37

 

Normalerweise genoss Delorme die Frühbesprechung. Alle sechs Detectives der CID-Abteilung versammelten sich um den großen Tisch im Sitzungszimmer und diskutierten bei Kaffee, Donuts und Muffins über den jeweiligen Stand ihrer Ermittlungen. Wenn noch die Kollegen von der Spurensicherung, von der Abteilung Straßenkriminalität, der Mann vom Nachrichtendienst und der Koordinator für Verbrechensprävention dazukamen, konnten an manchen Tagen bis zu sechzehn Personen am Tisch sitzen. Heute allerdings würden sie nur zu siebt sein.

Diese Besprechungen dienten dazu, die Taktik für den Tag festzulegen und jedem bestimmte Aufgaben zuzuteilen. Es war immer interessant, manchmal auch haarsträubend, zu hören, wie andere Detectives bei ihren Ermittlungen vorgingen, und es wurde meistens viel gelacht. Häufig war die Frühbesprechung die einzige Gelegenheit im Laufe des Tages, wo viel gelacht wurde. Mal ließ McLeod eine seiner berühmten Schimpfkanonaden los, oder Szelagy machte irgendeine todernste Bemerkung, über die sich alle köstlich amüsierten. Sogar Cardinal konnte sehr lustig sein, auch wenn sein Humor eher still war und er sich am liebsten selbst auf die Schippe nahm.

Aber heute legte sich Cardinals Anwesenheit wie eine dunk le Wolke über die Stimmung. Während sie auf Chouinard warteten, schwiegen alle vor sich hin und taten so, als wären sie damit beschäftigt, ihre Notizen durchzusehen oder irgendwelche Unterlagen zu sortieren. McLeod las die Sportseiten der Toronto Sun. Cardinal selbst saß einfach still da, seinen auf einer leeren Seite aufgeschlagenen Notizblock vor sich auf dem Tisch. Er tat Delorme leid, denn natürlich spürte er, wie sich seine Präsenz auf die anderen auswirkte.

Chouinard kam hereingerauscht, in der einen Hand eine riesige Tim-Hortons-Henkeltasse, in der anderen ein dünner Hefter. Wenn Haferbrei laufen und sprechen könnte, sagte Ian McLeod gern, dann würde er aussehen wie Daniel Chouinard. Der Detective Sergeant war langweilig, aber verlässlich, farblos, aber vernünftig, ernst, aber solide.

»Bleiben Sie sitzen«, sagte er. Das sagte er jedes Mal, aber natürlich stand sowieso nie jemand auf.

»Sehen Sie, das ist der Grund, warum ich davon träume, eines Tages zum Detective Sergeant befördert zu werden.« McLeod schnappte sich Chouinards dünnen Aktendeckel und hielt ihn hoch. »Wir schleppen alle zentnerschwere Aktentaschen mit uns rum und er bloß eine Speisekarte.«

»Das ist die natürliche Ordnung der Dinge«, sagte Chouinard. »Haben Sie noch nie von den von Gott gegebenen königlichen Vorrechten gehört?«

»An dem Tag muss ich gefehlt haben.«

»Dann woll’n wir mal.« Chouinard trank genüsslich einen großen Schluck Kaffee. Er schlug seinen Aktendeckel auf, der wie immer ein einzelnes beschriftetes Blatt enthielt. »Sergeant Delorme, Ladies first, berichten Sie uns doch kurz, was sich Neues über Ihr kleines Mädchen auf dem Boot ergeben hat.«

»Ich habe das Kajütboot gefunden, auf dem das Kind mindestens einmal missbraucht wurde. Das Boot liegt derzeit im Winterlager im Four-Mile-Hafen. Ich habe es mit Erlaubnis der Eigentümer durchsucht, aber den Ferriers bisher nichts über meine Erkenntnisse mitgeteilt. Das wenige, was von dem Mann auf den Fotos zu erkennen ist, reicht nicht aus, um Mr. Ferrier als Täter auszuschließen. Er hat außerdem eine blonde, dreizehnjährige Tochter, allerdings hatte ich noch keine Gelegenheit, mich mit dem Mädchen zu unterhalten. Die Tochter könnte möglicherweise das Opfer sein, das von einem Freund oder Bekannten der Familie missbraucht wird.«

»Wir haben also einen Tatort. Sie haben keine Vorkehrungen getroffen, den Tatort abzusichern?«

»Es ist schon Jahre her, dass die Fotos aufgenommen wurden – da war das Mädchen ungefähr elf –, und das Boot ist seitdem Wind und Wetter ausgesetzt und im Winter gewartet worden. Ich glaube nicht, dass wir auf dem Boot irgendetwas finden werden. Trotzdem würde ich vorschlagen, dass wir das Winterlager des Hafens bewachen lassen, um zu verhindern, dass sich jemand an dem Boot zu schaffen macht.«

»Kein Problem, das werde ich sofort veranlassen.«

Delorme öffnete einen Umschlag und entnahm ihm zwei weitere Fotos, die aus Toronto gekommen waren. Eins davon zeigte eine Szene auf dem Boot. Auf diesem Foto war das Mädchen angezogen und lächelte in die Kamera. Im Hintergrund war der Hügel zu sehen, von dem sie inzwischen wussten, dass es sich um den Hügel am Trout Lake handelte. Auf dem anderen Foto war das Mädchen wesentlich jünger und nackt. Die Kleine lag auf einem Teppich und lächelte auch diesmal in die Kamera. Im Hintergrund war ein blaues Sofa zu erkennen.

»Wir nehmen an, dass dieses Foto bei ihr zu Hause aufgenommen wurde«, sagte Delorme. »Das blaue Sofa ist auf mehreren der Fotos zu sehen.«

»Ist das der Highway 63 im Hintergrund?«, wollte Chouinard wissen.

»Ja. Die Kollegen in Toronto nehmen an, dass dieses Foto etwa zwei Jahre alt ist. Auch auf einigen der anderen ist das Mädchen im selben Alter zu sehen. Wir suchen also nach einem etwa dreizehnjährigen Mädchen mit blonden Haaren und grünen Augen.«

»Die Kollegen in Toronto gehen davon aus, dass das Foto zwei Jahre alt ist?«

Alle schauten Cardinal an. Delorme spürte die Erleichterung bei allen darüber, dass er sich zu Wort gemeldet hatte. Dass er etwas zu ihrem Fall gesagt hatte, etwas ganz Alltägliches. Jetzt war er wieder ihr Kollege und nicht der verwirrte, trauernde Witwer.

»Ich weiß nicht genau, worauf sie ihre Vermutung stützen«, sagte Delorme, »abgesehen von der Tatsache, dass wir kein Foto von ihr haben, auf dem sie älter als dreizehn ist.«

»Wir suchen nicht nach einer Dreizehnjährigen«, sagte Cardinal. »Das Mädchen wird jetzt etwa achtzehn sein.«

»Wie kommen Sie darauf?«

»Sehen Sie sich die Straßenlaternen am Highway an. Das sind alte Natriumlampen mit gelbem Licht. Sie können sich doch bestimmt noch alle daran erinnern, wie sie durch die neuen weißen ersetzt wurden?«

»Sie sind der Einzige, der da draußen wohnt«, sagte Chouinard. »Vielleicht helfen Sie uns einfach auf die Sprünge?«

»Ich kann Ihnen genau sagen, wann das war, weil ich mir da gerade mein Auto gekauft hatte, und ich fahre einen Camry Baujahr 1999. An dem Tag, als ich den Wagen abgeholt hab, hält mich auf dem Heimweg so ein Grünschnabel von Verkehrspolizist an und meint, ich würde in Anbetracht der Straßenbedingungen zu schnell fahren. Die Lampen waren alle aus. Der Typ hat mir einen endlosen Vortrag gehalten, mir ins Gewissen geredet, ich solle vorsichtiger fahren, vor allem mit so einem nagelneuen Auto. Ich hätte ihn erwürgen können.«

»Er hat Ihnen tatsächlich einen Strafzettel verpasst?«, fragte McLeod.

»Ja, hat er.«

»Sehen Sie, das ist das Problem mit diesen Streifenpolizisten«, sagte McLeod. »Die kriegen von Anfang an nur das Falsche beigebracht. Die sehen nur die Vorschriften, aber nicht die Realität, die haben kein Gespür für Situationen. Gebt mir zwei Wochen in Orillia, Mann – ich würde in der Gegend für Ordnung sorgen.«

»Sie würden sie wohl eher auf den Kopf stellen«, bemerkte Chouinard.

»Also, wenn die Kleine 1999 elf war«, sagte Cardinal, »dann ist sie jetzt siebzehn oder achtzehn.«

Delorme versuchte immer noch zu verarbeiten, was Cardinal gesagt hatte. Es war, als hätte man ihr eine falsche Brille verpasst, und sie würde eine Weile brauchen, um sich daran zu gewöhnen. Sie suchte nicht länger nach einer Dreizehnjährigen. Von jetzt an musste sie nach einer Achtzehnjährigen suchen.

»Ich habe aus Toronto noch mehr Fotos angefordert«, sagte sie. »Die Kollegen meinten, ich müsste sie heute bekommen. Offenbar haben die gerade etwa hundert CDs bei einem von diesen Perversen sichergestellt, und es sind viele Fotos dabei, auf denen das Mädchen zu sehen ist. Ich hoffe, dass die Hintergründe auf neuen Aufnahmen uns weiterhelfen werden.«

»Also gut«, sagte Chouinard. »Cardinal, Sie arbeiten mit Delorme zusammen an dem Fall. Wir müssen diesen Mistkerl dingfest machen, aber ich möchte nicht das gesamte Department auf den Fall ansetzen. Schließlich haben wir es nicht mit einem größeren Porno-Ring zu tun. Soweit wir wissen, handelt es sich um einen Einzeltäter, der ein einzelnes Mädchen missbraucht. Das ist zwar eine ernste Angelegenheit, aber ich möchte keine Arbeitskraft vergeuden. Und, Delorme, diese Fotos unterliegen der Geheimhaltung. Die werden nur gezeigt, wenn es unbedingt erforderlich ist.«

»Selbstverständlich.«

»Was ist mit den Leuten am Jachthafen? Keiner von denen hat irgendetwas Verdächtiges beobachtet?«

»Nein, nichts. Das ist ein ziemlich friedlicher Ort. Ich habe denen erzählt, ich würde in einem Fall von Körperverletzung ermitteln, die denken also gar nicht an Kindesmissbrauch. Die einzige Gewalttat, die jemand erwähnt hat, wurde nicht direkt im Hafen beobachtet. Jemand hat mal vor dem Restaurant nebenan versucht, Frederick Bell zu verprügeln.«

Cardinal blickte auf.

»Den Psychiater?«, fragte Chouinard.

»Ja. Das war vor etwas über einem Jahr. Ein wütender Vater. Sein Sohn, der bei Bell in Behandlung gewesen war, hatte Selbstmord begangen.« Delorme konnte Cardinal nicht ansehen, als sie das Wort aussprach, doch sie spürte, dass er sie anschaute.

»Ich weiß, wie das abläuft«, sagte Burke wehmütig und machte alles noch schlimmer, indem er hinzufügte: »Manche Menschen wollen einfach nicht leben.«

»Sie haben getan, was Sie konnten. Das habe ich Mrs. Dorn versichert«, sagte Delorme. Dann, in der Hoffnung, das Thema Selbstmord schnell wieder beenden zu können, wandte sie sich an Chouinard. »Ich kenne Perry Dorns ältere Schwester. Vielleicht sollte ich noch mal mit ihr reden.«

Der Chief schüttelte den Kopf. »Es ist kein offizieller Ermittlungsfall, und die Familie droht mit Klage.«

»Ich könnte mich inoffiziell mit ihr unterhalten, wir sind ein bisschen befreundet. Zufällig war ihr Bruder auch Patient bei Dr. Bell.«

»Also gut. Aber nicht auf dem Revier und nicht über ein Polizeitelefon. Nächstes Thema?«

Delorme hörte sich geduldig an, wie Arsenault seine Verdächtigenliste im Fall Zeller durchging. Und McLeod bearbeitete mehrere Fälle von Körperverletzung, hatte jedoch das Problem, dass keiner seiner Zeugen zu einer Aussage bereit war, was er natürlich als willkommenen Vorwand benutzte, um sich über diese Mauer des Schweigens zu ereifern.

 

Als sie wieder zu ihren Schreibtischen zurückgekehrt waren, sprach Cardinal Delorme an.

»Dieser Mann, der auf Dr. Bell losgegangen ist«, fragte er. »Wie heißt der?«

»Burnside«, sagte Delorme. »William Burnside. Sein Sohn hieß Jonathan.«

»Ich erinnere mich an den Fall. Wusstest du eigentlich, dass Catherine ebenfalls bei diesem Dr. Bell in Behandlung war?«

»Ja, ich hab’s mir gedacht.«

Cardinal sah sie so durchdringend an, dass es sie ganz nervös machte. Normalerweise war er die Gelassenheit in Person, ein bisschen mürrisch manchmal, aber eigentlich ruhig und liebenswürdig.

»Jonathan Burnside, Perry Dorn und Catherine. Meinst du nicht, das sind reichlich viele Selbstmorde für einen Psychiater? Wie wahrscheinlich ist es, dass sich drei Patienten eines Therapeuten innerhalb so kurzer Zeit das Leben nehmen?«

»Vier«, korrigierte Delorme. »Ich hab mir gestern noch mal unseren letzten Fall von Kinderpornographie vorgenommen.«

»Ja, natürlich«, sagte Cardinal. »Keswick.«

»Leonard Keswick. Hat sich erschossen, nachdem er auf Kaution freigelassen worden war. Was ziemlich verwunderlich war, weil er nur mit einer geringfügigen Strafe rechnen musste. Er hatte bloß ein paar Pornofotos auf seinem Computer, hauptsächlich von Teenagern, und er hatte sie noch nicht mal selbst aufgenommen.«

»Ich erinnere mich. Offenbar konnte er mit der Schande nicht leben.«

»Außerdem hatte er wegen dieser Sache seinen Job verloren.«

»Sag mal, wie sind wir eigentlich damals auf Keswick gekommen? Er hat keine Kinderpornos verkauft, und er hat nicht mit dem Zeug gehandelt. Woher wussten wir überhaupt von ihm?«

»Wir hatten einen anonymen Hinweis bekommen. Jemand hatte hier angerufen. Vielleicht einer von diesen freiwilligen Computerwächtern, von denen man hört.«

»Ja«, sagte Cardinal. »Vielleicht.«