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Tote Mutter und Kind. Das Gemälde von Edvard Munch war Frederick Bells Lieblingsbild, und er wusste genau, warum. Die reglose Gestalt der toten Mutter auf dem Bett, bleich, fast transparent, die trauernden Angehörigen, und niemand beachtet das kleine Mädchen im Vordergrund, das die Hände hebt, als wollte es die Augen oder die Ohren bedecken, um sich gegen die Erkenntnis zu wehren, dass die Mutter tot ist. Bell wusste, dass Munchs Mutter an Schwindsucht gestorben war, als dieser noch ein Junge war, und ihr früher Tod hatte Munchs ganzes Leben überschattet. Der Tod der Mutter hatte ihn traumatisiert, und er hatte ihn zum Künstler gemacht.

Schwindsucht. Die Medizin hatte in den vergangenen hundert Jahren große Fortschritte gemacht. Schwindsucht, oder Tuberkulose, war mit Hilfe von Antibiotika praktisch vom Planeten Erde getilgt worden. Depressionen dagegen florierten mehr denn je.

Munch hatte sein Sterbebett gehabt. Bell hatte schon an zweien gesessen.

Zum ersten Mal, im Alter von acht Jahren, an dem seines Vaters. Jeden Tag hatte er nach der Schule eine Stunde lang am Bett seines Vaters sitzen müssen, bis seine Mutter, die Krankenschwester war, von der Arbeit nach Hause kam.

Sein Vater war dunkelhaarig gewesen: buschiger Bart, buschige Augenbrauen, krauses, schwarzes Haar. Ein schwarzer Ire, hatte Bells Mutter immer gesagt, und der Junge hatte sich gefragt, ob sein Vater vielleicht etwas mit den Unruhen in Nordirland zu tun gehabt hatte. Später hatte er jedoch erfahren, dass sein Vater niemals einen Fuß in das Land gesetzt hatte. Später hatte er alle möglichen Dinge erfahren.

Doch damals, am Sterbebett Nummer eins, hatte ein weißer Kopfverband, der ein Auge bedeckte, dem schönen Gesicht seines Vaters etwas Heroisches verliehen. Er wirkte wie ein gerade aus dem Krieg zurückgekehrter Soldat, der im Kampf für sein Vaterland verwundet worden war und angesichts der erlebten Greuel den Verstand verloren hatte.

Ein Unfall, hatte seine Mutter gesagt. Ein schrecklicher Unfall beim Säubern seiner Pistole, einer Luger, die er 1945 einem toten deutschen Soldaten abgenommen hatte.

Die Tür zum Arbeitszimmer von Bells Vater hatte offen gestanden, was noch nie vorgekommen war. Das Arbeitszimmer seines Vaters hatte niemand unaufgefordert betreten dürfen. Der kleine Frederick war nur wenige Male in dieses Zimmer zitiert worden, einmal, um ein Lob zu empfangen, weil er das Schuljahr als Klassenbester abgeschlossen hatte, mehrmals, um Strafe zu empfangen.

Sein Vater hatte ihm Angst und Schrecken eingejagt – mit seinen düsteren Stimmungen, seinen Wutanfällen –, aber er konnte auch liebenswert sein. Einmal, im Sommer, hatte er Frederick zu einem Spaziergang durch die Wiesen mitgenommen, um Schmetterlinge zu fangen und zu bestimmen, ein Nachmittag, der zu Bells glücklichsten Erinnerungen zählte. Sein Vater war Biologielehrer in der nahe gelegenen Grundschule gewesen, und er hatte tatsächlich immer dann entspannt und zufrieden gewirkt, wenn er jemandem etwas beibringen konnte.

Wenn er sich abends Zeit nahm, um seinem Sohn etwas zu erklären, war er ein anderer Mensch gewesen: geduldig, gutgelaunt und auf vielen Gebieten beschlagen. Er konnte ebenso über die Geschichte der Luftfahrt referieren wie über die Funktionsweise eines Verbrennungsmotors, die DNA-Struktur, die diatonische Tonleiter. Stundenlang konnte er mit dem kleinen Frederick zusammensitzen und ihm Dinge erklären, sie in einen größeren Kontext setzen, ihm Ratschläge geben, was er sich notieren oder wie er Zeichnungen anfertigen sollte, um das Gelernte zu behalten. Und zwischendurch legte er dem Jungen immer wieder eine Hand auf die Schulter und sagte: »Roll nicht so mit den Schultern, das wird noch mal zu einem Tick.«

Bell hatte immer noch das kleine Modell einer Dampfmaschine, das sein Vater ihm geschenkt hatte, der es wiederum von seinem Vater bekommen hatte. Ein einfaches, formschönes Spielzeug mit einem winzigen Messingdampfkessel, der von zwei Messingbügeln über einem hölzernen Unterbau gehalten wurde. Der Kessel hatte einen fest sitzenden Deckel, den man abschrauben konnte, um aus einem Messbecher Wasser in die Öffnung des Kessels zu füllen. Ein Kolben, eine Antriebswelle, ein Schwungrad, das war alles. Man stellte eine winzige, mit Brennspiritus gefüllte Lampe unter den Kessel. Wenn das Wasser kochte, bewegte der Dampf den Kolben, der Kolben bewegte die Antriebswelle, die wiederum das Schwungrad in Bewegung setzte. Das Beste war das winzige Ventil an einem Ende des Dampfkessels, das, wenn man es mit einem Hebel öffnete, ein überraschend lautes Pfeifen von sich gab.

Diese pädagogischen Nachmittage und Abende waren allerdings Ausnahmen gewesen. Mr. Bell litt an Depressionen, die dazu führten, dass er tagelang sein Arbeitszimmer nicht verließ. Wenn er in so einer düsteren Stimmung war, tat man besser daran, ihn nicht zu stören. Selbst wenn Frederick einsam war und sich langweilte, weil alle seine Freunde irgendwohin in die Ferien gefahren waren, wagte er es nicht, an die Tür des Arbeitszimmers zu klopfen. Nicht selten saß der Junge auf dem Stuhl in der Diele vor dem Zimmer, saß einfach da, ließ die Füße baumeln und wartete darauf, dass sein Vater endlich herauskam.

Manchmal hörte er jemanden im Arbeitszimmer weinen, hörte, wie Papier zerrissen, wie ein Buch an die Wand geworfen wurde, obwohl sein Vater ganz allein da drin war. Das Schluchzen beunruhigte den Jungen, es machte ihm Angst. Hin und wieder klopfte seine Mutter vorsichtig an die Tür. Dann hörte das Schluchzen auf, und sie ging hinein. Durch die Tür hörte Frederick ihre Stimme, fragend, tröstend, flehend, und die lakonischen, unverständlichen Antworten seines Vaters.

Damals hatte niemand einen Namen dafür gehabt, zumindest niemand innerhalb der Familie. Menschen hatten Stimmungen, manche hatten eben besonders düstere Stimmungen, das war alles. Sie lebten in England, sie hatten den Krieg überstanden, etwas Schlimmeres konnte es nicht geben. Kopf hoch, hieß es, nur keine Gefühle zeigen, nicht murren und sich unter keinen Umständen anmerken lassen, dass man emotionale Probleme hatte. Das Wort Depression nahm niemand in den Mund.

Und so stellte Frederick keine Fragen, als seine Mutter ihm erklärte, sein Vater habe beim Säubern seiner Pistole einen schrecklichen Unfall gehabt. Und doch wunderte er sich. Einmal hatte sein Vater ihn mit in sein Arbeitszimmer genommen, um ihm zu zeigen, wie man eine Schusswaffe reinigte und pflegte. So etwas war Männersache, und im Zimmer roch es nach Öl und Metall. Sein Vater hatte ihm eingeschärft, dass man eine Schusswaffe weder in geladenem Zustand verstaute noch gemeinsam mit der Munition aufbewahrte. Er hatte ihn ermahnt, niemals den Lauf einer Pistole auf einen Menschen zu richten, sich selbst eingeschlossen, nicht einmal im Scherz. Man achtete darauf, eine Schusswaffe so zu halten, dass sie auf den Boden gerichtet war oder in eine Ecke, sogar dann, wenn man die Waffe zum Reinigen in ihre Einzelteile zerlegte und diese auf einem Tuch ausbreitete.

Viel später, während seines Medizinstudiums, war Bell klar geworden, dass die Kugel über den hinteren Nasenrachenraum eingedrungen war, den Gaumen durchschlagen und wahrscheinlich eine Augenhöhle zertrümmert hatte und schließlich durch die hintere Schädeldecke ausgetreten war. Damals waren die Notärzte noch nicht so geschickt im Umgang mit Schusswunden gewesen. Heute würden sie einen Mann mit einer solchen Verletzung wahrscheinlich nach ein paar Wochen mit eingeschränktem Sprech- und Sehvermögen wieder nach Hause schicken. In den fünfziger Jahren jedoch war eine solche Verletzung tödlich gewesen, wenn auch nicht auf der Stelle.

Fredericks Vater war zäh. Ein Krankenhausbett wurde im Wohnzimmer aufgestellt. Jeden zweiten Tag kam eine Krankenschwester, um nach ihm zu sehen und seinen Verband zu wechseln. Dann wurde Frederick jedes Mal hinausgeschickt. Manchmal murmelte sein Vater vor sich hin, unverständliches Zeug wie »Drachenfuß« oder »auf Draht«.

Fredericks Mutter war so überwältigt von Trauer, dass sie ihrem kleinen Sohn kaum eine Hilfe war. Im Gegenteil, er war es, der versuchte, sie zu trösten, der ihr Tee servierte und die Brote, die seine Tanten vorbeibrachten. Dann lächelte sie ihn traurig an, und ihre Augen füllten sich mit Tränen. Während dieser ganzen Zeit kam Frederick sich vor, als wäre er unsichtbar. Seine Tanten unterhielten sich, als wäre er gar nicht da, und mehr als einmal hörte er eine von ihnen – Tante May – ins Telefon flüstern: »… hat sich erschossen«, auf eine Weise, die es ganz und gar nicht so klingen ließ, als wäre es ein Unfall gewesen.

Der unsichtbare Junge saß im dunklen Treppenhaus und lauschte. Jedes Mal, wenn jemand heraufkam, um die Toilette zu benutzen, flitzte er in sein Zimmer und tat so, als würde er ein Buch lesen. Er bekam alles Mögliche mit, und mehrmals hörte er seine Mutter wehklagen: »Warum hat er das getan? Warum nur?«

»Er muss schrecklich gelitten haben, der Ärmste«, sagte Tante May.

»Er war nicht recht bei Sinnen«, meinte Tante Josephine. Und so dämmerte dem kleinen Frederick ganz allmählich, dass sein Vater sich absichtlich erschossen hatte. Die Erkenntnis war ihm unheimlich, aber er konnte nichts damit anfangen. Es gab weder Priester noch Nonnen, die er um Rat hätte bitten können. Nicht dass sie ihm hätten helfen können, aber er war ohne Religion aufgewachsen. Und mit seiner Mutter konnte er auch nicht darüber sprechen, denn sie behauptete immer noch steif und fest, es sei ein Unfall gewesen. Er war wie das kleine Mädchen in dem Bild von Munch: verwirrt und allein, ohne jemanden, an den er sich wenden konnte.

Das unheimliche Gefühl in seinem Magen blieb und verhärtete sich. In der Schule kam es ihm so vor, als würde der Lehrer aus großer Ferne zu ihm sprechen, wie vom Rand eines tiefen Brunnens aus, in den Frederick gestürzt war. Doch er hatte nicht das Bedürfnis, aus dem Brunnen herauszuklettern. Seine Mitschüler und deren Spiele und Albereien interessierten ihn nicht mehr. Während der Pausen setzte er sich unter einen Baum, zählte Steinchen oder Grashalme oder las eine von seinen Forscherbiografien.

Sein Vater sank immer tiefer ins Koma. Die Schwester sagte, es stehe schlecht um ihn. Ein Arzt wurde gerufen – damals machten sie noch Hausbesuche – und dann noch einer. Beide erklärten, sie könnten nichts tun, Fredericks Vater würde entweder wieder aufwachen oder nicht.

Nichts zu machen.

Dr. Bell hatte oft gedacht, hätte Munch sich selbst als kleinen Jungen gemalt, wie er an dem Sterbebett saß, dann hätte er dem Bild diesen Titel gegeben. Nichts zu machen. Man konnte nichts tun, als zu trauern und sich von den Gefühlen überwältigen zu lassen, über die in den fünfziger Jahren in einem britischen Haushalt nicht gesprochen werden durfte. Als Psychiater war Dr. Bell sich darüber im Klaren, dass er damals eine unbändige Wut auf seinen Vater gehabt haben musste, weil er ihn, seinen Sohn, auf so drastische Weise im Stich gelassen hatte, weil er seiner Mutter so unendlich großes Leid zugefügt hatte. Aber er hatte diese Wut nie empfunden. Damals nicht, und heute empfand er sie auch nicht.

Frederick Bells Vater starb im März 1952 an einem Freitagnachmittag. Weder der Junge noch seine Frau waren in seiner Todesstunde bei ihm. Fredericks Tante May war gerade an der Reihe gewesen, an seinem Bett Wache zu halten. Ihrem Bericht zufolge (wie sie jemandem am Telefon im Flüsterton erzählte, während der Junge lauschte) war es ein schreckliches Ereignis gewesen. Mr. Bell, der sich während der vorangegangenen drei Wochen kaum noch gerührt hatte, war plötzlich im Bett hochgefahren, das unverbundene Auge weit aufgerissen. Tante May war vor Schreck wie gelähmt. Vor ihr saß ihr Bruder kerzengerade im Bett und starrte fast eine Minute lang vor sich hin.

»Dann hat er angefangen zu sprechen«, berichtete sie. »So als hätte ihm jemand gerade eine schlimme Nachricht überbracht. O mein Gott, sagte er. Nicht ehrfürchtig, wie ein Gläubiger. Ich glaube nicht, dass er eine Gotteserscheinung hatte. Er sagte es in einem Ton, als hätte er gerade erfahren, dass eine Schule abgebrannt ist, eine Mischung aus Entsetzen und Staunen. O mein Gott, sagte er, dann hat er sich wieder hingelegt. Ich hab versucht, mit ihm zu sprechen, aber er hat kein Wort mehr gesagt, nur noch einmal gejapst, und das war’s. Jane hat es natürlich schrecklich mitgenommen.«

Jane war Fredericks Mutter, und nach dem Tod seines Vaters waren nur noch sie beide im Haus. Irgendwann räumte sie das Arbeitszimmer seines Vaters um und machte wieder einen Salon daraus, so wie früher, aber trotzdem wurde das Zimmer nie wieder benutzt. Kurze Zeit später waren sie aufgrund finanzieller Schwierigkeiten gezwungen, sich eine bescheidenere Bleibe zu suchen. Sie zogen in eine dunkle, kalte Wohnung, wo sie die nächsten zehn Jahre verbrachten. Als Frederick eines Tages von seinem Aushilfsjob in der örtlichen Apotheke nach Hause kam, fand er an der Tür eine Nachricht in der Handschrift seiner Mutter:

 

Frederick, komm nicht in die Wohnung. Geh bitte zu Tante May und sag ihr, sie soll einen Arzt rufen.

 

Und so folgte Sterbebett Nummer zwei. Diesmal ging es vergleichsweise schnell. Fredericks Mutter hatte eine Überdosis Schlaftabletten geschluckt, hatte sich jedoch übergeben. Und so brauchte sie drei Tage zum Sterben anstatt der ein, zwei Stunden, die sie zweifellos einkalkuliert hatte. Am Ende war ihre Hirnfunktion derart beeinträchtigt, dass die übrigen Organe versagten.

Frederick musste die Wohnung aufgeben und in einen Kellerraum bei Tante Josephine ziehen. Beim Sortieren der Papiere seiner Mutter fand er einen alten Briefumschlag, auf dem in der Handschrift seines Vaters nur ein einziges Wort stand: Jane. Er enthielt folgenden Brief:

Liebe Jane,

ich werde mich umbringen und dieser Farce ein Ende setzen. Es tut mir leid, dass ich dir solche Unannehmlichkeiten bereite. Aber ich bekomme mich einfach nicht in den Griff.

Keine Unterschrift, keine Liebeserklärung, kein Wort über ihren gemeinsamen Sohn. Frederick Bell, achtzehn Jahre alt, setzte sich im Schlafzimmer seiner Mutter zwischen Koffern und Kisten aufs Bett und starrte lange auf den Abschiedsbrief seines Vaters.

 

Zum Glück war er ein intelligenter junger Mann, und er war entschlossen, Erfolg im Leben zu haben. Er absolvierte sein Studium mit Hilfe von Stipendien und Teilzeitjobs. Dank der Unterstützung von Tante Josephine hielten sich seine Lebenshaltungskosten in Grenzen, solange er an der Universität in Sussex studierte.

Nach außen hin gelassen und zu Scherzen aufgelegt, entwickelte Frederick innerlich ein ausgeprägtes Sendungsbewusstsein. Er wollte die Blindheit kurieren, wie er es selbst ausdrückte – die Blindheit der Medizin gegenüber dem Problem des Suizids. Er hatte beide Eltern durch Selbstmord verloren, und beide waren bei Hausärzten in Behandlung gewesen, die sie weder als depressiv noch als suizidgefährdet diagnostiziert hatten.

Er nahm sich vor, die Behandlung suizidgefährdeter Patienten zu perfektionieren. Dabei war er ebenso fasziniert von den Möglichkeiten der Pharmazie wie der Behandlung durch verschiedene Arten der Gesprächstherapie. Bis auf gelegentliche Ausflüge mit einem Ruderboot auf einem nahe gelegenen Fluss widmete er seine ganze Zeit und Energie ausschließlich diesem Thema. Er betrat die Universitätsbibliothek an einem Tag im September und verließ sie Jahre später mit einem Doktortitel. Nach weiteren vier Jahren an der London University hatte er die Approbation zum Psychiater, bereit zum Kampf mit der Wesenheit.

In den verschiedenen Kliniken, in denen er Praktika absolvierte, fiel seine besondere Begabung für die Behandlung von depressiven Patienten auf, und er erhielt ausnahmslos hervorragende Beurteilungen. Sein letztes Praktikum machte er in der Kensington Clinic, wo man ihm nach den sechs Monaten eine Stelle als Assistenzarzt anbot. Er war engagiert, sensibel und stets auf dem Laufenden, was neue Medikamente anging. Seine Resultate sprachen für sich.

Sein erstes Jahr war mit Arbeit und Erfolgen ausgefüllt. Irgendwie fand er trotzdem die Zeit, Dorothy Miller, einer Krankenschwester aus der Klinik, den Hof zu machen. Sie lachte über den sanften, witzigen Mann mit den nervösen Ticks – mit seinem Schulterrollen und Kopfschütteln –, und sie bewunderte ihn. Er fand Dorothy attraktiv, und es gefiel ihm, dass sie ihn gelegentlich dazu verdonnerte, mit ihr ins Kino oder essen zu gehen, damit er wenigstens hin und wieder wie ein normaler Mensch lebte.

Während seines zweiten Jahres als Psychiater fingen die Probleme an. Selbst dreißig Jahre später erinnerte er sich noch an das erste Mal, als die Veränderung sich deutlich bemerkbar machte. Schon seit einigen Wochen war es ihm immer schwerer gefallen, seinen Patienten zuzuhören. Manchmal schreckte er aus seinen Gedanken auf und merkte, dass er eine Frage nicht gehört hatte. Oder dass jemand ihm gerade etwas Wichtiges erzählt hatte und er gar nicht reagierte. Dann schaute der Patient ihn erwartungsvoll an, und er hatte keine Ahnung, weswegen.

Eines Tages beschrieb ihm ein Mann in mittleren Jahren – seit zwölf Jahren verheiratet, drei Kinder –, wie schrecklich deprimiert er sei, wie er jeden Morgen stöhnend und fluchend aufwachte, weil er nicht wusste, wie er den Tag hinter sich bringen sollte. Und plötzlich packte Bell die Wut. Er konnte sich das selbst nicht erklären, es kam wie aus heiterem Himmel. Er führte ein angenehmes Leben, er liebte seinen Beruf, und sein Patient hatte ihn nicht provoziert, und dennoch spürte er, wie die Wut ihm vom Bauch in die Brust stieg und so stark wurde, dass er am liebsten aufgesprungen wäre, den Mann am Kragen gepackt und kräftig geschüttelt hätte.

An jenem Tag war das Gefühl ziemlich schnell wieder verflogen, doch diese Anwandlungen überkamen ihn immer häufiger. Und es war nicht nur dieser eine Patient, der die Wut in ihm auslöste, es waren alle seine Patienten – zumindest die mit Depressionen. Es war eine alarmierende, kräftezehrende Entwicklung, aber er wagte nicht, mit einem seiner Kollegen darüber zu sprechen.

Es wurde ihm zunehmend unangenehm, seinen Patienten überhaupt gegenüberzutreten. Er konnte es nicht ertragen, sich anzuhören, wie sehr sie sich selbst hassten, mit welcher Verachtung sie auf ihr Leben blickten. Er konnte es nicht ertragen, wie sie lamentierten, sie hätten keine Zukunft mehr, wie sie greinten, sie hätten das Leben so satt, sie hätten sich selbst satt, vor allem sich selbst. Es war eine Tortur.

Und dann passierte es eines Tages. Die Wut brach aus ihm heraus.

Edgar Vail war ein sechsunddreißigjähriger Werbegrafiker, der in die Klinik eingewiesen worden war, weil er versucht hatte, sich zu ertränken, nur um festzustellen, dass er ein besserer Schwimmer war, als er in Erinnerung hatte. In der Vergangenheit hatte es bereits Fälle von Suizid in seiner Familie gegeben, und im Augenblick fühlte er sich völlig isoliert. Zusätzliche Faktoren waren der Kummer über eine kürzlich erfolgte Scheidung und eine Reihe von beruflichen Enttäuschungen. Anders ausgedrückt, es gab eine Menge Gründe, traurig zu sein.

Vail wollte Bilder malen. Das heißt, er malte bereits Bilder, aber er fand keine Galerie, die seine Werke ausstellte, und niemand außer seinen Freunden hatte je ein Bild von ihm gekauft. Er redete endlos über das Thema, starrte auf den Boden, schüttelte den Kopf, fragte sich, warum er sich überhaupt die Mühe machte zu malen, meinte, vielleicht sollte er seine Pinsel einfach in den Müll werfen und die Kunst ganz aufgeben. Genauso sei es ihm mit seinem Liebesleben ergangen, fuhr er fort, obwohl er sich so große Mühe gegeben habe, sei nichts dabei herausgekommen.

»Warum bringen Sie sich nicht einfach um?«, stieß Bell hervor. »Warum machen Sie nicht endlich Schluss und sehen zu, dass Sie es diesmal nicht vermasseln?«

Vail sah ihn an. Der Schock in seinem sonst so gequälten Blick machte Bell Angst.

Um zu retten, was zu retten war, sagte er: »Nun, ich wollte Sie nicht erschrecken. Was ich sagen wollte ist: Sie hatten eine volle Schachtel Seconal zu Hause, aber stattdessen springen Sie ins Wasser, obwohl Sie genau wissen, dass Sie ein guter Schwimmer sind. Sie hätten Ihre Qualen ganz einfach mit einer Handvoll Tabletten beenden können, doch Sie haben sich dagegen entschieden. Vielleicht sollten wir uns auf das konzentrieren, was hinter dieser Entscheidung steht.«

Vail wirkte schon etwas weniger schockiert.

»Einen Moment lang dachte ich tatsächlich, Sie würden gleich auf mich losgehen.«

»Um Himmels willen, nein. Ich bitte Sie. Fahren Sie fort.«

Vail schien sich zu beruhigen. Er ließ sich wieder auf die Couch sinken und vertraute darauf, dass sein Psychiater bemüht war, ihm zu helfen.

Während der folgenden Monate machte Bell es sich zur Aufgabe, seine Wut verbergen zu lernen. Er versuchte es damit, sich vor einer Therapiesitzung an Situationen zu erinnern, in denen er glücklich gewesen war. Es funktionierte nicht, denn kaum wurde er mit dem Elend des Patienten konfrontiert, war alles wieder vergessen. Er versuchte es mit Sport, nahm das Rudern wieder auf. Aber das verursachte ihm einen derartigen Muskelkater, dass er nur noch jähzorniger wurde – und zwar gegenüber jedem, nicht nur gegenüber den Patienten.

Doch schließlich bekam er seine Wut in den Griff, indem er sich die Fähigkeit antrainierte, sie nicht einmal mehr zu empfinden. Und er tat das, indem er sich verhielt wie jeder andere Psychiater auch. Er kam darauf, als er eines Nachmittags zum Rudern ging. Er blieb stehen, die Ruder in der Hand, und ließ sich schwer auf eine Bank am Flussufer fallen.

Die Themse schimmerte silbern und golden im letzten Sonnenlicht. Er hörte das Wasser plätschern, das Laub im Wind rascheln und von fern das Rauschen des Verkehrs. Einen Moment lang meinte er, ein Gespräch zu hören, das mehrere Straßen entfernt geführt wurde. Ein Augenblick völliger Verwirrung, hätte man meinen können, aber Bell erkannte, dass es ein Augenblick vollkommener Klarheit war.

Ihm war plötzlich bewusst geworden, dass man die Werkzeuge der Therapie auf ganz neue Weise benutzen konnte, genau wie ein Chirurg seine Klinge einsetzte. Man konnte dieselben Fragen stellen, die Brauen auf dieselbe Weise heben, tiefes Mitgefühl zeigen, positive Aufmerksamkeit schenken und alles, was dazugehörte. Aber wenn man das alles ganz leicht verdrehte, wenn man den Winkel um einige Grade änderte, konnte man den Patienten in eine ganz andere Richtung lenken.

Als Edgar Vail das nächste Mal sein Sprechzimmer verließ, versorgt mit einem neuen Rezept für Beruhigungsmittel, sprach Bell laut zu seinen mit Bücherregalen vollgestopften Wänden: »Erschieß dich und bring es endlich hinter dich, du erbärmlicher Versager.«

Die Worte schienen in dem leeren Zimmer widerzuhallen, und Bell wurde ganz schwindlig. Er musste laut lachen. Es war so einfach, warum war er nicht eher darauf gekommen? Er lachte vor Verblüffung angesichts seiner Erkenntnis, aber auch aus Erleichterung.

 

Es war erstaunlich, wie einfach es war. Man nehme einen Patienten, der kreuzunglücklich ist, bestelle ihn zu ein paar Therapiesitzungen, um das Vertrauen herzustellen, und verschreibe ihm eine Familienpackung Schlaftabletten. Damals waren das noch Barbiturate. Bei richtiger Anwendung absolut tödlich.

In einigen Fällen, wie zum Beispiel bei Edgar Vail, der zwar vor Selbstverachtung verging, aber ansonsten ein völlig normales Leben führte, musste man sich vergewissern, dass die Patienten die richtige Dosierung kannten. Wenn sie zu viel nahmen – wie Bell aus der Erfahrung mit seiner Mutter wusste –, übergaben sie sich und hatten eine Chance zu überleben. Wenn sie zu wenig nahmen, kam nicht mehr dabei heraus als ein schlimmer Kater.

In anderen Fällen, bei Patienten, die aus unerklärlichen Gründen vor Gram gebrochen waren, so wie es bei seinem Vater der Fall gewesen war, musste Bell etwas geschickter vorgehen. Diese Leute bestellte er für Montag oder Dienstag zu einer Therapiesitzung und schickte sie mit einem Rezept für eins von diesen trizyklischen, schnell wirkenden Antidepressiva nach Hause. Bis zum Wochenende verfügte der Patient über genügend Energie, um sich die Pistole an den Kopf zu setzen, aufs Dach zu steigen oder eine Schlinge zu knoten. Es war, als würde man eine Lunte zünden. Von den ersten zwanzig von ihm betreuten Selbstmördern war etwa die Hälfte auf diese Weise geendet. Weitere fünfundzwanzig Prozent (darunter Edgar Vail) hatten sich für Sedativa entschieden. Die anderen waren so heillos depressiv gewesen, dass sie sich wahrscheinlich auch ohne seine Hilfe umgebracht hätten, in diesen Fällen rechnete Bell sich kein Verdienst an.

Aber das Verschreiben von Medikamenten war problematisch. Zum einen kam es ihm zu einfach vor. Die Medikamente übernahmen die ganze Arbeit, das war keine Herausforderung für einen Psychiater. Außerdem war es riskant. In der Krankengeschichte eines Selbstmörders machte sich ein Rezept über eine große Menge Sedativa überhaupt nicht gut, da die tödliche Wirkung der trizyklischen Antidepressiva hinlänglich bekannt war. In Swindon wäre er einmal um ein Haar über dieses Problem gestolpert. Auch später, in Manchester, hätte es beinahe eine Untersuchung gegeben, allerdings aufgrund der hohen Sterbequote seiner Patienten, nicht wegen zu großzügigen Verschreibens von Medikamenten. Jedenfalls war Bell vorsichtshalber nach Kanada gezogen. Er arbeitete schon lange nicht mehr mit Beruhigungsmitteln, sondern verließ sich einzig und allein auf seine therapeutischen Fähigkeiten.