat Ihnen Ihre Schätze gestohlen. Erinnerungen an Ihre Triumphe, die Sie seit Jahren sammeln. Erinnerungen an Ihre Siege.«
»Falls Sie von meinen DVDs sprechen – ein Mann mit mehr Grips im Kopf würde wissen, dass es sich um Lehrmaterial handelt.«
»Sie haben gar keine Studenten.«
»Lehrmaterial für mich selbst. Es gibt Therapeuten, die sich weiterbilden, indem sie Aufnahmen mit besonders schwie rigen Patienten studieren, wissen Sie.«
»Oder um in Schadenfreude zu schwelgen. Um sich daran zu ergötzen, wie Sie so tun, als würden Sie Ihren Patienten helfen, während Sie sie in Wirklichkeit dazu bringen, sich das Leben zu nehmen.«
»Ich tue nichts anderes, als Dinge klarzustellen. Indem ich die wahren Gefühle der Patienten spiegele, gebe ich ihnen die Möglichkeit, mit diesen Gefühlen umzugehen. Dann können sich neue Wege auftun. Manche finden eine neue Möglichkeit, ihr Leiden zu lindern oder sogar ihre Lebensfreude wiederzufinden. Andere Patienten wählen den Suizid, und das ist allein ihre Entscheidung und ihr gutes Recht.«
»Aus Ihren Aufnahmen geht eindeutig hervor, dass Sie entscheiden, welche Gefühle Sie spiegeln. Und zwar nur die negativen. Sie nähren die schwärzesten Gedanken Ihrer Patienten. ›Schreiben Sie einen Abschiedsbrief. Tun wir so, als wäre es Realität. Fassen Sie Ihre Gefühle in Worte. Machen Sie einen konkreten Schritt auf die Lösung zu. Denken Sie an all das Gute, was dabei herauskommen kann. Erstens wird das Leiden ein Ende haben. Zweitens wird Ihre Familie von einer großen Last befreit.‹«
»Das trifft häufig zu. Das sind legitime Argumente.«
»Und Sie sorgen dafür, dass die Leute ausreichend mit Schlaftabletten versorgt sind, falls sie zimperlich sind und kein Blut sehen können oder …«
»Oder was? Angst vor Verstümmelung haben? Ja, wenn einer springt, ist das Gesicht nachher kein schöner Anblick mehr, nicht wahr?«
Cardinals Finger schlossen sich fester um den Griff der Beretta. »Oder Sie verschreiben ihnen Psychopharmaka. Und dann ganz plötzlich geben Sie ihnen ein anderes Medikament oder gar keins mehr. Eine todsichere Methode, um Menschen in den Wahnsinn zu treiben.«
»Detective, wenn alle meine Patienten sich das Leben nähmen, hätte ich längst keine Praxis mehr. Wenn ich dafür sorgen würde, dass es allen meinen Patienten immer schlechter geht, würde keiner von ihnen mehr zu mir zurückkommen.«
»Sie kommen nicht zu Ihnen zurück. Sie sterben.«
»Großartig. Sherlock Holmes entdeckt die Wahrheit über Depressionen. Manisch-depressive Patienten bringen sich nun mal um.«
»Ihre Patienten. Denn es bleibt ihnen nichts anderes übrig, nicht wahr?«
Bell hob die Luger und zielte direkt auf Cardinals Gesicht.
Cardinal riss die Beretta hoch und nahm Bell ebenfalls ins Visier.
»Ich könnte Sie jetzt erschießen«, sagte er. »Und das würde als Notwehr durchgehen. Ich müsste noch nicht mal lügen.«
»Dann tun Sie’s doch«, sagte Bell. Die Hand, die die Luger hielt, zitterte.
Wie aus weiter Ferne sah Cardinal die Wut, die in Bell brannte, als würde er von einem Hubschrauber aus einen Waldbrand beobachten.
»Ich weiß, dass Sie mich töten wollen«, sagte Bell.
»Und Sie wünschen sich, dass ich es tue. Das nennt man dann Selbstmord durch die Hand eines Polizisten. Darum geht es doch hier, nicht wahr? Ich habe in Ihrem Buch gelesen, dass Ihre Eltern sich beide das Leben genommen haben. Das scheint mir ein guter Grund zu sein, um sich auf die Behandlung von Depressionen zu spezialisieren. Andererseits könnte es auch ein guter Grund sein, depressive Menschen zu hassen. Und es könnte ein guter Grund sein, um sich selbst das Leben nehmen zu wollen.«
»Auch das haben Sie in meinem Buch gelesen. Das sogenannte Selbstmord-Gen.«
»Sie wollen sich schon lange das Leben nehmen, aber im Gegensatz zu vielen Ihrer Patienten bringen Sie es nicht fertig. Genau wie Sie es in Ihrem Buch beschreiben: Manche Menschen suchen die Nähe von Menschen, die fähig sind, sich umzubringen. Sie müssen es stellvertretend für Sie tun. Sie führen sie auf den Weg, steuern sie, manipulieren sie, während Sie so tun, als würden Sie ihnen helfen. Aber Sie versuchen nur, sich selbst zu helfen. Sie versuchen, den einen Selbstmord zu begehen, nach dem Sie sich schon lange sehnen und den Sie nicht begehen können, weil Sie den Mumm nicht aufbringen. Ich frage mich, ob Ihnen das damals schon klar war, als Sie sich entschlossen, den Beruf des Psychiaters zu ergreifen.«
»Sie haben wohl einen Doktortitel in Psychologie, Detective. Glauben Sie allen Ernstes, Sie könnten mich analysieren?«
»Das brauche ich gar nicht. Das können Sie selbst. Aus welchem anderen Grund würden Sie Ihr Leben Menschen widmen, die Sie verabscheuen? Es muss Sie eine Menge gekostet haben, über all die Jahre diese freundliche, mitfühlende Fassade aufrechtzuerhalten.«
»Sie wissen gar nichts über die Menschen, die ich behandle. Sie sind Abschaum. Jammerlappen. Nutzlose Subjekte. Totale Egoisten. Sie haben in ihrem ganzen erbärmlichen Leben noch nie etwas für andere getan. Menschlicher Abfall.«
»Wie fühlen Sie sich dabei, Dr. Bell? Ist das nicht Ihre Lieblingsfrage? Wie fühlen Sie sich, wenn sie sich endlich umbringen? Diese Jammerlappen, dieser menschliche Abfall. Es muss Ihnen doch das Gefühl geben …«
»Es ist phantastisch«, sagte Bell. »Ein schöneres Gefühl gibt es gar nicht. Ich kann es Ihnen nicht beschreiben. Besser als Sex. Besser als Heroin. Ich liebe es. Also, warum erschießen Sie mich nicht?«
»Und wenn sie sich nicht umbringen«, fuhr Cardinal fort, »wenn sie zu stark sind, so wie Catherine …«
»Es ist nicht meine Schuld, dass sie’s nicht kapiert hat. Sie wollte sich unbedingt das Leben nehmen, sie wollte es sich nur nicht eingestehen. Wie oft muss sie in die Klinik eingewiesen werden, bis der Groschen fällt?«
»Das muss Sie … sehr irritieren. Es muss extrem – welches ist das richtige Wort – frustrierend für Sie sein.«
Bells Gesicht drückte nur Verachtung aus.
»Aufreizend?«
Bell schüttelte kaum merklich den Kopf. »Sie wissen gar nichts über mich. Niemand weiß etwas über mich.«
»In Manchester weiß man einiges über Sie. Und man wird einiges über Sie erfahren, wenn endlich gegen Sie ermittelt wird, wenn Ihnen endlich der Prozess gemacht wird.«
»Das glauben Sie.«
»Ich weiß es. Ich weiß auch, dass Sie Catherine ermordet haben. Denn, wie Sie selbst sagten, sie hat’s nicht kapiert. Sie hat nicht begriffen, dass ihr Therapeut wollte, dass sie sich das Leben nahm, und als sie einfach nicht dazu zu bringen war, konnten Sie es nicht länger ertragen und mussten sie eigenhändig umbringen.«
»Das würde Ihnen so passen. Denn wie würden Sie dastehen, wenn sie tatsächlich Selbstmord begangen hätte? Der große Detective. Der Ritter in der glänzenden Rüstung. Was bleibt von ihm, wenn er nicht mal in der Lage ist, seine eigene Frau zu retten? Wenn sie es nicht mehr mit ihm aushält? Wenn sie sich lieber umbringt, als noch einen Tag mit ihm zu verbringen? Wenn sie ihn so abgrundtief hasst, dass sie ihr Leben lieber wegwirft, anstatt es an seiner Seite zu verbringen? Der Gedanke ist einfach unerträglich, nicht wahr, Detective?«
»Ich habe nicht gesagt, ich glaube, dass Sie sie ermordet haben«, erwiderte Cardinal ungerührt. »Ich sagte, ich weiß es.«
Er hielt die kleine Plastiktüte hoch.
»Was ist das?«
»Das ist ein Speicherchip, Dr. Bell. Aus Catherines Kamera.«
»Warum sollte der mich interessieren?«
»Catherine hat Sie fotografiert, als Sie aufs Dach gekommen sind. Das hat sie immer gemacht – sie hat jeden in ihrer Nähe fotografiert, wenn sie gerade bei der Arbeit war. Jeden. Sie war ein schüchterner Mensch, und ihre Kamera war für sie eine Art Schutzmechanismus. Sie wussten, dass sie Sie fotografiert hat, und deswegen haben Sie ihre Kamera mitgenommen, als sie den Tatort verlassen haben. Sie sind unten auf den Parkplatz gegangen, wo sie lag, und haben die Kamera an sich genommen. Wahrscheinlich waren Sie in dem Augenblick viel zu erregt, um zu bemerken, dass sie zerbrochen und der Chip herausgefallen war. Das wird ja eine herbe Enttäuschung gewesen sein, als Sie zu Hause ankamen und feststellen mussten, dass die Kamera leer war. Das hätte ich wirklich gern miterlebt. Besser als Heroin, garantiert. Tja, ich habe gesehen, was sich auf dem Chip befindet, und ich würde sagen, Ihr Leben ist damit mehr oder weniger beendet.«
»Sie war manisch-depressiv, Detective. Und zwar seit Jahrzehnten. Wie oft ist sie in die Klinik eingewiesen worden? Zehnmal? Zwanzigmal?«
»Ich hab’s nicht gezählt.«
»Irgendwann hätte sie sich sowieso umgebracht.«
»Beruhigen Sie damit Ihr Gewissen? Hilft Ihnen das, nachts Schlaf zu finden?«
»Also, machen Sie schon, erschießen Sie mich.«
»Das hätten Sie wohl gern, was?«
»Los, schießen Sie. Ich habe keine Angst.«
»Tut mir leid, Dr. Bell. Den Gefallen wird Ihnen niemand tun. Das werden Sie schon selbst erledigen müssen.«
Cardinal ließ seine Beretta sinken.
Bells Hand zitterte noch stärker.
»Ich werde Sie töten«, sagte er. »Sie wissen, dass ich dazu fähig bin.«
»Ich bin nicht derjenige, den Sie töten wollen, Dr. Bell. Ich bin keiner von Ihren Patienten. Keiner von den Jammerlappen, wie Sie sie so mitfühlend nennen. Mich umzubringen hilft Ihnen überhaupt nicht.«
Mit einer plötzlichen, ruckartigen Bewegung richtete Bell die Luger auf seine eigene Schläfe.
»Genau das wollen Sie schon seit Jahren tun, nicht wahr?«, sagte Cardinal.
Schweißperlen bildeten sich auf Bells Stirn. Er kniff die Augen fest zu. Eine einzelne Träne lief über seine Wange in seinen Bart.
»Machen Sie schon. Sie wollen doch nicht den Rest Ihres Lebens im Gefängnis verbringen, oder?«
Die Luger in Bells Hand wankte. Er zitterte am ganzen Körper. Schweiß rann ihm über das gerötete Gesicht.
»Sie bringen es nicht fertig, stimmt’s?«
Bell stöhnte, dann begann er zu schluchzen. Die Luger fiel zu Boden und polterte die Treppe hinunter. Cardinal hob sie auf.
»Ich glaube, wir beide haben heute gute Arbeit geleistet, Dr. Bell. Ich würde sagen, wir sind bis zu den Wurzeln Ihres Problems vorgestoßen. Jetzt haben Sie ein paar Jahrzehnte Zeit, um sich damit auseinanderzusetzen.«