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Frank Rowleys frühere Ehefrau ausfindig zu machen war kein Kunststück gewesen. Ein paar Telefonate, ein Blick ins Heiratsregister, und kurz darauf stand Delorme vor dem Haus von Penelope Greene. Es gab nur wenige Häuser in Algonquin Bay, die kleiner waren als Delormes Bungalow, aber dieses hier gehörte dazu. Das winzige Backsteinhäuschen hockte zwischen zwei wesentlich größeren Backsteinhäusern wie ein Kleinkind zwischen seinen Eltern.
Die hübsche Frau, die die Tür öffnete, war etwa Mitte vierzig, mit blonden, leicht ergrauten Haaren. Ihr Gesichtsausdruck schien argwöhnisch, die grünen Augen waren zu Schlitzen verengt, aber das war vermutlich darauf zurückzuführen, dass unerwartet eine Polizistin vor ihrer Tür stand.
»Mrs. Rowley?«, sagte Delorme.
»Nicht mehr. Ich habe schon vor Jahren meinen Geburtsnamen wieder angenommen.«
»Ich bin Sergeant Delorme.«
»Melanie hat doch hoffentlich nichts angestellt?«
»Nein, Ihre Tochter hat sich nichts zuschulden kommen lassen, aber ich muss mich mit Ihnen über etwas unterhalten, das höchstwahrscheinlich mit ihr zu tun hat.«
Mrs. Greene führte Delorme in ein winziges Wohnzimmer. Ein Sofa und zwei Sessel von der Größe von Puppenmöbeln füllten das Zimmer fast vollständig aus, aber es hatte eine gemütliche Atmosphäre. Delorme setzte sich aufs Sofa, das so niedrig war, dass sie mit dem Kinn fast ihre Knie berührte. Kaum hatte sie Platz genommen, wurde ihr klar, dass es sich um das Sofa handelte, das auf einigen der Fotos abgebildet war: rote Plüschpolster umrahmt von aufwendigen Holzschnitzereien. Und durch die Tür, die hinter Mrs. Greene in die Küche führte, waren die charakteristischen blauen Fliesen zu sehen. Ja, Delorme hatte das richtige Haus gefunden, aber es machte sie nicht froh.
»Ms. Greene, wie alt ist Ihre Tochter?«
»Melanie ist achtzehn. Sie wird im Dezember neunzehn.«
»Und sie ist blond, wie Sie?« Die Frage war eigentlich überflüssig. Ms. Greene hatte die gleichen grünen Augen wie das Mädchen auf den Fotos, die gleichen perfekt geschwungenen Augenbrauen, die gleiche Stupsnase.
»Na ja, sie hat ein viel helleres Blond als ich. So wie ich früher war. Aber warum wollen Sie das wissen? Sie hat doch keinen Unfall gehabt, oder? Sagen Sie es mir bitte. Es geht ihr doch gut, oder?«
»Kein Unfall. Soweit wir wissen, geht es ihr gut. Ihr Vater ist Frank Rowley, ist das richtig?«
»Stiefvater. Wir haben geheiratet, als Melanie gerade in die Schule gekommen war. Aber er hat sich vor fünf Jahren von mir getrennt. Es hatte sich herausgestellt, dass das Eheleben nichts für ihn war – so sagte er jedenfalls. Er ist nach Sudbury gezogen, und wir haben seitdem nichts mehr von ihm gehört. Ich finde, er hätte wenigstens mit Melanie in Kontakt bleiben sollen, aber das hat er nicht getan. Bis heute nicht. Er wohnt jetzt wieder hier in der Stadt. Ich habe ihn ein paarmal gesehen, aber jedes Mal die Straßenseite gewechselt, um ihm nicht zu begegnen. Er ist wieder verheiratet und hat eine neue Stieftochter von ungefähr sechs Jahren. Ich habe Melanie nicht mal erzählt, dass er wieder hier wohnt. Aber vielleicht sollte ich es tun. Es würde sie nur aufregen, wenn sie ihm zufällig über den Weg laufen würde.«
Delorme nahm einen Umschlag mit Fotos aus ihrer Aktentasche und wählte ein Bild aus, einen Ausschnitt, den sie aus einer Szene heraus hatte vergrößern lassen. Er zeigte das lächelnde Gesicht des Mädchens im Alter von etwa sechs, sieben Jahren.
»Ist das Ihre Tochter?«
»Ja, das ist Melanie. Woher haben Sie das? Ich habe jede Menge Fotos, aber das habe ich noch nie gesehen.«
Delorme nahm eine weitere Vergrößerung aus dem Umschlag. Ein Brustbild des etwa zwölfjährigen Mädchens, derselbe wachsame Blick wie bei der Mutter.
»Ja, das ist auch Melanie. Da wird sie so zwölf gewesen sein. Sergeant Delorme, Sie machen mir Angst. Warum haben Sie Fotos von meiner Tochter – alte Fotos –, die ich noch nie gesehen habe?«
Delorme wählte zwei weitere Fotos aus, Ausschnitte, auf dem nur der Täter zu sehen war – nicht, was er tat oder mit wem. Lange Haare, nackter Oberkörper, das Gesicht von der Kamera abgewandt.
»Ms. Greene, erkennen Sie diesen Mann?«
Die Frau nahm die Fotos mit einer Vorsicht entgegen, als handelte es sich um gefährliche Bakterienkulturen. »Das ist – das ist Frank. Mein Mann. Exmann.«
»Sind Sie sich ganz sicher? Auf den Fotos ist nicht viel zu sehen.«
»Also, ich weiß einfach, dass er es ist. So wie man jemanden kennt, mit dem man jahrelang zusammengelebt hat – wie er den Kopf neigt, das Kinn, die ganze Haltung … die runden Schultern. Außerdem hat er drei Muttermale auf der Schulter.« Sie klopfte mit dem Zeigefinger auf das Foto. »Hier, auf der linken. Sie sind angeordnet wie der Gürtel des Orion, wie ein angedeutetes Dreieck. Das hat nichts Gutes zu bedeuten, stimmt’s?«
»Ich fürchte, nein, Ms. Greene. Können Sie mir sagen, wo Melanie jetzt ist?«
»Sie hat ein Zimmer in einer Studentenpension. Als sie mit dem College anfing, wollte sie auf eigenen Füßen stehen. Ich gebe Ihnen die Adresse. Aber erst, wenn Sie mir gesagt haben, was hier vorgeht.« Ms. Greene stand auf und ballte immer wieder die Fäuste, als bereitete sie sich auf einen Kampf vor.
»Setzen Sie sich lieber wieder hin«, sagte Delorme. »Was ich Ihnen mitzuteilen habe, wird Sie schockieren.«
»Bitte, sagen Sie es mir einfach, Detective.«
»Es tut mir leid, Ihnen das sagen zu müssen, aber wir haben noch weitere Fotos von Frank und Ihrer Tochter. Fotos, die die beiden beim Sex zeigen. Wir haben sie im Internet gefunden.«
Ms. Greene fasste sich an die Brust »Was?«
»Es gibt mindestens hundert solcher Fotos. Wo er sie ursprünglich ins Netz gestellt hat, wissen wir nicht. Leute, die pornographische Bilder sammeln, tauschen sie häufig untereinander aus. So kommt es, dass immer wieder Bilder von Ihrer Tochter auftauchen, wenn die Polizei von Toronto wieder jemanden wegen Besitzes von Kinderpornographie verhaftet und dessen Computer beschlagnahmt.«
Ms. Greene hatte sich immer noch nicht vom Fleck gerührt, die Hand immer noch ans Herz gedrückt, als versuchte sie, es zu schützen.
»Wir müssen dringend mit Ihrer Tochter sprechen, um sie zu fragen, ob sie bereit ist, gegen Mr. Rowley auszusagen. Wir haben es mit einem schweren Verbrechen zu tun, und es sieht so aus, als wäre jetzt wieder ein kleines Mädchen in Gefahr.«
Aber Ms. Greene hörte sie kaum noch. Delorme sah, wie der Schock sich in Gram, Kummer und Bedauern verwandelte und in tausend andere Gefühle, die sich nur erahnen ließen. Es wirkte wie eine Zeitlupenaufnahme vom Einsturz eines Gebäudes: Sie hob die Hände vors Gesicht, sie stieß einen erstickten Schrei aus, ihre Beine gaben nach, sie sank auf ihren Sessel und brach weinend zusammen.
Delorme ging in die Küche, die so blitzblank war wie eine Schiffskombüse, und setzte Tee auf. Als der Tee fertig war, hatte Ms. Greene aufgehört zu schluchzen. Während sie schniefend ihren Tee trank, schlug ihr Kummer in Wut um. »Ich bringe ihn um«, murmelte sie. »Das Schwein bringe ich um.«
»Das dürfen Sie nicht«, sagte Delorme sanft. »Aber Sie können uns helfen, dafür zu sorgen, dass er so etwas nie wieder tut.«
Dann kamen die Selbstvorwürfe. »Ich hätte es merken müssen. Warum habe ich nichts davon mitbekommen? O Gott, mein armes kleines Mädchen. Wie oft hab ich die beiden allein gelassen. Ich hab zugelassen, dass er mit ihr zeltet! Und Bootsausflüge macht! Ich hab ihm sogar erlaubt, übers Wochenende mit ihr wegzufahren! Es ist mir nie in den Sinn gekommen, dass er so was mit ihr machen könnte.«
»Er wird dafür gesorgt haben, dass Sie auf keinen Fall Verdacht schöpfen würden.«
»Ich hätte es trotzdem merken müssen. Jetzt, wo Sie mir die Bilder gezeigt und alles erzählt haben, fällt es mir wie Schuppen von den Augen. Ich weiß, dass Sie die Wahrheit sagen. Also, warum bin ich nicht selbst darauf gekommen? Gott, wie oft er darauf gedrängt hat, etwas mit ihr allein zu unternehmen. Was bin ich für eine Idiotin! Ach, meine arme Melanie!«
Sie brach erneut in Tränen aus, trank noch eine Tasse Tee, und als Ms. Greene schließlich keine Tränen mehr hatte, nahm sie das Telefon und wählte.
»Sie meldet sich nicht«, sagte sie und wählte erneut. Nach dem dritten Versuch schlug Delorme vor, einfach zu der Studentenpension zu fahren, wo Melanie wohnte.
»Ich verstehe nicht, warum sie nicht ans Telefon geht«, sagte Ms. Greene zum fünften Mal, während sie ans andere Ende der Stadt fuhren. Wie die meisten Menschen, die eine schockierende Nachricht erhalten haben, schwankte sie zwischen Angst und Hoffnung. »Bestimmt geht es ihr gut«, sagte sie dann.
Delorme bog von der Sumner Street in die MacPherson Street ein. »Ich hoffe vor allem, dass Melanie bereit ist, gegen Mr. Rowley auszusagen.«
»Die Fotos werden doch sicher ausreichen, um ihn zu verurteilen, oder? Dieses Schwein. Den sollte man kurzerhand kastrieren.«
»Die Fotos sind natürlich wichtige Beweismittel«, sagte Delorme. »Aber eine Aussage von Melanie würde jeden Zweifel zerstreuen, den die Geschworenen noch haben könnten. Und wenn sie keine Aussage macht, werden sie sich fragen, warum. Das könnte sich zu seinem Vorteil erweisen.«
»Aber es wäre schrecklich für sie. Seit Jahren fragt sie sich, warum sie immer so deprimiert ist, dabei hat der Mann, den sie angehimmelt hat, sie nach Strich und Faden missbraucht. Erst benutzt er sie wie eine, wie eine – Gott, ich kann es nicht mal aussprechen – und dann lässt er sie fallen wie eine heiße Kartoffel. Wenn sie gegen ihn aussagt, wird das all die Erinnerungen wieder wachrufen.«
»Ms. Greene, ich habe in den vergangenen zehn Jahren mit zahlreichen Vergewaltigungsopfern gearbeitet. Fast alle – mit wenigen Ausnahmen – haben es als positive Erfahrung empfunden, gegen den Mann auszusagen, der sie missbraucht hatte. Natürlich war es ihnen peinlich. Und es hat sie gequält. Aber längst nicht so sehr wie wenn sie geschwiegen hätten. Und wenn sie mit einem guten Therapeuten zusammenarbeiten, kann die Erfahrung letztlich sogar äußerst heilsam sein.«
»Melanie macht zur Zeit eine Therapie. Bei Dr. Bell. Er soll sehr gut sein.«
Delorme sagte nichts dazu und bog schweigend in die Redpath Street ein. Nach zwei, drei Blocks zeigte Ms. Greene auf ein rechteckiges Backsteinhaus mit einem Vorgarten, wo ein von innen elektrisch beleuchteter Gartenzwerg inmitten von Herbstlaub stand.
»Da ist es. Melanie wohnt gern hier, weil es nur einen halben Block von der Algonquin Street entfernt ist und der Bus gleich an der Ecke hält. Sie braucht nur zehn Minuten bis zum College, und das ist ein Glück, denn einige ihrer Kurse fangen erst um acht Uhr an. Acht Uhr abends, können Sie sich das vorstellen? Ich hoffe, sie ist zu Hause. Sie ist bestimmt zu Hause.
Es ist nur eine Pension«, fuhr sie fort, während sie auf die Haustür zugingen. »Aber Mrs. Kemper, die Vermieterin, ist anscheinend sehr nett. Sie kümmert sich um ihre Mieter, aber sie mischt sich nicht in ihre Angelegenheiten ein.«
Frost lag in der Luft, ein leichter Wind trieb das Laub über den Weg, und es roch nach Schnee.
»Melanie wohnt im ersten Stock links. Ah, sie hat Licht an, wahrscheinlich ist sie nach Hause gekommen, während wir hierher unterwegs waren.«
Sie betraten die Diele von der Größe eines Wandschranks, und Ms. Greene drückte auf eine Klingel. »Das sind ihre Stiefel, die mit dem Pelzbesatz. Mrs. Kemper besteht darauf, dass sie alle ihre Schuhe in der Diele ausziehen.«
Sie warteten ein, zwei Minuten lang, dann klingelte Ms. Greene noch einmal.
Dann waren auf der Treppe Schritte zu hören. Auf Ms. Greenes Gesicht breitete sich ein erleichtertes Lächeln aus, das allerdings leicht verrutschte, als die Tür geöffnet wurde.
Eine junge Frau in einem Kapuzensweatshirt mit dem Logo der Northern University und mit drei Ringen in der Nase kam heraus. Sie stieß einen leisen Überraschungsschrei aus. Bevor die Tür wieder zufiel, hielt Ms. Greene sie am Knauf fest und trat in den Treppenflur.
»Hallo«, sagte sie. »Ashley, nicht wahr? Ich glaube, wir sind uns mal vorgestellt worden. Ich bin Melanies Mutter.«
»Ach ja. Hi.«
»Ich glaube, Melanie ist gerade nach Hause gekommen. Wir möchten sie besuchen.«
»Soweit ich weiß, ist Melanie schon den ganzen Abend zu Hause«, sagte die junge Frau, murmelte ein flüchtiges »Tschüs« und verschwand auf die Straße hinaus.
Delorme folgte Ms. Greene die Treppe hinauf. Das Haus war in wesentlich besserem Zustand als die Absteigen, in denen sie selbst als Studentin gewohnt hatte: Teppichboden im Treppenhaus, hübsche Tapete und vor allem sauber. Delorme musste an die Kellerwohnung denken, in der sie während ihres Studiums in Ottawa gehaust hatte, an die verdreckte Treppe und den modrigen Geruch.
Ms. Greene klopfte an eine schwere, weiße Tür mit der Nummer vier.
Drinnen ging gerade ein Rockstück zu Ende, dann ertönte die Stimme des Sprechers von EZ Rock, der für einen örtlichen Toyota-Händler warb.
»Sie muss zu Hause sein«, sagte Ms. Greene. »Ihre Stiefel standen doch unten. Und es passt überhaupt nicht zu ihr, das Licht und das Radio anzulassen, wenn sie weggeht.«
Delorme klopfte kräftig an die Tür. »Sie könnte in der Dusche sein.«
»Die Dusche ist gleich hier.« Ms. Greene zeigte auf eine offene Tür. »Ein Gemeinschaftsbad. Allmählich fange ich an, mir Sorgen zu machen.«
»Melanie?« Delorme schlug mit der flachen Hand gegen die Tür. Eine Tür am anderen Ende des Flurs wurde geöffnet, eine blasse junge Frau warf ihnen einen wütenden Blick zu, dann machte sie ihre Tür wieder zu.
Ms. Greene legte ihre Wange an das Holz. »Melanie, wenn du da drin bist, bitte mach auf. Wir müssen ja nicht reinkommen, wenn du es nicht willst. Wenn du deine Ruhe brauchst, ist das vollkommen in Ordnung, aber sag uns einfach, ob es dir gut geht.«
»Gehen Sie runter und holen Sie den Schlüssel«, befahl Delorme.
Panik in Ms. Greenes Augen.
»Schnell, beeilen Sie sich.«
Delorme rief weiter durch die Tür nach Melanie. Von oben schrie eine wütende weibliche Stimme: »Ruhe, verdammt!«
Einen Augenblick später kam Ms. Greene die Treppe hochgerannt. Sie versuchte, den Schlüssel ins Schloss zu stecken, aber Delorme musste ihn ihr abnehmen und die Tür selbst aufschließen. Als sie das Zimmer betraten, stieß Ms. Greene einen Schrei aus.
Melanie lag vor ihrem Schreibtisch auf dem Boden.
Sofort entdeckte Delorme die leere Tablettenschachtel, das Wasserglas, den Abschiedsbrief. Sie kniete sich neben die junge Frau und fühlte nach ihrem Puls.
»Sie lebt. Fassen Sie ihre Füße, wir legen sie aufs Bett.«
Wie benommen tat Ms. Greene, wie ihr geheißen, die Augen starr vor Angst.
Delorme drehte Melanie auf den Bauch und steckte ihr einen Finger in den Hals. Ein Würgen, dann ergoss sich Erbrochenes über ihre Hand. Sie wiederholte den Vorgang. Wieder ein Würgen, aber nichts kam.
Unbeholfen zog sie mit der linken Hand ihr Handy aus der Tasche und rief einen Notarzt. Das Krankenhaus war nur wenige Blocks entfernt.