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Delorme war erleichtert, endlich dem Revier zu entkommen und sich auf den Weg zu machen, um in der Kinderporno-Sache zu ermitteln. Der arme Burke hatte zwar Perry Dorn nicht retten können, aber Delorme war optimistisch, dass sie das geheimnisvolle Mädchen finden würde, um es vor seinem Peiniger zu retten.
Sie fuhr nach Trout Lake hinaus und stellte ihren Wagen auf dem kleinen Parkplatz oberhalb von Fredericks Jachthafen ab. Als sie die hölzerne Treppe hinunterging, wehte ihr vom See her ein kühler Wind entgegen. Allein die Herbstluft war die Fahrt hier heraus wert. Reiner Sauerstoff angereichert mit den ersten Vorboten von Frost. Man fühlte sich voller Tatendrang, wollte neue Projekte angehen, Verbrechen aufklären.
Delorme hatte als Kind Schwimmunterricht gehabt – nicht hier am Jachthafen, sondern nur wenige hundert Meter entfernt am Dock vor dem Naturschutzministerium. Die Schwimmlehrer hatten ihre Opfer direkt von der Kaimauer ins eiskalte Wasser springen lassen, wo sie sich gegenseitig herumschleppen und diverse Rettungsgriffe erlernen mussten. Delorme hatte an Maureen Stegg die Mund-zu-Mund-Beatmung üben müssen, und die Erinnerung daran drehte ihr immer noch den Magen um.
Von den Docks her mischten sich Gerüche nach Tauen und Teer und Benzin mit der frischen Luft. Die meisten Boote waren bereits für den Winter aufs Trockendock gebracht worden, aber ein paar Kajütboote lagen noch in der Nähe der Kaimauer vor Anker und schaukelten sanft auf dem tiefblauen Wasser. Delorme stockte kurz der Atem, als sie die kleine Cessna in der Sonne glänzen sah und die Registriernummer erkannte, die sie auf dem Foto mit dem Mädchen gesehen hatte.
»Kann ich Ihnen helfen?« Der Mann trug eine teure Sonnenbrille und eine Baseballmütze mit der Aufschrift Fredericks Marina. Offenbar ein ziemlich wetterfester Typ, denn er lief bei der Kälte immer noch in Shorts herum.
»Ich wollte mich erkundigen, was es kostet, hier bei Ihnen ein Boot zu parken.« Delorme hatte noch nie ein Boot besessen und kannte sich mit der Terminologie nicht aus. Wahrscheinlich hätte sie irgendwas mit »Liegeplatz pachten« sagen müssen.
»Kommt drauf an, was Sie brauchen«, sagte der Mann. Delorme sah, wie sein Blick kurz zu ihrer Hand wanderte, um festzustellen, ob sie einen Ehering trug.
»Was ich brauche?«
»Na ja, ob Sie zum Beispiel Strom und Licht brauchen und so weiter. Außerdem ist es natürlich eine Frage der Größe. Sind Sie aus dieser Gegend?«
Delorme drehte sich um und zeigte auf die Cessna. »Da hinten in der Nähe des Flugzeugs. Gleich am Ende der Kaimauer. Wie viel würde ein Anlegeplatz dort kosten?«
»Ich fürchte, da haben Sie keine Chance. Das sind die beliebtesten und teuersten Liegeplätze, und sie werden jedes Jahr von denselben Leuten gepachtet. Selbst wenn sie umziehen – nach Sudbury, nach Sundridge, egal, wohin – behalten sie diese Liegeplätze.«
»Und das Flugzeug? Das liegt also auch immer an derselben Stelle?«
»Aber sicher. Flugzeuge wechseln den Platz noch seltener als Boote. Der Typ hat sein Flugzeug an der Stelle stehen, seit ich den Platz hier übernommen hab, und das war vor zehn Jahren.«
»Wirklich? Können Sie mir vielleicht zeigen, was an diesen Liegeplätzen am Ende des Docks so besonders ist? Ich meine die Liegeplätze, die aussehen, als wären sie eingezäunt.«
Der Mann grinste, große weiße Zähne blitzten in seinem immer noch vom Sommer gebräunten Gesicht auf. Er glaubt, er hat mich an der Angel, dachte Delorme. Er sah gar nicht schlecht aus mit seinen blonden Locken und dem breiten Lächeln – und muskulös war er auch –, und er war es vermutlich gewohnt, dass Urlauberinnen ihm schöne Augen machten. Jedenfalls war er nicht der Kinderschänder – zu jung, falsche Haarfarbe und zu schlank.
Er öffnete ein Tor und führte Delorme die Kaimauer entlang.
»Was kostet so ein Boot?«, fragte Delorme. »Vierzigtausend?«
»Oh, da müssten Sie noch ein bisschen drauflegen. Das geht bei siebzig-, achtzigtausend los. Sehen Sie mal hier.« Er legte seine Hand auf einen blauen Kasten, der an einem Strommast befestigt war. »Das verschafft den Jachten hier Komfort, ganz wie zu Hause. Strom, Kabelfernsehen, Satellitenfernsehen, was Sie wollen.«
»Haben das nicht alle Liegeplätze?«
»Nein, nein. Nur diese beiden. Ein paar andere haben Strom, aber mehr nicht. Und diese hier sind, wie Sie sehen, noch extra abgesichert durch die Scheinwerfer da oben und die Überwachungskamera. Wer hier einbricht, wird auf jeden Fall geschnappt.«
»Heißt das, dass die anderen Liegeplätze frei zugänglich sind?«
Der Mann wirkte regelrecht gekränkt. »Alle unsere Liegeplätze sind sicher. Ich sage nur, dass wer mehr bezahlt auch mehr bekommt.«
»Und wie sieht es mit der Versicherung aus?«
»Für die Versicherung müssen Sie selber sorgen«, erklärte er ihr. »Natürlich sind wir gegen Brand und Diebstahl und so weiter versichert. Und wir haben eine Haftpflichtversicherung. Aber wenn Ihr Boot gestohlen oder beschädigt wird, kommt Ihre eigene Versicherung dafür auf, nicht unsere.«
»Verstehe. Ich bin Detective Delorme von der Kriminalpolizei in Algonquin Bay.« Sie zeigte ihm ihren Ausweis. Es war nicht zu übersehen, dass das Interesse des Mannes an ihr rapide abnahm. So war es immer. Manche Männer mochten ja vielleicht die Vorstellung von weiblichen Polizisten erotisch finden, aber nach Delormes Erfahrung konnten es nicht allzu viele sein, und es waren nie die richtigen.
»Jeff Quigly«, sagte er, während er ihr wenig begeistert die Hand schüttelte.
»Ich leite die Ermittlungen in Bezug auf einige Delikte, die in der Gegend verübt wurden, und ich brauche Ihre Unterstützung.«
»Sicher. Ich tue, was ich kann.«
Ich tue, was ich kann, um dich abzuwimmeln, meinte er sicherlich.
»Ich brauche die Namen der Personen, die diese Liegeplätze gepachtet haben.«
»Welche, diese beiden?«
»Ganz genau. Und nicht nur die Namen der derzeitigen Pächter, sondern die Namen sämtlicher Pächter aus den letzten zehn Jahren.«
»Selbst wenn ich wollte, ich glaube nicht, dass ich diese Informationen überhaupt habe.«
»Sie sagten doch eben, dass die Leute sich ungern von dieser Art Liegeplatz trennen.«
Der Mann hatte die Arme vor der Brust verschränkt und schaute auf den See hinaus.
»Hören Sie, ich glaube nicht, dass ich Ihnen Informationen über unsere Kunden geben kann. Das verstößt gegen unsere Gepflogenheiten. Die Leute haben ein Recht auf ihre Privatsphäre.«
»Sie betreiben einen Jachthafen, kein Krankenhaus. Sie unterliegen nicht der Schweigepflicht.«
»Nein, aber überlegen Sie mal. Angenommen, ich sage Ihnen, dass Soundso diesen Liegeplatz gepachtet hat. Und das Boot von Soundso ist gerade nicht da. Ein Dieb könnte daraus den Schluss ziehen, dass Soundso in Urlaub ist und irgendwo auf den Großen Seen rumschippert. Oder nach New York runtersegelt. Dann wird das Haus von Soundso ausgeraubt. Wie stehe ich dann da?«
»Dann wären Sie völlig unschuldig, Mr. Quigly. Ich bin keine Diebin, ich bin Polizistin, und ich untersuche ein Verbrechen.«
»Ja, hm, das ist auch so eine Sache. In was für einem Fall ermitteln Sie denn überhaupt? Sicher, die Leute trinken auf ihren Booten, sie kiffen, aber wieso sollten Sie ausgerechnet jetzt, wo die Saison vorbei ist, hinter so was her sein? Und wegen solchem Kleinkram würden Sie bestimmt nicht von mir verlangen, dass ich die Namen von meinen Kunden rausrücke.«
Delorme wollte ihm nicht sagen, um was es ging. Die Erwähnung von Kinderpornographie würde die Gerüchteküche zum Brodeln bringen. Und dieser Kinderschänder durfte nicht eher Wind davon bekommen, dass sie ihm auf die Schliche gekommen waren, bis sie ihm Handschellen anlegen konnte.
»Ich muss mich auf Ihre Diskretion verlassen können«, sagte sie. »Sie dürfen das niemandem gegenüber erwähnen.«
»Das ist doch selbstverständlich.«
»Es geht um Körperverletzung.«
»Wirklich?« Er schüttelte den Kopf. »Kann aber nichts allzu Schlimmes gewesen sein, sonst hätte ich garantiert davon gehört.«
»Im Moment kann ich Ihnen nicht mehr sagen. Werden Sie mir helfen? Ich könnte mir natürlich einen Durchsuchungsbefehl besorgen, aber das dauert mindestens einen Tag und würde bedeuten, dass ein Verbrecher noch länger frei herumläuft.«
Quigly führte sie in sein vollgestopftes Büro. An einer Wand hing eine Karte des Trout Lake, und an der anderen stand ein riesiges Modell der Bluenose. Überall waren Fotos von Angelszenen und vergrößerte Kopien von Cartoons mit Seglerwitzen angepinnt. Quigly kramte in einem Aktenschrank herum und zog schließlich einige Schnellhefter heraus.
»Die Pachtverträge der letzten zehn Jahre«, sagte er. »Aber die sind nicht nach irgendeinem Ordnungssystem abgelegt.«