36

 

Als Cardinal am nächsten Morgen aufwachte, raubte Catherines Abwesenheit ihm die Luft zum Atmen. Es war, als schwebte sein Schlafzimmer irgendwo im Weltraum, und jemand hätte die Luftschleuse geöffnet. Während er sein Frühstück bereitete – Toast und Kaffee – und Zeitung las – The Globe and Mail –, zwang er sich dazu, sich innerlich auf den vor ihm liegenden Tag einzustellen, sich an den Fall von Kinderpornographie zu erinnern, den Delorme bearbeitete, und an die Einbruchsserie, mit der Arsenault beschäftigt war.

Irgendwann blickte er von seiner Zeitung auf und starrte auf den leeren Platz auf der anderen Seite des Tischs.

»Ich will nicht an dich denken«, sagte er. »Ich will nicht an dich denken.«

Er versuchte weiterzulesen, konnte sich jedoch nicht konzentrieren. Seine Augen waren ganz wund nach der unruhigen Nacht. Je eher er seine Arbeit wieder aufnahm, umso besser. Er stellte seinen Teller in die Spülmaschine und goss seinen Kaffeerest in die Spüle, dann duschte er kurz, zog sich an und machte sich auf den Weg.

Es wurde allmählich kühler. Ein Geruch nach Winter lag in der Luft, man spürte schon das Eis, obwohl es noch etwa einen Monat dauern würde, bis der See zuzufrieren begann. Cardinal fror in seiner Sportjacke. Das nächste Mal würde er sich einen Wintermantel anziehen. Der Himmel war strahlend blau, und Cardinal musste daran denken, wie Catherine sich darüber gefreut hätte. Ihr PT Cruiser stand leer in der Einfahrt.

»Ich will nicht an dich denken«, sagte er noch einmal und stieg in seinen Camry.

Als er gerade zurücksetzen wollte, fuhr ein Wagen vor und blockierte seine Ausfahrt. Paul Arsenault kurbelte sein Fenster herunter und hob eine behandschuhte Hand zum Gruß.

»Morgen!«

Das konnte nur etwas Gutes bedeuten, dachte Cardinal. Arsenault würde niemals vor dem Dienst bei ihm vorbeikommen, wenn er nicht etwas ganz Besonderes für ihn hätte. Cardinal stieg aus seinem Wagen und trat an Arsenaults Fenster.

»Ich dachte, ich komm mal kurz vorbei, damit wir keine wertvolle Polizeizeit vergeuden.«

»Haben Sie was Interessantes?«

»Tja, ja und nein. Ich weiß nicht, wie Sie’s aufnehmen werden.«

»Sagen Sie’s mir einfach, Paul.«

»Ich hab’s schließlich von der Datenbank der Einwanderungsbehörde bekommen – und, nein, ich werde Ihnen nicht sagen, wie ich das geschafft hab. Wir haben einen Engländer, der vor ein paar Jahren hierhergezogen ist.« Er reichte Cardinal einen Computerausdruck durchs Fenster.

Auf dem Blatt waren zwei Daumenabdrücke zu sehen. Das Foto darüber war schmeichelhafter als normalerweise auf solchen Dokumenten. Mit dem lockigen Haar, dem graumelierten Bart und dem Hundeblick wirkte der Mann durchaus liebenswürdig. Dr. med. Frederick David Bell.

 

Als Cardinal auf dem Revier eintraf, rief er Bell an und vereinbarte für den Mittag ein Treffen mit ihm in der psychiatrischen Klinik.

Er fuhr über den Highway 11 aus der Stadt und bog in die vertraute Einfahrt zum Ontario Hospital ein. Cardinal war schon zahllose Male hier gewesen – dienstlich, weil hier häufig Kriminelle untergebracht waren, und privat, um Catherine zu besuchen. Meistens hatte sie den Februar hier verbracht, den düstersten, trostlosesten Monat des Jahres.

Der rote Backsteinbau verlor sich fast in der Pracht des Herbstlaubs. Ein kalter Wind wehte über den Hügel, und die Pappeln und Birken neigten ihre Köpfe wie Tänzer. Alle Erfahrungen, die Cardinal mit diesem Ort gemacht hatte, verschwammen zu einem einzigen Schmerz, all die Male, die Catherine hier eingewiesen worden war, weil sie Stimmen gehört hatte oder weil sie so deprimiert war, dass sie drauf und dran gewesen war, sich die Pulsadern aufzuschneiden.

Er fuhr mit dem Aufzug in den dritten Stock. Die Tür zu Dr. Bells Zimmer stand offen. Er saß auf seinem Schreibtischstuhl und schaute über den Parkplatz hinweg auf die Berge. Er saß so reglos da, dass er Cardinal an einen Hund erinnerte, der am Fenster sitzt und darauf wartet, dass sein Herrchen nach Hause kommt.

Er klopfte an – kräftig, um Bell aufzuschrecken – und genoss den Effekt. Bell zuckte zusammen und fuhr herum. Als er Cardinal sah, stand er auf.

»Detective. Treten Sie ein, nehmen Sie Platz.«

Cardinal stellte seine Aktentasche auf dem Boden ab und setzte sich.

»Sie haben richtig gelegen mit Ihrer Vermutung, was die Beileidskarten angeht«, sagte er. »Sie stammen nicht von einem Mörder.«

»Nein, das dachte ich mir.«

»Sie wurden mir von einem Mann geschickt, den ich vor ein paar Jahren wegen Betrugs ins Gefängnis gebracht habe.«

»Nun, das leuchtet mir ein. Betrug hat etwas Hinterlistiges, etwas Heimtückisches. Das passt zum Stil von jemandem, der anonyme Briefe schreibt. Hat der Mann seine Frau verloren, nachdem Sie ihn verhaftet hatten?«

»Ja. Auch da haben Sie richtig vermutet.«

»Aber wahrscheinlich nicht durch Selbstmord.«

»Nein. Aber wie kommen Sie darauf?«

»Weil – zumindest oberflächlich betrachtet – die Schande in solch einem Fall auf den Kriminellen selbst und nicht auf seine Familie zurückfällt. Es würde anders aussehen, wenn Sie den Mann wegen einer Vergewaltigungsserie eingesperrt hätten oder wegen rassistischer Gewalt, etwas, das die Ehefrau gewusst oder zumindest geahnt haben würde. Haben Sie sonst noch etwas für mich? War das der Grund für Ihren überraschenden Besuch? Kurz bevor Sie kamen, habe ich darüber nachgedacht, dass es doch sehr schmerzhaft für Sie sein muss, hierher zu kommen. All die Erinnerungen an Catherine, die hier wachgerufen werden.«

»Es spielt keine Rolle, wo ich mich aufhalte.«

Cardinal öffnete seine Aktentasche und nahm Catherines Abschiedsbrief heraus. Diesmal reichte er Bell die Kopie, die durch den Scanner gelaufen war. Sie befand sich in einer Plastikhülle, die Schrift hob sich geisterhaft weiß auf schwarzem Untergrund ab. Am Rand waren Catherines zierliche Fingerabdrücke zu erkennen und unten ein dicker Daumenabdruck.

Dr. Bell setzte sich eine kleine Lesebrille auf und betrachtete den Brief. »Hm, das haben Sie mir schon mal gezeigt. Wie ich sehe, ist es irgendwie behandelt worden.«

»Auch da haben Sie recht, Dr. Bell. Und der Daumenabdruck am unteren Rand stammt von Ihnen.«

Cardinal beobachtete Bells Gesicht, doch es war keine Reaktion zu erkennen. Aber natürlich war er Psychiater und darin geübt, seine Gefühle zu verbergen, während andere weinten und wehklagten.

Bell reichte ihm das Blatt zurück. »Ja. Catherine hat mir vor ein paar Monaten so einen Brief gezeigt.«

»Komisch, dass Sie nichts davon erwähnt haben, als ich Ihnen den Brief letzte Woche vorgelegt habe.«

Dr. Bell verzog das Gesicht, nahm seine Brille ab und rieb sich die Nasenwurzel. Ohne die dicken Brillengläser wirkte er seltsam verletzlich, wie ein Lemur bei Tageslicht.

»Tja, da bin ich wohl ganz schön ins Fettnäpfchen getreten, was? Tut mir leid, Detective. Ich gebe zu, dass ich nicht erpicht darauf war, Sie wissen zu lassen, dass ich diesen Brief kannte. Ich fürchtete, Sie würden daraus schließen, dass ich in irgendeiner Weise Ihrer Frau gegenüber nachlässig war, dass Catherine in einem Moment der Verzweiflung einen Abschiedsbrief geschrieben und ich das einfach ignoriert hatte.«

»Wie sollte ich denn wohl auf so etwas kommen?«, fragte Cardinal. »Schließlich ist es nur ein Abschiedsbrief. Schließlich war sie manisch-depressiv.«

»Also gut, jetzt sind Sie natürlich wütend …«

»Sie zeigt Ihnen sogar den Brief, hofft verzweifelt, dass Sie ihr die fixe Idee ausreden. Sie plaudern ein bisschen miteinander, und am Ende der Sitzung geben Sie ihr den Brief zurück.«

»Es ist leicht, es im Nachhinein so negativ darzustellen.«

»Und als sich in den folgenden drei Monaten ihre Selbstmordgedanken zunehmend verstärken und obwohl Catherine Sie drei-, viermal im Monat aufsucht, halten Sie es nicht für nötig, sie in die Klinik einzuweisen. Sie halten es nicht einmal für nötig, mit mir ein Gespräch zu führen. Ich bin ja schließlich nur ihr Ehemann, ich lebe erst seit Jahrzehnten mit ihr zusammen, warum sollten Sie sich die Mühe machen, mich zu informieren? Also sieht es für alle so aus, als würde es Catherine gut gehen. Sie dagegen wissen, dass sie vorhat, sich umzubringen, aber Sie ziehen es vor, nichts dagegen zu unternehmen.«

»Detective, Sie ziehen genau die Schlussfolgerungen, die ich befürchtet hatte. Ich bearbeite das Feld der Trauer und der Verzweiflung – mit Menschen, die an unerträglichen Depressionen leiden. Bedauerlicherweise haben diese Menschen häufig den Wunsch, ihrem Leben ein Ende zu setzen, und leider gelingt es einigen von ihnen. Das ist niemandes Schuld. Die Hinterbliebenen neigen in ihrer Verzweiflung häufig dazu, die Schuld beim behandelnden Psychiater zu suchen. In Ihrem Beruf kennen Sie das sicherlich auch. Ich habe in der Zeitung gelesen, dass die Angehörigen von Perry Dorn der Polizei bittere Vorwürfe machen, weil ein Kollege von Ihnen den Selbstmord des jungen Mannes nicht verhindern konnte.«

»Der Unterschied ist, dass der Kollege alles versucht hat, um den Mann aufzuhalten.«

»Und ich habe alles versucht, um Ihrer Frau zu helfen.«

»Indem Sie es zugelassen haben, dass Sie einen Abschiedsbrief drei Monate lang mit sich herumträgt. Und eines Abends, mitten bei der Arbeit an einem interessanten Projekt, zieht sie ihn ganz spontan aus der Tasche und springt.«

»Hören Sie, Detective, ich beschäftige mich seit dreißig Jahren mit Depressionen, und glauben Sie mir, inzwischen wundert mich überhaupt nichts mehr. Das ist das Einzige, was man über diese Krankheit mit Sicherheit sagen kann: Sie sorgt für Überraschungen.«

»Ach, wirklich? Ich persönlich habe sie als auf grausame Weise vorhersehbar erlebt.«

»Verzeihen Sie, Detective, aber da irren Sie sich. Sie haben es ebenso wenig vorhergesehen wie ich. Und dass Catherine einen Abschiedsbrief benutzt hat, den sie schon vor Monaten geschrieben hatte, zeugt wahrscheinlich von Rücksichtnahme. Sie wollte Ihnen Zeilen hinterlassen, die sie geschrieben hatte, als sie bei klarem Verstand war, einen Brief, der ihre Gefühle weniger krass zum Ausdruck brachte als etwas, das sie in einem Moment äußerster Verzweiflung hingekritzelt hätte. Wie Sie sicherlich wissen, sind Abschiedsbriefe in der Regel nicht von der Sorge um die Hinterbliebenen geprägt.«

»Ist es Ihnen überhaupt jemals in den Sinn gekommen, mich anzurufen, nachdem Catherine diesen Brief geschrieben hatte?«

»Nein. Catherine war vollkommen gelassen, als sie ihn mitgebracht hat. Wir haben ihn besprochen, wie wir zum Beispiel einen Traum oder eine Phantasie analysiert haben. Sie hat mir beteuert, dass sie nicht vorhatte, sich das Leben zu nehmen.«

»Das glaube ich. Ich hätte es sonst kommen sehen.«

»Sie gehen also immer noch davon aus, dass es eine andere Erklärung für ihren Tod geben könnte? Der Grund für Ihren Verdacht, dass es sich um Mord gehandelt haben könnte, waren die verletzenden Beileidskarten, die Sie mit der Post erhalten haben. Sie meinten, nur jemand, der Ihre Frau umgebracht hätte, wäre in der Lage, Ihnen solche Karten zu schicken. Dann, als Sie denjenigen ermittelt hatten, der die Karten geschrieben hat, stellte sich heraus, dass er kein Mörder ist. Ist das richtig? Oder habe ich irgendetwas ausgelassen?«

Ich stehe auf verlorenem Posten, dachte Cardinal. Der Psychoheini hat die Situation in der Hand: Ich habe keinen handfesten Beweis. Nichts.

»Sie war nicht verzweifelt an dem Tag, als sie gestorben ist«, war alles, was er herausbrachte. »Es gab keinerlei Anzeichen dafür, dass sie an Selbstmord dachte.«

»Im Lauf der Jahre hat es zahllose Anzeichen dafür gegeben. Ich kenne ihre Krankenakte, Detective. Catherine ist siebenmal in diese Klinik eingewiesen worden – einmal wegen eines Anfalls von Verfolgungswahn, aber jedes andere Mal wegen schwer zu behandelnder Depressionen. Und jedes Mal hatte sie nur noch den Wunsch zu sterben, jedes Mal glaubte sie, Selbstmord wäre der einzige Ausweg aus ihrer Misere. Mich wundert es überhaupt nicht, dass sie es getan hat, als sie bei relativ klarem Verstand war, als sie in der Lage war, diese Tat mit Vorbedacht zu planen und ordentlich durchzuführen.«

»Ich hätte es kommen sehen«, sagte Cardinal noch einmal, wohl wissend, wie lahm seine Worte klangen. Catherine, was hast du getan? Was hast du mir angetan?

»In Ihrem Beruf haben Sie doch sicherlich häufiger mit Menschen zu tun, die aus allen Wolken fallen, wenn sie bestimmte Dinge erfahren über Menschen, mit denen sie zusammenleben?«

Cardinal musste an den Bürgermeister denken, dessen Frau in Motelbetten herumvögelte. Bin ich so blind? Bin ich der Einzige, der die Wahrheit nicht erkennt?

»Ist es nicht möglich, Detective, dass Sie, blind vor Trauer, nicht sehen, was für jeden anderen offensichtlich ist? Vielleicht sollten Sie sich zugestehen, dass auch Sie sich irren können. Sie haben Ihre Frau verloren, da ist es naheliegend, dass Ihre Wahrnehmung getrübt ist. Und wer würde in Ihrer Situation nicht die lindernde Wirkung der Verdrängung suchen? Die gehässigen Beileidskarten wurden Ihnen von einem rachsüchtigen ehemaligen Kriminellen geschickt. Es besteht kein Grund zu der Annahme, dass Ihre Frau ermordet wurde. Ich habe Catherine fast zwei Jahre gekannt, und ich kann mir nicht vorstellen, dass sie Feinde hatte. Sie haben Jahrzehnte mit ihr zusammengelebt – kennen Sie irgendjemanden, der ein Motiv gehabt haben könnte, sie zu töten?«

»Nein«, sagte Cardinal. »Aber Motive müssen nicht immer persönlicher Art sein.«

»Sie meinen, es gibt auch Psychopathen. Aber nichts deutet darauf hin, dass dies die Tat eines Serienmörders war. Erst recht nicht von einem, der die Möglichkeit hatte, sich in den Besitz von Catherines Abschiedsbrief zu bringen, um ihn am Tatort zu hinterlassen. Wenn Sie glauben, dass Ihre Frau ermordet wurde, dann hätten Sie es nicht verhindern können, wenn Sie gewusst hätten, dass sie vor drei Monaten einen Abschiedsbrief geschrieben hat. Wenn Sie glauben, dass sie sich selbst das Leben genommen hat, dann gibt es für Sie nichts zu ermitteln, es sei denn, Sie wollen mich wegen eines Behandlungsfehlers verklagen. Wie gesagt, und wie Sie selbst sagen, gab es keinerlei Anzeichen dafür, dass Ihre Frau vorhatte, sich umzubringen. Nicht das geringste. Deswegen habe ich dem Brief keine weitere Bedeutung beigemessen. Er war nichts weiter als die Antwort auf eine Frage, die ich ihr gestellt hatte.«

»Und wie lautete die Frage?«

»Wir haben darüber gesprochen, warum sie sich nicht das Leben genommen hatte, trotz ihres jahrelangen Leidens. Der wichtigste Grund, der sie davon abgehalten hat, war die Sorge, was Sie Ihnen damit antun würde – Ihnen und Ihrer Tochter. Meine Frage lautete: Was würden Sie Ihrem Mann sagen, wenn Sie sich tatsächlich das Leben nähmen? Was würden Sie in einem Abschiedsbrief schreiben? Ich wollte, dass sie ihre Gefühle spontan äußerte, aber Catherine hat meine Frage nicht beantwortet. Sie meinte, sie müsse erst darüber nachdenken. Und dann brachte sie zu meiner Überraschung zur nächsten Sitzung diesen Brief mit. Und wie Sie sehen, bringt sie darin eindeutig ihre Liebe zu Ihnen zum Ausdruck.«

Cardinals Hals war wie zugeschnürt. Und dann bemerkte er zu seinem Entsetzen, dass er weinte.

»Vielleicht sollten Sie sich noch ein paar Wochen Urlaub nehmen«, sagte Dr. Bell sanft. »Offenbar haben Sie noch nicht genug Zeit gehabt, um zu trauern. Vielleicht sollten Sie sich wirklich noch eine Weile Ruhe gönnen.«